Leo Trotzki

 

Mein Leben


Meinungsverschiedenheiten über Kriegsstrategie

Ich schildere auf diesen Seiten weder die Geschichte der Roten Armee noch die Geschichte ihrer Kämpfe. Diese beiden Themen, die mit der Geschichte der Revolution untrennbar verbunden sind und weit über die Grenzen einer Autobiographie hinausgehen, werden den Inhalt eines anderen Buches bilden. Ich kann aber hier nicht an jenen politisch-strategischen Meinungsverschiedenheiten vorbeigehen! die im Verlauf des Bürgerkrieges entstanden sind. Vom Gang der Kriegsoperationen hing das Schicksal der Revolution ab. Das Zentralkomitee der Partei mußte sich mehr und mehr mit den Fragen des Krieges und damit auch mit den Fragen der Strategie beschäftigen. Die wichtigsten Kommandoposten wurden mit Kriegsspezialisten der alten Schule besetzt Ihnen fehlte das Verständnis für die sozialen und politischen Verhältnisse. Den erfahrenen revolutionären Politikern, die das Zentralkomitee der Partei bildeten, fehlten die militärischen Kenntnisse. Die strategischen Pläne in großem Maßstabe waren in der Regel das Resultat kollektiver Arbeit und riefen, wie stets in solchen Fällen, Meinungsverschiedenheiten und Streit hervor.

Es hat in vier Fällen Differenzen gegeben in strategischen Fragen, mit denen sich das Zentralkomitee befaßte; mit anderen Worten, es gab so viel Differenzfälle, wie es Hauptfronten gab. Ich will hier ganz kurz von diesen Meinungsverschiedenheiten sprechen, um den Leser in das Wesen der Probleme einzuführen, die in den Fragen der Kriegführung entstanden, und nebenbei die später aufgetauchten Erfindungen abschütteln.

Der erste heftige Konflikt im Zentralkomitee brach im Sommer 1919 aus, hervorgerufen durch die Situation an der Ostfront. Oberbefehlshaber war damals noch Vazetis. Über ihn habe ich in dem Kapitel gesprochen, das Swjaschsk gewidmet ist. Ich war bemüht, Vazetis in seinem Glauben an sich, an seine Rechte und an seine Autorität zu festigen. Ohne solchen Glauben ist das Ausüben eines Kommandos undenkbar. Vazetis war der Ansicht, daß wir nach den ersten großen Erfolgen über Koltschak nicht zu weit nach dem Osten, über den Ural, vordringen dürften. Er wollte, daß die Ostfront auf dem Bergrücken überwintere. Das sollte die Möglichkeit schaffen, einige Divisionen vom Osten wegzunehmen und nach dem Süden zu werfen, wo Denikin zu einer immer ernsteren Gefahr geworden war. Ich unterstützte diesen Plan. Er fand aber den entschiedenen Widerstand sowohl des Befehlshabers der Ostfront, Kamenjews, eines früheren Obersten des Generalstabs, wie der Mitglieder des Kriegsrats, Smilgas und Laschewitschs, beide alte Bolschewiki. Sie erklärten: Koltschak sei derart geschlagen, daß zu seiner Verfolgung nicht viel Kräfte nötig wären; die Hauptsache sei, ihm keine Atempause zu lassen, sonst könnte er sich erholen, und man wäre dann gezwungen, im Frühling die Operationen im Osten von neuem zu beginnen. Die ganze Frage bestand folglich darin, den Zustand der Koltschakschen Armee und seines Hinterlandes richtig zu bewerten. Ich betrachtete schon damals die Südfront als die viel ernstere und gefährdetere. Das hat sich später im vollen Ausmaße als richtig bestätigt. In der Bewertung der Armee Koltschaks behielt das Kommando der Ostfront recht. Das Zentralkomitee nahm einen Beschluß gegen das Oberkommando und damit auch gegen mich an, da ich Vazetis unterstützte, geleitet von der Erwägung, daß die strategische Gleichung mehrere Unbekannte enthalte, unter denen die noch zu junge Autorität des Oberbefehlshabers eine wichtige Größe bilde. Der Beschluß des Zentralkomitees erwies sich als richtig. Die Ostfront machte einen Teil der Kräfte für den Süden frei und rückte gleichzeitig siegreich nach Sibirien vor, Koltschak auf den Fersen folgend. Dieser Konflikt führte zum Wechsel des Kommandos. Vazetis wurde abgesetzt, seinen Platz nahm Kamenjew ein.

