Leo Trotzki

 

Mein Leben


Die Vertreibung

Im Oktober 1928 veränderte sich unsere tage schroff. Unsere Verbindungen mit den Gesinnungsgenossen, Freunden, sogar mit Verwandten in Moskau wurden jäh unterbrochen, Briefe und Telegramme trafen nicht mehr ein. Auf der Moskauer Telegraphenstation sammelten sich, wie wir über einen besonderen Weg erfuhren, viele Hunderte Telegramme, die besonders anläßlich des Jahrestages der Oktoberrevolution an mich aufgegeben worden waren. Der Ring um uns schloß sich immer enger.

Während des Jahres 1928 hatte die Opposition trotz der wütenden Verfolgungen sichtlich an Umfang zugenommen, besonders in den großen Industriebetrieben. Dies führte zur Verschärfung der Repressalien; vor allem wurde der Briefwechsel der Verbannten untereinander völlig abgeschnitten. Wir erwarteten weitere Maßnahmen gegen uns, und wir sollten uns nicht getäuscht haben.

Am 16. Dezember übergab mir ein Bevollmächtigter der GPU, der aus Moskau angekommen war, im Namen dieser Behörde folgendes Ultimatum: Zur Vermeidung von Maßnahmen, die mich vom „politischen Leben isolieren“ würden, hätte ich die Leitung des Kampfes der Opposition einzustellen. Die Frage einer Ausweisung ins Ausland wurde dabei nicht angeschnitten; es sollte sich, nahm ich an, um Maßnahmen innerer Art handeln. Ich beantwortete dieses „Ultimatum“ mit einem Brief an das Zentralkomitee der Partei und an das Präsidium der Kommunistischen Internationale. Es scheint mir notwendig, den wesentlichen Teil dieses Briefes hier anzuführen:

„Heute, den 16. Dezember, hat mir der Bevollmächtigte des GPU-Kollegiums, Wolynski, im Namen dieses Kollegiums mündlich folgendes Ultimatum mitgeteilt:

‚Die Arbeit Ihrer Gesinnungsgenossen im Lande‘ – so erklärte er fast wörtlich –, ‚hat in der letzten Zeit einen offen konterrevolutionären Charakter angenommen; Ihre Lebensbedingungen in Alma-Ata geben Ihnen die Möglichkeit, diese Arbeit zu leiten; in Anbetracht dessen hat das Kollegium der GPU beschlossen, von Ihnen kategorisch die Annahme der Verpflichtung zu fordern, Ihre Tätigkeit einzustellen, – andernfalls würde das Kollegium sich genötigt sehen, die Bedingungen Ihres Daseins derart zu verändern, daß sie vom politischen Leben völlig abgeschnitten sein werden. Damit wäre die Frage der Veränderung Ihres Wohnortes verbunden.‘

Ich erklärte dem Bevollmächtigten der GPU, daß ich ihm nur eine schriftliche Antwort und auch diese nur für den Fall geben würde, wenn ich von ihm eine schriftliche Formulierung des Ultimatums der GPU bekäme. Meine Weigerung, eine mündliche Antwort zu geben, kam aus der Überzeugung, die sich auf die Erfahrung aus der Vergangenheit stützte, daß meine Worte zum Zwecke der Irreführung der werktätigen Massen in der UdSSR und in der ganzen Welt wieder bösartig entstellt werden würden.

Unabhängig jedoch von dem, was das Kollegium der GPU unternehmen wird, das in dieser Sache ja keine selbständige Rolle spielt, sondern nur technisch den alten und mir längst bekannten Beschluß der engeren Stalinschen Fraktion ausführt, erachte ich es für notwendig, dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale folgendes zur Kenntnis zu bringen:

Die mir gestellte Forderung, auf die politische Tätigkeit zu verzichten, bedeutet die Forderung, auf den Kampf für die Interessen des internationalen Proletariats zu verzichten, einen Kampf, den ich ununterbrochen zweiunddreißig Jahre führe, das heißt während meines ganzen bewußten Lebens. Der Versuch, diese Tätigkeit als eine ‚konterrevolutionäre‘ hinzustellen, stammt von jenen, die ich vor dem Angesicht des internationalen Proletariats beschuldige, die Grundlehren von Marx und Lenin mit Füßen zu treten, die historischen Interessen der Weltrevolution zu verletzen, mit den Traditionen und Vermächtnissen des Oktober gebrochen zu haben und unbewußt, aber um so bedrohlicher, den Thermidor vorzubereiten.

