Leo Trotzki

 

Mein Leben


Der Frieden

Während des ganzen Herbstes erschienen täglich Delegierte von der Front im Petrograder Sowjet und erklärten, falls der Frieden nicht bis zum 1. November geschlossen sein sollte, so würden die Soldaten nach dem Hinterland marschieren, um mit eigenen Mitteln den Frieden zu erlangen. Das wurde die Parole der Front. Die Soldaten verließen in Massen die Schützengräben. Die Oktoberrevolution hat diese Bewegung bis zu einem gewissen Grade aufgehalten, jedoch nicht für lange Zeit.

Die Soldaten, die durch die Februarumwälzung erfahren hatten, daß sie durch die Rasputin-Bande regiert und in den niederträchtigen und sinnlosen Krieg hineingebracht worden waren, sahen keinen Grund, diesen Krieg nur darum fortzusetzen, weil sie der junge Advokat Kerenski sehr darum bat. Sie wollten nach Hause – zur Familie, zum Boden, zur Revolution, die ihnen Land und Freiheit versprach, die sie aber weiterhin hungernd in den verlausten Gräben an der Front hielt. Der sich durch die Soldaten, Arbeiter und Bauern beleidigt fühlende Kerenski nannte diese deshalb „meuternde Sklaven“. Er hatte nur eine Kleinigkeit mißverstanden: eine Revolution besteht eben darin, daß die Sklaven meutern und keine Sklaven mehr sein wollen.

Der Beschützer und Inspirator Kerenskis, Buchanan, ist so unvorsichtig gewesen, uns in seinen Memoiren zu erzählen, was für ihn und für seinesgleichen der Krieg und die Revolution gewesen waren. Viele Monate nach dem Oktober beschreibt Buchanan in folgenden Worten das russische Jahr 1916, das schreckliche Jahr der Niederlagen der zaristischen Armee, der Zerrüttung der Wirtschaft, des Schlangestehens, des Huckepackspiels der Regierung unter Rasputins Kommando. „In einer der herrlichsten Villen, die wir besuchten“, berichtet Buchanan über seine Reise in die Krim im Jahre 1916, „wurden wir nicht nur mit Brot und Salz auf einer silbernen Platte empfangen, sondern wir fanden bei der Abreise in unseren Autos auch Dutzende von Flaschen alten Burgunders, dessen Vorzüglichkeit ich erst besang, nachdem ich ihn beim Frühstück gekostet hatte. Es ist außerordentlich traurig, auf die glücklichen [!] Tage zurückzublicken, die in die Ewigkeit versunken sind, und an jene Armut und an jene Leiden zu denken, die das Schicksal der Menschen wurden, die uns soviel Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft erwiesen haben.“

Buchanan meint nicht die Leiden der Soldaten in den Schützengräben, nicht der hungrigen Mütter, die Schlange stehen mußten, sondern die Leiden der ehemaligen Besitzer der herrlichen Villen in der Krim, er gedenkt der silbernen Platten und des Burgunders. Wenn man diese unverhüllt schamlosen Zeilen liest, darf man sich sagen: Nicht umsonst hat die Oktoberrevolution ihr Gericht gehalten! Nicht umsonst hat sie nicht nur die Romanows, sondern auch den Buchanan mitsamt dem Kerenski hinweggefegt.

Als ich das erste Mal, unterwegs nach Brest-Litowsk, die Front passierte, waren unsere Gesinnungsgenossen in den Schützengräben schon nicht mehr in der Lage, eine einigermaßen wirksame Protestkundgebung gegen die ungeheuerlichen Forderungen Deutschlands vorzubereiten: die Schützengräben waren fast leer. Nach den Experimenten der Buchanan und Kerenski wagte niemand, auch nur ein Wort für die Fortsetzung des Krieges auszusprechen. Frieden, Frieden um jeden Preis! ... Später, als ich wieder einmal aus Brest-Litowsk nach Moskau kam, versuchte ich einem der Frontvertreter im Allrussischen Zentralexekutivkomitee zuzureden, durch eine energische Rede unsere Delegation zu unterstützen. „Unmöglich“, antwortete er, „ganz unmöglich; wir könnten nicht mehr in die Schützengräben zurückkehren, man würde uns nicht verstehen; man würde sagen, wir setzten den Betrug fort wie Kerenski ...“

Die Unmöglichkeit, den Krieg weiterzuführen, war offensichtlich. In dieser Hinsicht bestand nicht der kleinste Schatten einer Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Lenin. Mit dem gleichen Kopfschütteln schauten wir auf Bucharin, Radek und die anderen Apostel des „revolutionären Krieges“.