An sich hatte die Differenz einen rein sachlichen Charakter. In meinen Beziehungen zu Lenin kam sie selbstverständlich nicht im geringsten zum Ausdruck Aber in solche episodische Meinungsverschiedenheiten einhakend, knüpfte die Intrige ihre Netze. Den 4. Juni 1919 versuchte Stalin vom Süden aus Lenin mit der Verderblichkeit der Kriegführung zu schrecken. „Die ganze Frage ist jetzt“, schrieb er, „ob das Zentralkomitee Mut finden wird, die nötigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Wird das Zentralkomitee genügend Charakter und Ausdauer besitzen?“ Der Sinn dieser Worte ist ganz klar. Ihr Ton beweist, daß Stalin die Frage schon wiederholt gestellt und von Lenin wiederholt eine Zurückweisung erfahren hatte. Damals wußte ich darüber nichts Bestimmtes. Dennoch ahnte ich eine klebrige Intrige. Und da ich weder Zeit noch Lust hatte, mich damit zu beschäftigen, bot ich, um den Knoten zu durchhauen, dem Zentralkomitee meine Demission an. Den 5. Juli antwortete das Zentralkomitee mit folgendem Beschluß: „Das organisatorische Büro und das politische Büro des Zentralkomitees sind, nachdem sie die Erklärung des Genossen Trotzki untersucht und gründlich durchgesprochen haben, zu dem einstimmigen Beschluß gekommen, daß sie absolut nicht in der Lage sind, die Demission des Genossen Trotzki anzunehmen und seinem Gesuch Folge zu leisten. Das organisatorische Büro und das politische Büro wollen alles tun, was in ihren Kräften steht, um die Arbeit an der Südfront, die Genosse Trotzki sich selbst gewählt hat die schwierigste, gefährlichste und zur Zeit wichtigste Arbeit, so bequem wie nur möglich für ihn und so fruchtbringend wie irgend möglich für die Republik zu gestalten. In seinen Eigenschaften als Volkskommissar für den Krieg und als Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrates kann Genosse Trotzki auch als Mitglied des Revolutionären Kriegsrates der Südfront gemeinsam mit dem Befehlshaber der Front, den er selbst gewählt und den das Zentralkomitee bestätigt hat, vollkommen frei handeln. Das organisatorische Büro und das politische Büro des Zentralkomitees stellen es dem Genossen Trotzki vollständig anheim, mit allen Mitteln zu versuchen, das zu erreichen, was er als notwendige Korrektur der Linie in der Kriegsfrage betrachtet und sie werden, falls er es wünscht sich bemühen, die Einberufung des Parteitages zu beschleunigen. Lenin, Kamenjew, Krestinski, Kalinin, Serebrjakow, Stalin, Stassowa.“

Dieser Beschluß trägt auch die Unterschrift Stalins. Während er hinter den Kulissen eine Intrige spann und Lenin des Mangels an Mut und Ausdauer beschuldigte, konnte sich Stalin doch nicht entschließen, dem Zentralkomitee offen entgegenzutreten.