Der Verzicht auf politische Tätigkeit würde bedeuten die Einstellung des Kampfes gegen die Blindheit der heutigen Führung der Kommunistischen Partei, die durch ihre opportunistische Unfähigkeit, eine proletarische Politik im großen Maßstab zu führen, zu den objektiven Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaues in der USSR immer mehr politische Hindernisse häuft;

Seit dem Jahre 23, das heißt seit dem beispiellosen Zusammenbruch der deutschen Revolution, steht der Leninsche Flügel der Partei unter einem Hagel von Angriffen. Die Wucht der Schläge nimmt zu mit den weiteren Niederlagen des internationalen und des russischen Proletariats als Folge der opportunistischen Führung.

Der theoretische Verstand und die politische Erfahrung beweisen, daß die Periode des historischen Niedergangs, des Rückzugs, das heißt der Reaktion, nicht nur nach der bürgerlichen, sondern auch nach der proletarischen Revolution eintreten kann. Seit sechs Jahren leben wir in der USSR im Zeichen der zunehmenden Reaktion gegen den Oktober und folglich der Wegbereitung für den Thermidor. Als der sichtbarste und vollendetste Ausdruck dieser Reaktion innerhalb der Partei erscheint die wüste Hetze gegen den linken Flügel und das Bestreben, ihn organisatorisch zu zerschlagen.

Bei ihren jüngsten Versuchen, die eindeutigen Thermidorianer abzuwehren, lebt die Stalinsche Fraktion von den geistigen Scherben und Splittern der Opposition. Sie ist schöpferisch ohnmächtig. Der Kampf gegen links nimmt ihr jegliches Gleichgewicht. Ihre praktische Politik hat keine Achse, ist falsch, widerspruchsvoll, hoffnungslos. Die lärmende Kampagne gegen die rechte Gefahr ist zu dreiviertel nur eine Scheinkampagne und soll hauptsächlich dazu dienen, den wahrhaft vernichtenden Krieg gegen die Bolschewiki-Leninisten von den Massen zu verschleiern. Die Weltbourgeoisie und der Weltmenschewismus heiligen diesen Krieg in gleicher Weise: diese Richter haben ‚das historische Recht‘ längst Stalin zugesprochen.

Ohne diese blinde, ängstliche und unschöpferische Politik der Anpassung an Bürokratie und Kleinbürgertum wäre die Lage der Werktätigen im zwölften Jahre der Diktatur unvergleichlich günstiger; die militärische Sicherheit unvergleichlich stärker und zuverlässiger; die Kommunistische Internationale würde auf einer anderen Höhe stehen und nicht Schritt für Schritt vor der verräterischen und käuflichen Sozialdemokratie zurückweichen.

Die unheilbare Ohnmacht des Apparates besteht, unter dem Schein äußerer Macht, darin, daß er nicht weiß, was er tut. Er erfüllt den Auftrag der feindlichen Klassen. Es kann keinen größeren historischen Fluch geben für eine Fraktion, die aus der Revolution hervorgegangen ist und sie untergräbt.

Die größte historische Kraft der Opposition besteht darin, daß sie trotz ihrer augenblicklichen Schwäche die Hand am Puls des welt-geschichtlichen Prozesses hält, die Dynamik der Klassenkräfte klar vor Augen hat, den morgigen Tag voraussieht und ihn bewußt vorbereitet. Auf die politische Tätigkeit zu verzichten würde bedeuten, auf die Vorbereitung des morgigen Tages zu verzichten.