Es gab aber noch eine Frage, eine ebenso wichtige: Wie weit kann die Regierung der Hohenzollern im Kampf gegen uns gehen? In einem Briefe an einen seiner Freunde schrieb Graf Czernin in jenen Tagen, daß man mit den Bolschewiki nicht Verhandlungen führen, sondern die Truppen nach Petersburg marschieren lassen müßte, um dort Ordnung zu schaffen, – wenn die Kraft ausreichen würde. An bösem Willen fehlte es sicher nicht. Aber wird die Kraft ausreichen? Wird der Hohenzoller imstande sein, seine Soldaten marschieren zu lassen gegen die Revolution, die den Frieden will? Welche Wirkung hat die Februar- und dann die Oktoberrevolution auf die deutsche Armee ausgeübt? Wie schnell kann diese Wirkung sich zeigen? Auf diese Fragen gab es noch keine Antwort. Man mußte versuchen, sie im Verlauf der Verhandlungen zu finden. Dazu war es nötig, diese so lange wie möglich hinauszuziehen. Man mußte den europäischen Arbeitern Zeit lassen, die Tatsache der Sowjetrevolution und besonders deren Friedenspolitik in richtiger Weise aufzunehmen. Das war um so wichtiger, als die Presse der Ententeländer gemeinsam mit der Presse der russischen Versöhnler und der Bourgeoisie die Friedensverhandlungen von vornherein als eine Komödie mit geschickt verteilten Rollen hinstellte. Sogar unter der damaligen sozialdemokratischen Opposition in Deutschland, die nicht abgeneigt war, ihre Gebrechen auf uns zu übertragen, war die Rede davon, daß die Bolschewiki sich im Einverständnis mit der deutschen Regierung befänden. Um so glaubwürdiger mußte solche Version in England und Frankreich erscheinen. Es war klar: würde es der Bourgeoisie und der Sozialdemokratie der Entente gelingen, in den Arbeitermassen Mißtrauen gegen uns zu säen, so könnte das in der Folge die militärische Intervention der Entente gegen uns erleichtern. Ich hielt es deshalb für unbedingt notwendig, vor der Unterzeichnung des Separatfriedens, wenn dies sich für uns als absolut unvermeidlich erweisen sollte, den Arbeitern Europas einen grellen und eindeutigen Beweis der Todfeindschaft zwischen uns und dem regierenden Deutschland zu geben. Eben unter dem Einfluß dieser Erwägungen kam ich in Brest-Litowsk auf den Gedanken einer politischen Demonstration, die sich in der Formel äußerte: wir beenden den Krieg, demobilisieren die Armee, aber wir unterschreiben keinen Friedensvertrag. Falls der Deutsche Imperialismus nicht in der Lage sein sollte, Truppen gegen uns zu schicken – erwog ich –, so würde das einen gewaltigen Sieg von unabsehbaren Folgen für uns bedeuten. Sollte es sich aber ergeben, daß es dem Hohenzollern möglich sei, einen Schlag gegen uns zu führen, so würden wir noch immer früh genug Zeit finden zu kapitulieren. Ich beriet mich mit den anderen Mitgliedern der Delegation, darunter auch mit Kamenjew, fand bei ihnen Zustimmung und schrieb in diesem Sinne an Lenin. Er antwortete: „Wenn Sie nach Moskau kommen, werden wir darüber sprechen.“

„Das wäre gut, wie es besser nicht zu sein brauchte“, antwortete Lenin auf meine Argumente, „wenn der General Hoffmann nicht in der Lage wäre, seine Truppen gegen uns marschieren zu lassen. Aber darauf ist wenig Hoffnung. Er wird besonders ausgewählte Regimenter aus bayerischen Bauernjungen finden. Braucht man denn viel gegen uns? Sie sagen doch selbst, daß die Schützengräben leer sind. Wenn aber die Deutschen den Krieg wiederaufnehmen?“

„Dann werden wir gezwungen sein, den Frieden zu unterschreiben. Dann aber wird es allen klar sein, daß wir keinen anderen Ausweg hatten. Schon damit allein werden wir der Legende von unserer heimlichen Verbindung mit dem Hohenzollern einen vernichtenden Schlag versetzen.“

„Gewiß, das hat etwas für sich. Aber es ist zu riskant. Wenn wir für den Sieg der deutschen Revolution umkommen müßten, wir wären verpflichtet, es zu tun. Die deutsche Revolution ist unermeßlich wichtiger als die unsrige. Aber wann wird sie kommen? Unbekannt Augenblicklich gibt es deshalb auf der Welt nichts Wichtigeres als unsere Revolution. Sie muß man sichern um jeden Preis.“

Zu den außenpolitischen Schwierigkeiten in der Frage gesellten sich noch größere Schwierigkeiten innerparteilicher Art. In der Partei, insbesondere unter ihren führenden Kreisen, herrschte unversöhnliche Stimmung gegen die Unterzeichnung der Brester Bedingungen. Die in unseren Zeitungen veröffentlichten stenographischen Berichte über die Brester Verhandlungen nährten und verschärften die Stimmung. Den krassesten Ausdruck fand sie in der Gruppierung des linken Kommunismus, die die Parole des revolutionären Krieges aufstellte.

Der Kampf in der Partei entbrannte von Tag zu Tag heftiger. Entgegen dem später entstandenen Märchen ging er nicht zwischen mir und Lenin, sondern zwischen Lenin und einer erdrückenden Mehrheit, den führenden Parteiorganisationen. In den wichtigsten Fragen dieses Kampfes: Sind wir in der Lage, einen revolutionären Krieg zu führen? und ist es für eine revolutionäre Macht überhaupt zulässig, Abkommen mit Imperialisten zu treffen? – stand ich voll und ganz auf der Seite Lenins und beantwortete zusammen mit ihm die erste Frage verneinend, die zweite bejahend.