Der Hauptschauplatz im Bürgerkriege war, wie gesagt, die Südfront. Die Kräfte des Feindes bestanden aus zwei selbständigen Teilen: aus dem Kosakentum, besonders dem Kubaner, und der Weißen Freiwilligen Armee, die aus dem ganzen Lande sich hier versammelte. Das Kosakentum wollte seine Grenzen vor dem Andrängen der Arbeiter und Bauern schützen. Die Freiwilligenarmee wollte Moskau einnehmen. Diese zwei Linien blieben nur so lange verschmolzen, wie die Freiwilligen im Nordkaukasus mit den Kubanern eine gemeinsame Front bildeten. Die Kubaner aber aus Kuban herauszubringen war für Denikin eine schwere, um nicht zu sagen undurchführbare Aufgabe. Unser Oberkommando ging an die Lösung des Problems der Südfront wie an eine abstrakte strategische Aufgabe heran, seine sozialen Grundlagen dabei ignorierend. Kuban war die Hauptbasis der Freiwilligen. Das Oberkommando beschloß deshalb, von der Wolga her den entscheidenden Schlag gegen diesen Stützpunkt zu führen. Mag sich Denikin nur herauswagen und den Kopf gegen Moskau strecken. Wir werden inzwischen hinter seinem Rücken seine Kubaner Basis auseinanderfegen. Denikin wird in der Luft hängenbleiben, und wir werden ihn mit nackten Händen einfangen können. Das war das allgemeine strategische Schema. Hätte es sich nicht um einen Bürgerkrieg gehandelt, wäre das Schema richtig gewesen. In bezug auf die reale Südfront aber erwies es sich als rein akademisch und hat dem Feinde wesentlich geholfen. Vermochte Denikin nicht das Kosakentum für einen fernen Feldzug gegen den Norden zum Erheben zu bringen, so leisteten wir Denikin eine Hilfe, indem wir die Kosakennester vorn Süden her angriffen. Jetzt konnten sich die Kosaken nicht mehr ausschließlich auf ihrem eigenen Boden verteidigen. Wir selbst hatten ihr Schicksal mit dem Schicksal der Freiwilligenarmee eng verknüpft.

Obgleich wir die Operationen sorgfältig vorbereitet und bedeutende Kräfte und materielle Mittel konzentriert hatten, blieb uns der Erfolg versagt. Im Rücken Denikins bildeten die Kosaken einen starken Wall. Sie waren mit ihrem Boden verwachsen, klammerten sich mit Zähnen und Krallen daran fest. Unser Angriff hatte die ganze Kosakenbevölkerung auf die Beine gebracht. Wir verloren Kraft und Zeit und trieben der Weißen Armee alle Kosaken zu, die fähig waren, Waffen zu tragen. Denikin ergoß sich inzwischen über die Ukraine, ergänzte seine Reihen, marschierte nach dem Norden, nahm Kursk, nahm Orel und bedrohte Tula. Der Verlust Tulas wäre für uns eine Katastrophe gewesen, denn das würde den Verlust der wichtigsten Waffen- und Munitionsfabriken bedeutet haben.

Der Plan, den ich von Anfang an vorgeschlagen hatte, war von direkt entgegengesetztem Charakter. Er lief darauf hinaus, daß wir durch unseren ersten Schlag die Freiwilligen von den Kosaken abschneiden und dann, die Kosaken sich selbst überlassend, unsere Hauptkräfte gegen die Freiwilligenarmee konzentrieren sollten. Die Hauptrichtung des Angriffs ging nach diesem Plan nicht von der Wolga auf Kuban, sondern von Woronesch auf Charkow und das Donezgebiet. Die Bauern- und Arbeiterbevölkerung dieses Landstrichs, der den Nordkaukasus von der Ukraine trennt, war völlig auf seiten der Roten Armee. Sich in diese Richtung fortbewegend, könnte die Rote Armee vordringen wie ein Messer in Butter. Die Kosaken würden auf ihren Plätzen bleiben, um ihre Grenzen gegen Fremde zu bewachen. Wir brauchten sie nicht anzurühren. Die Frage des Kosakentums bliebe eine selbständige Frage, und zwar eher eine politische als eine militärische. Es war aber vor allem strategisch nötig, diese Frage von der Frage der Niederringung der Freiwilligenarmee Denikins zu trennen. Mein Plan wurde schließlich angenommen, aber erst dann, als Denikin Tula bedrohte, dessen Übergabe gefährlicher gewesen wäre als der Verlust Moskaus. Wir hatten einige Monate verloren, viele unnötige Opfer gebracht und einige sehr bedrohliche Wochen durchlebt.