Die Drohung, meine Lebensbedingungen zu ändern und mich von der politischen Tätigkeit zu isolieren, klingt so, als wäre ich nicht bereits in eine Gegend 4.000 Kilometer von Moskau verschickt worden, 250 Kilometer von einer Eisenbahn und etwa gleich weit entfernt von den Grenzen der westlichen Wüstenprovinzen Chinas, in eine Gegend, wo bösartige Malaria, Aussatz und Pest herrschen. Als hätte die Fraktion Stalins durch ihr unmittelbares Organ, die GPU, nicht schon alles, was ihr möglich ist, getan, um mich nicht nur vom politischen, sondern auch von jedem anderen Leben zu verdrängen. Die Moskauer Zeitungen brauchen, um hierherzukommen, zehn Tage bis einen Monat und noch länger. Briefe erreichen, mit seltenen Ausnahmen, mich, nachdem sie einen, zwei und drei Monate in den Schubladen der GPU und des Sekretariats des Zentralkomitees gelagert haben.

Zwei meiner nächsten Mitarbeiter seit der Zeit des Bürgerkrieges, die Genossen Sermux und Posnanski, die sich freiwillig entschlossen hatten, mich an den Ort der Verbannung zu begleiten, wurden sofort nach ihrer Ankunft verhaftet, mit Kriminalverbrechern in einen Keller gesperrt und dann in die entferntesten Winkel des Nordens verbannt. Ein Brief an mich von meiner hoffnungslos erkrankten Tochter, die Ihr aus der Partei ausgeschlossen und von der Arbeit entfernt habt, hat aus dem Moskauer Krankenhaus zu mir dreiundsiebzig Tage gebraucht, so daß meine Antwort sie nicht mehr am Leben antraf. Eine briefliche Nachricht aus Moskau über die schwere Erkrankung meiner zweiten Tochter, die Ihr ebenfalls aus der Partei ausgeschlossen und von der Arbeit entfernt habt, wurde mir vor einem Monat, am dreiundvierzigsten Tage, zugestellt. Telegraphische Anfragen nach dem Gesundheitszustand erreichen den Bestimmungsort meist nicht. In der gleichen, wenn nicht in einer noch schlimmeren Lage befinden sich Tausende einwandfreier Bolschewiki-Leninisten, deren Verdienste vor der Oktoberrevolution und vor dem internationalen Proletariat unermeßlich größer sind als die Verdienste jener, von denen sie in Gefängnisse und in Verbannung geschickt wurden.

Indem sie immer schwerere Repressalien gegen die Opposition vorbereitet, versucht die engere Fraktion Stalins – den Lenin schon in seinem Testament ‚grob und illoyal‘ nannte, als diese Eigenschaften sich noch nicht zu einem hundertsten Teil entfaltet hatten –, durch die Agenten der GPU der Opposition fortwährend irgendwelche ‚Verbindungen‘ mit den Feinden der proletarischen Diktatur unterzuschieben. Im engeren Kreis behaupten die heutigen Führer: ‚Das ist für die Masse nötig.‘ Manchmal noch zynischer: ‚Das ist für die Dummköpfe.‘ Meinen nächsten Mitarbeiter, Georgij Wassiljewitsch Butow, der während der ganzen Jahre des Bürgerkrieges Sekretär des Revolutionären Kriegsrats der Republik war, hatte man verhaftet und unter unerhörten Bedingungen festgehalten; von diesem reinen und bescheidenen Menschen, diesem untadeligen Parteigenossen versuchte man eine Bestätigung der Richtigkeit der bewußt unwahren! gefälschten, betrügerischen Anschuldigungen nach Art der thermidorianischen Amalgambildungen zu erpressen. Butow antwortete mit einem heroischen Hungerstreik, der annähernd fünfzig Tage dauerte und im September dieses Jahres Butows Tod im Gefängnis herbeiführte. Gewalt, Prügel, physische und geistige Folter werden gegen die besten bolschewistischen Arbeiter angewandt, weil sie dem Vermächtnis des Oktober Treue halten. So sehen im allgemeinen die Bedingungen aus, die nach der Auffassung des GPU-Kollegiums der politischen Betätigung der Opposition und meiner im besonderen heute ‚keine Hindernisse in den Weg legen‘.