Die erste gründlichere Beratung über die Meinungsverschiedenheiten fand am 21. Januar in der Versammlung der aktiven Parteiarbeiter statt. Es traten drei Gesichtspunkte zutage. Lenin war dafür, daß man versuchen solle, die Verhandlungen hinauszuziehen, im Falle eines Ultimatums aber unverzüglich kapituliere. Ich betrachtete es als notwendig, die Verhandlungen bis zu einem Bruch zu bringen, selbst auf die Gefahr eines neuen Angriffs von seiten Deutschlands, um – falls es überhaupt dazu käme – erst angesichts einer offenen Gewaltanwendung zu kapitulieren. Bucharin forderte den Krieg zur Erweiterung der Revolutionsarena. Lenin führte in der Versammlung vom 21. Januar einen außerordentlich heftigen Kampf gegen die Anhänger des revolutionären Krieges und beschränkte sich meinem Vorschlag gegenüber auf einige Worte der Kritik. 32 Stimmen erhielten die Anhänger des revolutionären Krieges, Lenin sammelte 15 Stimmen, ich 16. Dieses Ergebnis der Abstimmung charakterisiert die in der Partei damals vorherrschend gewesene Stimmung noch nicht grell genug. Wenn nicht in den Massen, so war in den oberen Schichten der Partei der „linke Flügel“ noch stärker als in dieser Versammlung. Das eben hat auch den zeitweiligen Sieg meiner Formel ergeben. Die Anhänger Bucharins sahen darin einen Schritt in ihre Richtung. Dagegen rechnete Lenin ganz mit Recht damit, daß die Vertagung des endgültigen Beschlusses den Sieg seines Standpunktes sichern würde. Unsere eigene Partei bedurfte in jener Periode der Klarstellung der wirklichen Lage nicht weniger als die Arbeiter Westeuropas. In allen führenden Institutionen der Partei und des Staates war Lenin in der Minderheit. Auf den Vorschlag des Sowjets der Volkskommissare, die Lokalsowjets möchten ihre Meinung über Krieg und Frieden äußern, antworteten bis zum 5. März mehr als zweihundert Sowjets. Von ihnen waren nur zwei große Sowjets (der Petrograder und der Sewastopoler) – mit Vorbehalten – für den Frieden. Während eine Reihe großer Arbeiterzentren: Moskau, Jekaterinburg, Charkow, Jekaterinoslaw, Iwanowo-Wosnessensk, Kronstadt und so weiter sich mit erdrückender Mehrheit für den Abbruch der Friedensverhandlungen erklärte. Dies war auch die Stimmung unserer Parteiorganisation. Von den linken Sozialrevolutionären nicht zu reden. Den Standpunkt Lenins in jener Periode durchzuführen wäre nur möglich gewesen mit Hilfe einer Parteispaltung und einer Staatsumwälzung, nicht anders. Inzwischen aber mußte jeder weitere Tag die Zahl der Anhänger Lenins vergrößern., Unter diesen Bedingungen war meine Formel, „weder Krieg noch Frieden“, objektiv eine Brücke zu Lenins Position. Über diese Brücke ist die Mehrzahl der Partei gegangen, mindestens deren führende Elemente.

„Nun gut, nehmen wir an, wir haben uns geweigert, den Frieden zu unterschreiben, und die Deutschen gehen zum Angriff über. Was tun Sie nun?“ verhörte mich Lenin.

„Wir unterschreiben den Frieden unter den Bajonetten. Das Bild wird der ganzen Welt klar sein. „

„Und sie werden dann nicht die Parole des revolutionären Krieges unterstützen?“

„Unter keinen Umständen.“

„Bei dieser Sachlage kann das Experiment nicht gar so gefährlich werden. Wir riskieren, Estland oder Lettland zu verlieren.“ Und Lenin fügte, listig lächelnd, hinzu: „Schon allein eines guten Friedens mit Trotzki wegen lohnt es sich, Lettland und Estland zu verlieren.“ Dieser Satz war einige Tage lang Lenins Refrain.

In der entscheidenden Sitzung des Zentralkomitees vom 22. Januar ging mein Antrag durch: die Verhandlungen hinauszuziehen; im Falle eines deutschen Ultimatums den Krieg als beendet erklären, aber keinen Frieden unterschreiben; weiterhin dann den Umständen entsprechend handeln. Am 25. Januar, spät abends, fand eine gemeinsame Sitzung des Zentralkomitees der Bolschewiki und unserer damaligen Verbündeten, der linken Sozialrevolutionäre, statt, in der mit erdrückender Mehrheit dieselbe Formel Annahme fand. Dieser Beschluß der beiden Zentralkomitees wurde – wie es damals nicht selten geschah – in der Form angenommen, daß er als ein Beschluß des Sowjets der Volkskommissare zu gelten hatte.

Am 31. Januar teilte ich aus Brest über die direkte Leitung Lenin nach dem Smolny mit:

„Unter zahllosen Gerüchten und Mitteilungen drang in die deutsche Presse die unsinnige Nachricht, wir beabsichtigten, den Friedensvertrag demonstrativ nicht zu unterschreiben, es seien deshalb angeblich unter den Bolschewiki Meinungsverschiedenheiten entstanden, und so weiter, und so weiter. Ich habe dabei ein derartiges Telegramm aus Stockholm mit Berufung auf Politiken im Auge. Wenn ich nicht irre, ist Politiken das Organ Höglunds. Wäre es nicht möglich, bei ihm zu erfahren, weshalb seine Redaktion solchen ungeheuerlichen Unsinn druckt, falls eine solche Nachricht tatsächlich in seiner Zeitung veröffentlicht war? Was sonst die bürgerliche Presse an Klatschgeschichten bringt, wird den Deutschen wohl kaum bedeutungsvoll erscheinen. Aber hier handelt es sich um eine Zeitung des linken Flügels, deren Redakteur sich jetzt in Petrograd aufhält. Das verleiht der Nachricht eine gewisse Autorität, kann also die Gehirne unserer Kontrahenten verwirren. Die deutsch-österreichische:Presse ist voll von Berichten über Greuel in Petrograd, Moskau und in ganz Rußland, über Hunderte und Tausende Ermordeter, übet das Knattern von Maschinengewehren, und so weiter, und so weiter. Es ist unbedingt nötig, einen Mann mit einem Kopf auf den Schultern zu beauftragen, täglich an die Petrograder Agentur und das Radio Nachrichten über die Lage im Lande zu geben. Es wäre gut, wenn diese Arbeit Genosse Sinowjew übernehmen würde. Das ist von größter Bedeutung. Derartige Berichte müßte man in erster Linie Worowski und Litwinow zugehen lassen. Das kann durch Tschitscherin gemacht werden.