Ich will nebenbei bemerken, daß die strategischen Meinungsverschiedenheiten über die Südfront eine direkte Beziehung zu der Frage der richtigen Einschätzung oder „Unterschätzung“ der Bauernschaft hatten. Mein ganzer Plan stützte sich auf die gegenseitigen Beziehungen der Bauern und der Arbeiter einerseits und des Kosakentums andererseits, und in diesem Sinne und mit dieser Begründung stellte ich ihn dem abstrakt-akademischen Vorhaben des Oberkommandos, das die Unterstützung der Mehrheit des Zentralkomitees gefunden hatte, entgegen. Wenn ich auch nur den tausendsten Teil jener Bemühungen aufwenden würde, die für den Beweis meiner „Unterschätzung“ der Bauernschaft verbraucht wurden, ich könnte auf der Grundlage unserer Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Südfront die gleiche, also eine ebenso blödsinnige Beschuldigung nicht nur gegen Sinowjew, Stalin und andere erheben, sondern auch gegen Lenin.

Der dritte strategische Konflikt entstand in Verbindung mit dem Feldzug Judenitschs gegen Petrograd. Davon ist bereits in einem anderen Kapitel gesprochen worden, und es besteht keine Notwendigkeit, das zu wiederholen. Ich will nur daran erinnern, daß Lenin unter dem Eindruck der äußerst schwierigen Lage im Süden, woher die Hauptgefahr drohte, und unter der Wirkung der Nachrichten aus Petrograd über die ungeheuerliche Bewaffnung und Ausrüstung der Judenitsch-Armee auf den Gedanken kam, die Front durch eine Preisgabe Petrograds zu verkürzen. Das war vielleicht das einzige Mal, wo Sinowjew und Stalin mich gegen Lenin unterstützten. Lenin ließ einige Tage später seinen offensichtlich irrigen Plan selbst fallen.

Der letzte und zweifellos der größte Konflikt betraf das Schicksal der polnischen Front im Sommer 1920.

Der damalige englische Premier Bonar Law zitierte im Unterhaus meinen Brief an die französischen Kommunisten als Beweis dafür, daß wir im Herbst 1920 die Absicht gehabt hätten, Polen zu vernichten. Eine ähnliche Behauptung ist im Buche des ehemaligen polnischen Kriegsministers Sikorski enthalten, aber schon mit einem Hinweis auf meine Rede auf dem internationalen Kongreß im Januar 1920. Das alles ist von Anfang bis Ende purer Unsinn. Selbstverständlich hatte ich niemals Veranlassung gehabt, dem Polen Pilsudskis meine Sympathien auszusprechen, das heißt dem Polen der Unterjochung und Bedrückung unter dem Deckmantel patriotischer Phrasen und heldischer Prahlerei. Man kann mühelos nicht wenige meiner Erklärungen sammeln, wonach wir, falls uns Pilsudski den Krieg aufzwingen sollte, uns bemühen würden, nicht auf halbem Wege stehenzubleiben. Erklärungen solcher Art ergaben sich aus der Situation. Aber daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, wir hätten den Krieg mit Polen gewollt oder vorbereitet, heißt den Tatsachen und dem gesunden Verstand gegenüber einfach lügen. Wir wollten mit allen Kräften diesen Krieg vermeiden. Wir haben zu diesem Zwecke kein Mittel unausgenutzt gelassen. Sikorski gesteht, daß wir äußerst „geschickt“ die Friedenspropaganda betrieben hätten. Er versteht es nicht oder tut, als verstehe er es nicht, daß das Geheimnis dieser Geschicktheit sehr wenig geheimnisvoll war: wir erstrebten aus allen Kräften den Frieden, selbst um den Preis großer Konzessionen. Vielleicht bin in erster Reihe ich es gewesen, der diesen Krieg zu vermeiden trachtete, denn ich hatte nur zu klar vorausgesehen, wie schwer es uns werden würde, ihn nach drei Jahren ununterbrochenen Bürgerkrieges zu führen. Die polnische Regierung hat, was wiederum aus dem Buche Sikorskis klar ersichtlich ist, den Krieg bewußt und vorsätzlich begonnen, trotz unseren unermüdlichen Bestrebungen, den Frieden zu wahren, Bestrebungen, die unsere Außenpolitik in ein Gemisch aus Geduld und pädagogischer Beharrlichkeit verwandelten. Wir wollten aufrichtig den Frieden. Pilsudski zwang uns den Krieg auf. Wir konnten diesen Krieg nur deshalb führen, weil die breiten Volksmassen tagaus, tagein unser diplomatisches Duell verfolgen und sich restlos davon überzeugen konnten, daß der Krieg uns aufgezwungen ward; und sie hatten sich nicht um ein Jota darin geirrt.