Die klägliche Drohung, diese Bedingungen im Sinne einer weiteren Isolierung zu ändern, ist nichts anderes als der Entschluß der Stalinschen Fraktion, die Verbannung durch Gefängnis zu ersetzen. Dieser Entschluß ist, wie ich schon oben gesagt habe, nichts Überraschendes. Schon im Jahre 1924 vorgesehen, wird er allmählich, Schritt für Schritt, durchgeführt, um die unterdrückte und betrogene Partei unmerklich auf die Methoden Stalins vorzubereiten, deren grobe Illoyalität heute zur vergifteten bürokratischen Ehrlosigkeit ausgereift ist.

In der Erklärung, die wir dem Sechsten Kongreß überreicht haben, schrieben wir – das mir heute mitgeteilte Ultimatum gleichsam voraussehend – wörtlich: ‚Von einem Revolutionär einen solchen Verzicht (auf die politische Betätigung im Dienste der Partei und der Weltrevolution) zu fordern, vermag nur ein durch und durch korrumpiertes Beamtentum. Eine solche Verpflichtung einzugehen, wären nur verächtliche Renegaten imstande.‘

Ich kann an diesen Worten nichts ändern.

Jedem das Seine. Ihr wollt auch fernerhin den Einflüsterungen der dem Proletariat feindlichen Klassenkräfte folgen. Wir kennen unsere Pflicht. Wir werden sie bis zu Ende erfüllen.

Den 16. Dezember 1928, Alma-Ata.

L. Trotzki.“

Nach dieser Antwort verging ein Monat ohne Veränderungen. Unsere Verbindungen mit der Außenwelt, auch die illegalen mit Moskau, blieben völlig abgeschnitten. Im Januar erhielten wir nur Moskauer Zeitungen. Je mehr darin vom Kampf gegen rechts geschrieben wurde, um so vorbereiteter warteten wir auf den Schlag gegen links. Das ist die Methode der Stalinschen Politik

Der Moskauer Bote der GPU, Wolynski, blieb die ganze Zeit über, Anweisungen erwartend, in Alma-Atat Am 20. Januar erschien er in Begleitung zahlreicher bewaffneter Agenten der GPU, die die Eingänge und Ausgänge besetzten, und überrekhte mir folgenden Auszug aus dem Protokofl der GPU vom 18. Januar 1929:

Verhandelt: In Sachen des Bürgers Trotzki, Lew Dawidowitsch, nach Art. 58/10 der Strafgesetzordnung wegen der Anschuldigung, sich mit konterrevolutionärer Arbeit befaßt zu haben, die in der Organisierung einer illegalen, sowjetfeindlichen Partei bestand, deren Tätigkeit in der letzten Zeit auf die Provozierung antisowjetischer Erhebungen und auf die Vorbereitung des bewaffneten Kampfes gegen die Sowjetmacht gerichtet ist.

Beschlossen: Den Bürger Trotzki, Lew Dawidowitsch, aus den Grenzen der USSR auszuweisen.“

Als man später von mir eine Quittung verlangte, daß mir der Beschluß mitgeteilt worden sei, schrieb ich: „Der seinem Wesen nach verbrecherische und seiner Form nach ungesetzliche Beschluß der GPU ist mir am 20. Januar 1929 bekannt gegeben worden. Trotzki.“

Ich nannte den Beschluß verbrecherisch, weil er bewußt falsch mich der Vorbereitung eines bewaffneten Kampfes gegen die Sowjetmacht beschuldigt. Diese Formel, die Stalin brauchte, um die Ausweisung zu rechtfertigen, ist aber an sich die bösartigste Untergrabung der Sowjetmacht. Träfe es zu, daß die von den Führern der Oktoberrevolution, von den Erbauern der Sowjetrepublik und der Roten Armee geleitete Opposition eine bewaffnete Niederwerfung der Sowjetmacht vorbereitet, so würde das allein die katastrophale Lage des Landes beweisen. Zum Glück ist die Formel der GPU eine freche Erfindung. Die Politik der Opposition hat nichts mit der Vorbereitung des bewaffneten Kampfes zu tun. Uns leitet restlos die Überzeugung von der tiefen Lebensfähigkeit und der Elastizität des Sowjetregimes. Unser Weg ist der Weg der inneren Reform.