Wir hatten nur eine rein formale Sitzung. Die Deutschen verschleppen die Verhandlungen aufs äußerste, wahrscheinlich angesichts der inneren Krise. Die deutsche Presse posaunt, wir wünschten den Frieden überhaupt nicht und seien nur bemüht, die Revolution auf die anderen Länder zu übertragen. Diese Esel können es nicht begreifen, daß gerade der Weiterentwicklung der europäischen Revolution wegen ein schneller Frieden für uns von größter Bedeutung ist.

Sind Maßnahmen zur Ausweisung der Rumänischen Gesandtschaft getroffen worden? Ich vermute, daß sich der rumänische König in Österreich aufhält. Nach den Mitteilungen einer deutschen Zeitung wird bei uns in Moskau nicht der Nationalfonds Rumäniens aufbewahrt, sondern der Goldfonds der rumänischen Nationalbank. Die Sympathien des offiziellen Deutschland sind natürlicherweise auf seiten Rumäniens. Ihr Trotzki.“

Diese Mitteilung bedarf einer Erklärung. Die Gespräche über die Huges-Leitung galten offiziell als gegen Abhören und Auffangen gesichert. Wir hatten jedoch alle Veranlassung, anzunehmen, daß die Deutschen in Brest unsere Korrespondenz über die direkte Leitung lasen: wir hatten genügend Respekt vor ihrer Technik. Die gesamte Korrespondenz zu chiffrieren war unmöglich. Wir konnten uns übrigens auch auf die Chiffrierung nicht verlassen. Die Zeitung von Höglund, Politiken, hatte uns aber durch ihre deplacierte Information aus erster Quelle einen schlechten Dienst erwiesen. Und deshalb war die ganze Notiz nicht so sehr mit der Absicht geschrieben, Lenin zu benachrichtigen, daß das Geheimnis unseres Beschlusses bereits im Auslande ausgeplaudert worden war, als vielmehr, um die Deutschen irrezuführen. Das höchst unhöfliche Wort „Esel“ in bezug auf die Zeitungsschreiber wurde gebraucht, um dem Text mehr „Natürlichkeit“ zu verleihen. Inwieweit die List Kühlmann getäuscht hat, kann ich nicht sagen. Jedenfalls machte meine Erklärung vom 10. Februar auf den Gegner den Eindruck von etwas Unerwartetem. Am 11. Februar trägt Czernin in sein Tagebuch ein: „Trotzki lehnt es ab, zu unterschreiben. Der Krieg ist aus, aber Friede ist keiner.“

Es ist beinah unglaublich, daß die Schule Stalin-Sinowjew im Jahre 1924 den Versuch gemacht hat, die Sache so darzustellen, als hätte ich in Brest dem Beschlusse der Partei und der Regierung zuwidergehandelt. Die armseligen Fälscher geben sich nicht einmal die Mühe, wenigstens in die alten Protokolle hineinzusehen oder ihre eigenen Erklärungen nachzulesen. Sinowjew, der am 11. Februar, das heißt einen Tag nach der Veröffentlichung meiner Deklaration in Brest, im Petrograder Sowjet auftrat, erklärte dort: „Der Ausweg aus der entstandenen Lage, der von unserer Delegation gefunden wurde, ist der einzig richtige.“ Sinowjew war es auch, der die von der Mehrheit gegen eine Stimme bei Stimmenthaltung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre angenommene Resolution einbrachte, in der die Ablehnung der Unterzeichnung des Friedensvertrages gebilligt wird.

Am 14. Februar brachte Swerdlow im Allrussischen Zentralexekutivkomitee auf Grund meines Berichtes im Namen der Fraktion der Bolschewiki eine Resolution ein, die mit den Worten begann:

„Nach Anhören und Beraten des Berichtes der Friedensdelegation billigt das Allrussische Zentralexekutivkomitee das Verhalten seiner Vertreter in Brest vollständig.“ Es gab keine lokale Partei- oder Sowjetorganisation, die sich in der Zeit zwischen dem 11. und dem 15. Februar nicht zustimmend geäußert hätte zum Verhalten der Sowjetdelegation. Auf dem Parteikongreß im März 1918 erklärte Sinowjew: „Trotzki hat recht, wenn er sagt, er habe nach den Bestimmungen der rechtmäßigen Mehrheit des Zentralkomitees gehandelt. Niemand hat das bestritten...“ Schließlich hat auch Lenin auf demselben Kongreß mitgeteilt, wie „im Zentralkomitee... der Vorschlag, den Frieden nicht zu unterschreiben, angenommen wurde“. Das alles hindert die Komintern nicht, das neue Dogma aufzustellen, wonach die Ablehnung der Friedensunterzeichnung in Brest Trotzkis persönliche Sache gewesen sei.