Das Land machte noch eine wahrhaft heroische Anstrengung. Die Besetzung Kiews durch die Polen, die an sich jedes militärischen Sinnes entbehrte, erwies uns einen großen Dienst: das Land wurde aufgerüttelt. Wieder bereiste ich Armeen und Städte, mobilisierte Menschen und Mittel. Kiew wurde zurückerobert. Unsere Erfolge begannen. Die Polen gingen mit einer Schnelligkeit zurück, mit der ich nicht gerechnet hatte, da ich jenen Grad des Leichtsinns nicht voraussetzen konnte, der dem Feldzuge Pilsudskis zugrunde lag. Aber auch auf unserer Seite zeigte sich nach den ersten großen Siegen eine Überschätzung der sich uns eröffnenden Möglichkeiten. Es entstand und festigte sich eine Stimmung, den Krieg, den wir als einen Verteidigungskrieg begonnen hatten, in einen revolutionären Angriffskrieg zu verwandeln. Prinzipiell konnte ich natürlich keine Argumente dagegen haben. Die Frage lief auf das Kräfteverhältnis hinaus. Eine unbekannte Größe bildete die Stimmung der polnischen Arbeiter und Bauern. Einige polnische Genossen, wie der verstorbene J. Marchlewski, der Mitarbeiter Rosa Luxemburgs, schätzten die Lage sehr nüchtern ein. Die Ansichten Marchlewskis bildeten ein wichtiges Element in meinem Bestreben, so schnell wie möglich aus dem Krieg herauszukommen. Aber es gab noch andere Stimmen. Es gab die heiße Hoffnung auf einen revolutionären Aufstand der polnischen Arbeiter. Jedenfalls entstand in Lenin der feste Plan: die Sache bis ans Ende durchzuführen, das heißt in Warschau einzumarschieren, um den polnischen Arbeitermassen zu helfen, die Regierung Pilsudskis zu stürzen und die Macht zu ergreifen. Der eben erst im Stadium der Erwägungen befindliche Entschluß der Regierung übertrug sich mühelos auf die Einbildungskraft des Oberkommandos und des Kommandos der Ostfront. Im Augenblick meines fälligen Eintreffens in Moskau fand ich im Zentrum eine sehr feste Stimmung zugunsten der Kriegführung „bis ans Ende“. Ich widersetzte mich dem entschieden. Die Polen baten bereits um Frieden. Ich war der Ansicht, daß wir den Höhepunkt der Erfolge erreicht hätten und, falls wir ohne Berechnung unserer Kräfte weiter vorrückten, an dem errungenen Siege vorüber zu einer Niederlage kommen könnten. Nach der kolossalen Anstrengung, die es ihr ermöglicht hatte, in fünf Wochen 650 Kilometer zurückzulegen, konnte die 4. Armee sich nur noch aus reinem Beharrungsvermögen weiterbewegen. Alles hing an den Nerven, und dies sind zu dünne Fäden. Ein fester Stoß genügte, um unsere Front zu erschüttern und den unerhörten, beispiellosen – selbst Foch mußte das zugeben – Angriffsdrang in einen katastrophalen Rückzug zu verwandeln. Ich verlangte den sofortigen, schnellsten Friedensabschluß, solange die Armee nicht völlig erschöpft sei. Mich unterstützte, soweit ich mich erinnere, nur Rykow. Die anderen hatten Lenin noch in meiner Abwesenheit für sich gewonnen. Es wurde beschlossen: anzugreifen.