Als ich Aufschluß darüber verlangte, wann und wohin man mich auszuweisen beabsichtige, erhielt ich die Antwort, dies würde mir von einem uns entgegenreisenden Vertreter der GPU noch auf dem Gebiet des europäischen Rußland mitgeteilt werden. Der ganze nächste Tag verlief mit dem fieberhaften Packen der Sachen, fast ausschließlich Manuskripte und Bücher. Ich will nebenbei bemerken, daß die Agenten der GPU keine Spur von Feindseligkeit zeigten. Ganz im Gegenteil. Beim Morgengrauen des 22. nahm ich mit meiner Frau, meinem Sohn und der Wache Platz im Autobus, der uns auf dem glattgewalzten Schneeweg bis an den Bergpaß des Kurdaj-Gebirges brachte. Auf dem Gebirgspaß herrschte Schneegestöber, der Wind verwehte den Weg. Der mächtige Traktor, der uns über den Kurdaj ziehen sollte, versank mit den sieben Automobilen, die er zu schleppen hatte, bis über den Hals in den Schneemassen. Während der Schneestürme erfroren auf dem Paß sieben Mann und keine geringe Anzahl Pferde. Man mußte in Schlitten umsteigen. Es waren über sieben Stunden nötig, um annähernd 30 Kilometer zurückzulegen. Den verwehten Weg entlang ragten aus dem tiefen Schnee viele Schlitten mit hochstehenden Deichseln, viele Frachten für die im Bau befindliche Turkestan- Sibirische Eisenbahn, viele Petroleumtankwagen. Menschen und Pferde waren vor dem Schneetreiben in die nächsten kirgisischen Wintersiedlungen geflüchtet.

Hinter dem Bergpaß besteigen wir wieder ein Automobil und in Pischpek einen Eisenbahnwagen. Die uns entgegenkommenden. Moskauer Zeitungen bereiten die öffentliche Meinung auf die Vertreibung der Führer der Opposition ins Ausland vor. Im Bezirk von Aktjubinsk wird uns mitgeteilt: als Ort, wohin die Ausweisung erfolgen soll, sei Konstantinopel bestimmt. Ich verlange, zwei Mitglieder meiner Familie zu sehen, meinen jüngeren Sohn und die Schwiegertochter, die in Moskau sind. Sie werden zur Station Rjaschsk gebracht und dem gleichen Regime unterworfen wie wir. Der neue Vertreter der GPU, Bulanow, versucht, mir die Vorzüge Konstantinopels klarzumachen. Ich lehne sie entschieden ab; Bulanow verhandelt über die direkte Leitung mit Moskau. Dort hat man alles vorausgesehen, nur nicht das Hindernis, das aus meiner Weigerung, freiwillig ins Ausland zu gehen, entstanden ist. Der aus seiner Richtung gebrachte Zug bewegt sich träge vorwärts, dann bleibt er auf einem toten Gleis neben einer kleinen verlassenen Station stehen und erstirbt hier zwischen zwei Streifen Unterholz. Es vergeht ein Tag nach dem anderen. Die Zahl der leeren Konservenbüchsen um unseren Zug wächst. Raben und Krähen versammeln sich in Scharen, um Beute zu suchen. Öde. Einsam. Hasen gibt es hier nicht: im Herbst sind sie durch eine wütende Epidemie ausgerottet worden. Dafür aber hat ein Fuchs seine weichen Spuren bis an den Zug getragen. Die Lokomotive fährt jeden Tag mit einem Waggon zu einer größeren Station, um das Mittagessen und die Zeitungen zu holen. In unserem Wagen herrscht Grippe. Wir lesen wiederholt Anatole France und die Russische Geschichte von Kljutschewski. Ich lerne zum erstenmal Istrati kennen. Der Frost erreicht 38 Grad Réaumur, unsere Lokomotive fährt, um nicht einzufrieren, auf den Schienen spazieren. Im Äther rufen sich Radiostationen an und fragen, wo wir sind. Wir hören diese Fragen nicht, wir spielen Schach. Aber wenn wir sie auch hören würden, könnten wir nicht antworten: in der Nacht hergebracht, wissen wir selber nicht, wo wir uns befinden.