Nach den Oktoberstreiks in Deutschland und Österreich war die Frage, ob die deutsche Regierung sich zu einem Angriff entschließen würde oder nicht, gar nicht so einfach zu beantworten – weder für uns noch für die deutsche Regierung selbst –, wie es heute die Hinterherklugen darstellen. Am 10. Februar beschlossen die deutsche und die österreichisch-ungarische Delegation in Brest, den „von Trotzki durch seine Erklärungen vorgeschlagenen Zustand zu akzeptieren“. Nur der General Hoffmann trat dagegen auf. Nach den Worten Czernins hatte Kühlmann am nächsten Tage bei der Schlußsitzung in Brest-Litowsk mit aller Bestimmtheit erklärt, es sei notwendig, den Frieden de facto anzunehmen. Ein Widerhall dieser Stimmungen erreichte bald auch uns. Aus Brest kehrte unsere gesamte Delegation nach Moskau zurück unter dem Eindruck, daß die Deutschen keinen Angriff unternehmen würden. Lenin war mit dem erreichten Resultat sehr zufrieden.

„Werden sie uns auch nicht betrügen?“ fragte er immerhin.

Wir zuckten nur mit den Achseln: Es sieht nicht danach aus.

„Na also“, sagte Lenin. „Wenn es so ist, um so besser. der Schein ist gewahrt, und wir sind aus dem Kriege heraus.“

Jedoch zwei Tage vor Ablauf der einwöchigen Frist erhielten wir von dem in Brest zurückgebliebenen General Samojlo die telegraphische Mitteilung, daß die Deutschen sich, nach einer Erklärung des Generals Hoffmann, von 12 Uhr des 18. Februar ab als mit uns im Kriegszustande befindlich betrachteten und ihm deshalb vorgeschlagen hätten, sich aus Brest-Litowsk zu entfernen. Das Telegramm nahm Lenin als erster in die Hand. Ich war in seinem Arbeitszimmer, wo ein Gespräch mit den linken Sozialrevolutionären stattfand. Lenin übergab mir schweigend das Telegramm. Sein Blick ließ sofort etwas Böses ahnen. Lenin beeilte sich, das Gespräch mit den Sozialrevolutionären zu beenden, um die neu entstandene Lage ohne sie zu beraten.

„Also doch betrogen. Fünf Tage gewonnen ... Diese Bestie läßt nichts unausgenutzt. Jetzt bleibt also nichts weiter übrig, als die alten Bedingungen zu unterschreiben, wenn nur die Deutschen damit einverstanden sein werden, sie beizubehalten.“

Ich bestand wie früher darauf, daß man es Hoffmann überlassen müsse, faktisch zum Angriff überzugehen, damit die Arbeiter Deutschlands und auch der Ententeländer von diesem Angriff als von einer Tatsache und nicht einer bloßen Drohung erführen.

„Nein“, erwiderte Lenin. „Jetzt darf man keine einzige Stunde verlieren. Der Versuch ist gemacht worden. Hoffmann will und kann Krieg führen. Aufschub ist nicht möglich. Diese Bestie springt schnell.“

Im März sprach Lenin auf dem Parteitag: „Zwischen uns (das heißt zwischen ihm und mir) war vereinbart, daß wir bis zu einem Ultimatum der Deutschen standhalten wollten, nach diesem Ultimatum geben wir nach.“ Oben habe ich von dieser Vereinbarung berichtet. Lenin hatte nur deshalb eingewilligt, nicht öffentlich vor der Partei gegen meine Formel aufzutreten, weil ich ihm versprach, die Anhänger des revolutionären Krieges nicht zu unterstützen. Die offiziellen Vertreter dieser Gruppe, Uritzki, Radek und, ich glaube, Ossinski, kamen zu mir mit dem Vorschlag der „Einheitsfront“. Ich ließ ihnen keinen Zweifel darüber, daß unsere Positionen nichts Gemeinsames hätten. Nachdem das deutsche Oberkommando uns von dem Abbruch des Waffenstillstandes Mitteilung gemacht hatte, erinnerte mich Lenin an unser Abkommen. Ich antwortete ihm, daß es sich für mich nicht nur um ein formales Ultimatum gehandelt hätte, sondern um einen tatsächlichen Angriff der Deutschen, der keinen Zweifel über unsere wirklichen Beziehungen zu den Deutschen übriglasse. In der Sitzung des Zentalkomitees vom 17. Februär stellte Lenin zur vorläufigen Abstimmung die Frage: „Wenn der deutsche Angriff für uns zur Tatsache werden wird und kein revolutionärer Aufstand in Deutschland erfolgt, schließen wir dann Frieden?“ Auf diese grundlegende Frage antworteten Bucharin und dessen Gesinnungsgenossen mit Stimmenthaltung. Krestinski ging mit ihnen. Joffe stimmte mit nein. Zusammen mit Lenin stimmte ich bejahend. Am nächsten Morgen lehnte ich das sofortige Absenden des von Lenin vorgeschlagenen Telegramms über unsere Bereitschaft, den Frieden zu unterzeichnen, ab. Im Laufe des Tages ging jedoch ein telegraphischer Bericht ein, daß die Deutschen zum Angriff übergegangen seien, sich unseres Militärgutes bemächtigt hätten und daß ihre Truppen gegen Dwinsk vorrückten. Am Abend stimmte ich für das Telegramm Lenins: Jetzt konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß die Tatsache des deutschen Angriffs der ganzen Welt bekannt werden würde.