Im Vergleich mit der Zeit von Brest hatten sich die Rollen stark verändert: Damals forderte ich, selbst auf die Gefahr hin, Territorium zu verlieren, mit dem Friedensschluß nicht zu eilen, damit das deutsche Proletariat Zeit finden konnte, die Situation zu begreifen und sein Wort mitzusprechen. Jetzt forderte Lenin, daß unsere Armeen den Angriff fortsetzen sollten, um dadurch es dem polnischen Proletariat zu ermöglichen, die Situation zu erkennen und sich zu erheben. Der polnische Krieg hat in anderem Sinne das bestätigt, was der Brester Krieg gezeigt hatte: Ereignisse des Krieges und Ereignisse der revolutionären Massenbewegungen müssen mit verschiedenen Maßstäben gemessen werden. Wo operierende Armeen nach Tagen und Wochen rechnen, dort zählt die Bewegung der Volksmassen nach Monaten und Jahren. Berechnet man den Unterschied dieser beiden Tempos falsch, dann können die Zahnräder des Krieges die Zahnräder der Revolution zerbrechen, anstatt sie in Bewegung zu bringen. Jedenfalls geschah es so im kurzen Brester Krieg und in dem großen polnischen Krieg. Wir gingen an unserem Siege vorbei – zu der schweren Niederlage.

Man kann nicht unerwähnt lassen, daß eine der Ursachen, weshalb die Katastrophe bei Warschau einen so ungeheuren Umfang annehmen konnte, das Verhalten des Kommandos der Südgruppe der Sowjetarmee war, die die Richtung auf Lemberg hatte. Die politische Hauptfigur im Revolutionären Kriegssowjet dieser Gruppe war Stalin. Er wollte um jeden Preis in Lemberg zur gleichen Zeit einziehen, wie Smilga mit Tuchatschewski in Warschau. Es gibt Menschen, die auch solche Ambitionen haben! Als die Gefahr für die Armeen Tuchatschewskis sichtbar wurde und das Oberkommando der Südfront den Befehl gab, die Richtung scharf zu ändern, um die Flanke der polnischen Truppen bei Warschau anzugreifen, fuhr das Kommando der Südwestfront, von Stalin begünstigt, fort, sich nach dem Westen zu bewegen: war es denn nicht wichtiger, selbst in Lemberg einzurücken, als „anderen“ zu helfen, Warschau einzunehmen? Erst nach wiederholten Befehlen und Drohungen änderte das Südwestkommando die Richtung. Aber einige Tage Verspätung haben eine verhängnisvolle Rolle gespielt.

Unsere Truppen gingen vierhundert Kilometer und noch mehr zurück. Nach den gestrigen glänzenden Siegen wollte sich niemand damit abfinden. Als ich von der Wrangelfront zurückkehrte, fand ich in Moskau eine Stimmung vor zugunsten eines zweiten polnischen Krieges. Jetzt war auch Rykow in das andere Lager übergegangen: „Hat man begonnen, dann muß man es durchführen“, sagte er. Das Kommando der Westfront machte Hoffnung: es seien genügend Reserven angekommen, die Artillerie sei erneuert und so weiter. Der Wunsch war der Vater des Gedankens. „Was haben wir an der Westfront?“ erwiderte ich. „Moralisch geschlagene Kader, in die man frischen Menschenteig hineingeworfen hat. Mit einer solchen Armee kann man nicht Krieg führen. Mit solchen Truppen kann man sich eventuell noch verteidigen, indem man zurückgeht und in ihrem Rücken eine zweite Armee aufstellt; aber es ist sinnlos, zu glauben, eine solche Armee könne sich noch zu einem siegreichen Angriff aufraffen auf einem Weg, der von ihren eigenen Trümmern besät ist.“ Ich erklärte, daß die Wiederholung eines schon begangenen Fehlers uns das Zehnfache kosten würde und daß ich mich dem Beschluß, wie er sich anzukündigen scheine, nicht unterwerfen, sondern an die Partei appellieren würde. Lenin verlangte zwar formell die Fortsetzung des Krieges, aber nicht mehr so sicher und energisch wie das erste Mal. Meine unerschütterliche Überzeugung von der Notwendigkeit, einen Frieden, selbst einen schweren, schließen zu müssen, schien auf ihn den nötigen Eindruck gemacht zu haben. Er schlug vor, die Entscheidung über die Frage so lange zu vertagen, bis ich die Westfront besucht und einen unmittelbaren Eindruck von dem Zustand unserer Armeen nach dem Rückzug gewonnen haben würde. Das bedeutete für mich, daß Lenin sich im wesentlichen meiner Position anschloß.