Am 21. Februar kamen neue deutsche Bedingungen, die offenbar absichtlich darauf berechnet waren, den Abschluß des Friedens unmöglich zu machen. Im Augenblick der Ankunft unserer Delegation in Brest waren, wie erinnerlich, diese Bedingungen noch verschlechtert worden. Wir alle, bis zu einem gewissen Grade auch Lenin, hatten den Eindruck, daß die Deutschen sich mit der Entente bereits über die Niederschlagung der Sowjets verständigt hätten und daß sich auf den Knochen der russischen Revolution der Friede an der Westfront vorbereite. Würde es sich wirklich so verhalten haben, dann hätte kein Entgegenkommen unsererseits etwas geholfen. Der Verlauf der Ereignisse in der Ukraine und in Finnland neigte die Waage stark nach der Seite des Krieges. Jede Stunde brachte etwas Schlimmes. Es kam die Nachricht von der Landung der deutschen Truppen in Finnland und von dem Beginn der Niedermetzlung der finnischen Arbeiter. Ich traf Lenin im Korridor, in der Nähe seines Arbeitszimmers. Er war außerordentlich erregt. Ich habe ihn sonst nie so gesehen, weder vorher noch nachher.

„Ja“, sagte er, „wir werden uns schlagen müssen, wenn wir auch über nichts verfügen. Einen anderen Ausweg scheint es nicht mehr zu geben.“

Aber nach zehn bis fünfzehn Minuten, als ich in sein Arbeitszimmer kam, sagte er:

„Nein, man darf die Politik nicht ändern. Unser Kampf würde das revolutionäre Finnland nicht retten, aber er würde uns ganz sicher zugrunde richten, Mit allen unseren Kräften wollen wir den finnischen Arbeitern helfen, aber ohne den Boden des Friedens zu verlassen. Ich weiß nicht, ob das uns jetzt retten wird. Jedenfalls ist es der einzige Weg, auf dem eine Rettung noch denkbar ist.“

Ich verhielt mich sehr skeptisch zu der Möglichkeit, einen Frieden zu erreichen, selbst um den Preis der völligen Kapitulation. Aber Lenin war entschlossen, zu versuchen, den Weg der Kapitulation bis zu Ende zu gehen. Und da er im Zentralkomitee keine Mehrheit besaß und von meiner Stimme der Beschluß abhing, so enthielt ich mich der Abstimmung, um Lenin die Mehrheit einer Stimme zu sichern. So habe ich auch meine Stimmenthaltung begründet. Sollte die Kapitulation keinen Frieden bringen, überlegte ich, so werden wir bei der uns vom Feinde aufgezwungenen bewaffneten Verteidigung der Revolution die Front der Partei ausgleichen.

„Mir scheint“, sagte ich in einem Privatgespräch zu Lenin, „daß es politisch zweckmäßig wäre, wenn ich jetzt als Volkskommissar des Äußeren zurückträte.“

„Wozu? Ich hoffe, diese parlamentarischen Tricks werden wir nicht einführen.“

„Aber mein Rücktritt würde für die Deutschen eine radikale Änderung der Politik bedeuten und ihr Vertrauen zu unserer Bereitwilligkeit, diesmal den Friedensvertrag wirklich zu unterschreiben, stärken.“

„Vielleicht ...“, sagte Lenin nachdenklich. „Das ist ein ernstes politisches Argument.“

Am 22. Februar berichtete ich in der Sitzung des Zentralkomitees, daß die französische Militärmission sich mit dem Anerbieten Frankreichs und Englands an mich gewandt habe, uns im Kriege gegen Deutschland Hilfe zu leisten. Ich sprach mich für die Annahme des Anerbietens aus, selbstverständlich unter der Bedingung der völligen Unabhängigkeit unserer äußeren Politik. Bucharin erklärte, daß es unzulässig wäre, irgendein Abkommen mit den Imperialisten zu treffen. Lenin unterstützte mich mit aller Entschiedenheit, und das Zentralkomitee nahm meinen Antrag mit sechs gegen fünf Stimmen an. Ich erinnere mich, daß Lenin den Beschluß mit folgenden Worten diktierte: „... bevollmächtigen den Genossen Trötzki, die Hilfe der französischen imperialistischen Räuber gegen die deutschen Räuber anzunehmen.“ Er bevorzugte stets Formulierungen, die keinem Zweifel Raum ließen.

Beim Auseinandergehen aus der Sitzung holte mich Bucharin im langen Korridor des Smolny ein, umfaßte mich mit beiden Armen und begann zu heulen. „Was machen wir?“ sagte er. „Wir verwandeln die Partei in einen Misthaufen.“ Bucharin bricht überhaupt leicht in Tränen aus und liebt naturalistische Ausdrücke. Aber diesmal wurde die Lage wirklich tragisch. Die Revolution war zwischen Hammer und Amboß.

Am 5. März unterschrieb unsere Delegation den Friedensvertrag ungelesen. Viele Gedanken Clemenceaus vorwegnehmend, ähnelte der Brester Frieden der Schlinge des Henkers. Am 22. März wurde der Friede vom deutschen Reichstag angenommen. Die deutschen Sozialdemokraten haben damit im voraus den späteren Prinzipien von Versailles zugestimmt. Die Unabhängigen stimmten dagegen: sie hatten erst begonnen, jene unfruchtbare Kurve zu beschreiben, die sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückgeführt hat.

Ich habe auf dem siebenten Parteikongreß (März 1918), rückblickend auf den durchschrittenen Weg, meine Position klar und umfassend geschildert „Wenn wir wirklich nur einen möglichst günstigen Frieden haben wollten“, sagte ich, „hätten wir auf ihn schon im November eingehen müssen. Aber niemand (außer Sinowjew) hat dafür die Stimme erhoben: wir waren alle für die Revolutionierung der deutschen, österreichisch-ungarischen und der gesamten europäischen Arbeiterklasse. Aber alle unsere vorangegangenen Verhandlungen mit den Deutschen hatten nur dann einen revolutionierenden Sinn, wenn sie für bare Münze genommen wurden. Ich habe schon vor der Fraktion des dritten Allrussischen Sowjetkongresses darüber berichtet, wie der frühere österreichisch-ungarische Minister Gratz sagte, die Deutschen suchten nur einen Vorwand, um uns ein Ultimatum zu stellen. Sie glaubten, daß wir selbst auf ein Ultimatum warteten... daß wir von vornherein bereit seien, alles zu unterschreiben, und nur eine revolutionäre Komödie aufführten. Unter diesen Umständen drohte uns im Falle der Nichtunterzeichnung der Verlust von Reval und anderer Orte, im Falle einer vorzeitigen Unterzeichnung der Verlust der Sympathien des Weltproletariats oder doch seines großen Teiles. Ich war einer von jenen, die geglaubt haben, die Deutschen würden nicht zum Angriff übergehen, aber wenn sie uns doch angreifen sollten, so würden wir immer noch Zeit haben, den Frieden zu unterzeichnen, wenn auch unter schlechteren Bedingungen. Allmählich“, sagte ich noch, „werden sich alle davon überzeugen, daß wir keinen anderen Ausweg hatten.“

Es ist bemerkenswert, daß zur gleichen Zeit Liebknecht aus dem Gefängnis schrieb: „Weit entfernt, daß der jetzige Ausgang für die Weiterentwicklung. schlimmer sei als ein Einlenken – Brest Anfang Februar gewesen wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Ein solches Einlenken hätte das frühere Widerstreben und Sträuben in das böseste Licht gesetzt, die schließliche Nötigung als „vis haud ingrata“ erscheinen lassen. Der himmelschreiende Zynismus, die Bestialität des deutschen Schlußauftritts drängt alle Verdächtigungen zurück.“

Liebknecht war während des Krieges außerordentlich gewachsen, als er endgültig gelernt hatte, zwischen sich und der ehrlichen Charakterlosigkeit Haases eine Kluft zu schaffen. Es ist unnötig zu sagen, daß Liebknecht schon früher ein Revolutionär von unerschrockenem Mut gewesen ist. Nun begann er, den Strategen in sich zu entwickeln. Das zeigte sich in Fragen seines persönlichen Schicksals wie auch seiner revolutionären Politik. Rücksichten auf seine persönliche Sicherheit waren ihm völlig fremd: Nach seiner Verhaftung schüttelten viele seiner Freunde den Kopf über die selbstaufopfernde „Unbesonnenheit“. Lenin dagegen war stets im höchsten Maße um die Sicherheit der Führung besörgt. Er war der Chef des Generalstabes und dachte immer daran, daß er für die Kriegszeit das Hauptkommando geschützt halten müsse. Liebknecht war einer von jenen Kriegsführern, die ihre Abteilungen selbst in die Schlacht führen. Darum besonders war ihm unsere Brest-Litowsker Strategie so schwer verständlich, Er wollte anfangs, daß wir das Schicksal einfach herausfordern und uns ihm entgegenstellen sollten. Er hat in jener Periode wiederholt die „Politik Lenin-Trotzki“ verurteilt, ohne dabei – und mit Recht einen Unterschied in dieser grundlegenden Frage zwischen der Linie Lenins und der meinen zu machen. Im weiteren Verlauf der Ereignisse hatte Liebknecht allerdings begonnen, die Brester Politik anders einzuschätzen. Anfang Mai schrieb er bereits: „Eines ist den russischen Sowjets not – vor allem, allem andern –, nicht Demonstrationen und Dekorationen, sondern derbe, handfeste Macht. Wozu allerdings außer Energie auch Klugheit und Zeit gehört – Klugheit auch, um Zeit zu gewinnen, deren selbst die höchste und klügste Energie zum Erfolge bedarf.“ Das bedeutet die volle Anerkennung der Richtigkeit der Brester Politik Lenins, die ganz darauf gerichtet war, Zeit zu gewinnen.

Die Wahrheit bahnt sich Wege. Aber auch der Unsinn hat zähes Leben. Der amerikanische Professor Fisher schreibt in einem großen Buche The Famine in Soviet Russia, das den ersten Jahren Sowjetrußlands gewidmet ist, mir den Gedanken zu, daß die Sowjets niemals einen Krieg führen und niemals einen Frieden mit bürgerlichen Regierungen schließen würden. Diese unsinnige Formel hat Fisher, wie auch viele andere, bei Sinowjew und anderen Epigonen abgeschrieben und seine eigene Ahnungslosigkeit hinzugefügt. Meine verspäteten Kritiker haben meinen Brester Vorschlag längst aus den Bedingungen der Zeit und des Raumes herausgerissen und in eine Universalformel verwandelt, um ihn leichter ad absurdum führen zu können. Sie haben jedoch dabei nicht bemerkt, daß der Zustand „weder Frieden noch Krieg“, oder richtiger: weder Friedensvertrag noch Krieg, an sich gar nichts Widernatürliches enthält. Bei uns existieren gerade jetzt mit den größten Ländern der Welt solche Beziehungen: mit den Vereinigten Staaten und mit England. Sie haben sich zwar gegen unseren Willen eingestellt, das ändert aber an der Sache nichts. Es gibt dazu noch ein Land, mit dem aus unserer eigenen Initiative heraus solche Beziehungen „weder Frieden noch Krieg“ bestehen: das ist Rumänien. Indem sie mir diese Universalformel, die ihnen als reinster Blödsinn erscheint, zuschreiben, merken meine Kritiker gar nicht, daß sie nur die „absurde“ Formel der tatsächlichen Beziehungen der Sowjetunion zu einer Reihe von Staaten reproduzieren.