Im Stab der Front war die Stimmung zugunsten eines zweiten Krieges. Aber sie beruhte auf keinerlei Zuversicht: sie war nur ein Abbild der Moskauer Stimmungen. Je tiefer ich die militärische Leiter hinabstieg von der Armee zur Division, zum Regiment und zur Kompanie – um so klarer wurde mir die Unmöglichkeit eines Angriffskrieges. Ich teilte Lenin meine Feststellungen in einem Brief mit, der mit der Hand geschrieben war und von dem ich nicht einmal eine Kopie behielt, und setzte meine Reise fort. Die zwei, drei Tage, die ich an der Front verbracht hatte, hatten vollständig genügt, um die Richtigkeit der Überzeugung zu bestätigen, mit der ich an die Front gereist war. Ich kehrte nach Moskau zurück, und das politische Büro nahm fast einstimmig einen Beschluß zugunsten eines sofortigen Friedens an.

Der Fehler in der strategischen Berechnung im polnischen Krieg hatte große geschichtliche Folgen. Das Polen Pilsudskis kam ganz unerwartet gefestigt aus dem Krieg heraus. Dagegen war der Entwicklung der polnischen Revolution ein grausamer Schlag zugefügt worden. Die Grenzen, die der Rigaer Vertrag festgelegt hat, haben die Sowjetrepublik von Deutschland abgeschnitten, was in der Folge von außerordentlicher Tragweite für das Leben beider Länder war ... Lenin erkannte selbstverständlich besser als irgendein anderer die Tragweite des „Warschauer“ Fehlers und kehrte nicht nur einmal in Gedanken und Worten zu ihm zurück.

In der Literatur der Epigonen wird Lenin heute etwa so geschildert wie die Maler der Ikonen in Susdal Heilige und Christus darzustellen pflegen: anstatt einer Idealgestalt entsteht eine Karikatur. Wie sehr die Göttermaler auch bemüht sind, sich über sich selbst zu erheben, schließlich zeigen sie auf dem Brettchen doch nur ihren eigenen Geist und geben infolgedessen nur ihr eigenes, wenn auch idealisiertes Porträt. Da die Autorität der Epigonen auf dem Verbot beruht an ihrer Unfehlbarkeit zu zweifeln, so wird auch Lenin in der Epigonenliteratur nicht als revolutionärer Stratege geschildert, der sich genial in jeder Situation auskannte, sondern als mechanischer Automat für fehlerlose Beschlüsse. Das Wort Genie in bezug auf Lenin wurde zum erstenmal von mir angewandt, als die anderen noch nicht wagten, es auszusprechen. Ja, Lenin war genial, von vollkommener menschlicher Genialität. Lenin war aber keine mechanische Rechenmaschine, die fehlerlos fünktionierte. Jedoch machte er viel seltener Fehler, als jeder andere an seiner Stelle begangen hätte. Lenin machte Fehler, auch große Fehler, dem gigantischen Ausmaß seiner ganzen Arbeit entsprechend.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003