Wie hat Lenin selbst die Brester Etappe, als sie zurückgelegt war, beurteilt? Lenin hielt die rein episodischen Meinungsverschiedenheiten mit mir überhaupt nicht für erwähnenswert. Dagegen aber sprach er mehr als einmal von „der gewaltigen propagandistischen Bedeutung der Brester Verhandlungen“ (siehe z.B. Rede vom 17. Mai 1918). Ein Jahr nach Brest sagte Lenin auf dem Parteitag: „Durch die große Isolierung von Westeuropa und allen anderen Ländern fehlte uns jedes objektive Material zur Beurteilung des möglichen Tempos oder der Formen der anwachsenden proletarischen Revolution im Westen. Aus dieser komplizierten Lage ergab es sich, daß die Frage über den Brester Frieden nicht wenige Meinungsverschiedenheiten in unserer Partei hervorrief.“ (Rede vom 18. März 1919)

Es bleibt noch die Frage, wie haben sich in jenen Tagen meine späteren Kritiker und Entlarver benommen? Bucharin hat fast ein Jahr lang einen verzweifelten Kampf gegen Lenin (und mich) geführt und mit der Spaltung der Partei gedroht. Mit ihm gingen Kujbyschew, Jaroslawski, Bubnow und viele andere heutige Säulen des Stalinismus Sinowjew dagegen hatte die sofortige Unterzeichnung des Friedensvertrages gefordert und die Agitationstribüne von Brest verworfen. Ich war mit Lenin einmütig in der Verurteilung dieser Position. Kamenjew war in Brest mit meiner Formel einverstanden und schloß sich, als er nach Moskau kam, Lenin an. Rykow war damals nicht Mitglied der Zentralkomitees und nahm darum an den entscheidenden Beratungen nicht teil. Dserschinski war gegen Lenin, schloß sich ihm aber bei der letzten Abstimmung an. Wie war die Position Stalins? Er hatte, wie immer, keine Position. Er wartete ab und kombinierte. „Der Alte hofft noch immer auf Frieden“, nickte er in die Richtung Lenins mir zu „er wird keinen bekommen.“ Dann ging er zu Lenin und machte dort wohl ähnliche Bemerkungen gegen mich. Stalin trat nirgendwo auf. Niemand hat sich für seine abweichenden Meinungen besonders interessiert. Zweifellos war meine Hauptsorge: unser Verhalten in der Frage des Friedens dem Weltproletariat möglichst verständlich zu machen – für Stalin eine untergeordnete Sache. Er hatte sich für den „Frieden in einem Lande“ interessiert, wie später für „den Sozialismus in einem Lande“. Bei der entscheidenden Abstimmung schloß er sich Lenin an. Erst einige Jahre später hat er, im Interesse des Kampfes gegen den Trotzkismus, sich so etwas wie einen „Standpunkt“ zu den Brester Ereignissen zugelegt.

Es verlohnt sich kaum, noch länger dabei zu verweilen. Ich habe ohnehin den Brester Meinungsverschiedenheiten unverhältnismäßig viel Raum gewidmet. Aber es schien mir nötig, mindestens eine der strittigen Episoden in ihrem ganzen Umfang aufzudecken, um zu zeigen, wie es in der Wirklichkeit war und wie man es später darzustellen versuchte. Eine meiner Nebenaufgaben dabei war, die Epigonen auf ihren Platz zu stellen. Was Lenin betrifft, so wird kein einziger ernster Mensch den Verdacht haben, daß ich mich ihm gegenüber von dem Gefühl hätte leiten lassen, das man deutsch Rechthaberei nennt. Die Rolle Lenins in den Brester Tagen habe ich weithin vernehmbar viel früher als die anderen eingeschätzt. Am 3. Oktober 1918 sagte ich auf der außerordentlichen Tagung der obersten Organe der Sowjetmacht: „Ich betrachte es in dieser autoritativen Sitzung als eine Pflicht, zu erklären, daß in jener Stunde, als viele von uns, darunter auch ich, daran zweifelten, ob es nötig, ob es zulässig sei, den Brest-Litowsker Frieden zu unterschreiben, nur der Genosse Lenin hartnäckig und mit unvergleichlichem Scharfsinn gegenüber vielen von uns darauf bestand, daß wir durch dieses Joch hindurchgehen müßten, um bis zur Revolution des Weltproletariats auszuharren. Und jetzt müssen wir anerkennen, daß nicht wir recht gehabt haben.“

Ich habe nicht die verspäteten Offenbarungen der Epigonen abgewartet, um anzuerkennen! daß die geniale politische Kühnheit Lenins in den Tagen von Brest die Diktatur des Proletariats rettete. In den obenangeführten Worten nahm ich einen größeren Teil der Verantwortung für die Fehler anderer auf mich, als mir zukam. Ich tat dies, um den anderen ein Beispiel zu geben. Das Stenogramm verzeichnet an dieser Stelle „langandauernde Ovationen“. Die Partei wollte damit beweisen, daß sie meine Stellung zu Lenin, die jeglicher Kleinlichkeit oder Eifersüchtelei bar war, verstehe und schätze. Ich war mir dessen klar bewußt, was Lenin für die Revolution, für die Geschichte und für mich persönlich bedeutete. Er war mein Lehrer. Das heißt nicht, daß ich mit Verspätung seine Worte und seine Gesten wiederholte. Aber ich habe bei ihm gelernt, selbständig zu jenen Schlüssen zu kommen, zu denen er zu kommen pflegte.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008