So vergehen zwölf Tage und zwölf Nächte. Aus den Zeitungen erfahren wir von den neuen Verhaftungen einiger hundert Mann, darunter 150 des sogenannten „Trotzkistischen Zentrums“. Es werden folgende Namen genannt: Kawtaradse, der frühere Vorsitzende des Sowjets der Volkskommissare in Georgien, Mdivani, der frühere Handelsvertreter der USSR in Paris, Woronski, unser bester Literaturkritiker, und andere. Alles alte Parteiarbeiter, Führer des Oktoberumsturzes.

Am 8. Februar erklärt Bulanow: „Trotz allem Drängen aus Moskau weigert die deutsche Regierung sich entschieden, Sie nach Deutschland hineinzulassen; mir ist der endgültige Befehl erteilt worden, Sie nach Konstantinopel zu bringen.“ „Ich werde aber nicht freiwillig fahren und dies an der türkischen Grenze erklären.“ „Das wird die Sache nicht ändern, da Sie auf jeden Fall in die Türkei gebracht werden. „ „Ihr habt euch also mit der türkischen Polizei darüber verständigt, daß ich gewaltsam über die Grenze in die Türkei geschafft werde?“ Eine ausweichende Geste: Wir sind nur die Vollstrecker.

Nach zwölf Tagen Stillstehens setzt sich unser Waggon in Bewegung. Unser kleiner Zug wächst, da die Wache zunimmt. Seit Pischpek hatten wir auf dem ganzen Weg keine Möglichkeit mehr gehabt, den Waggon zu verlassen. Wir fahren jetzt mit Volldampf dem Süden zu. Halten, wenn Wasser und Brennstoff aufzunehmen ist, nur auf kleinen Stationen. Diese strengen Vorsichtsmaßnahmen sind getroffen worden in Erinnerung an die Moskauer Demonstration bei meinem Abtransport im Januar 1928. Unterwegs bringen uns die Zeitungen den Widerhall der neuen großen Kampagne gegen die Trotzkisten. Zwischen den Zeilen merkt man den Kampf der Spitzen um meine Ausweisung. Die Stalinsche Fraktion hat es eilig. Sie hat allen Grund dazu. Sie ist aber gezwungen, nicht, nur politische, sondern auch physische Hindernisse zu überwinden. Für den Abtransport aus Odessa war der Dampfer Kalinin bestimmt. Der aber ist eingefroren. Alle Bemühungen der Eisbrecher bleiben erfolglos. Moskau steht am Telegraphendraht und treibt zur Beschleunigung an. Eiligst macht man den Dampfer Iljitsch fahrtbereit. In der Nacht des 10. Februar traf unser Zug in Odessa ein. Ich betrachtete vom Fenster aus die mir bekannten Orte: in dieser Stadt habe ich sieben Schuljahre verbracht. Unser Waggon wurde bis an den Dampfer gefahren. Es herrschte grimmiger Frost. Trotz der tiefen Nacht war der Hafen durch Agenten und Truppen der GPU abgesperrt. Hier mußten wir von unserem jüngeren Sohn und der Schwiegertochter, die in den letzten zwei Wochen unsere Haft geteilt hatten, Abschied nehmen. Als wir aus dem Waggonfenster auf den Dampfer, der für uns bestimmt war, blickten, erinnerten wir uns eines Dampfers, der uns ebenfalls einem Orte zuführte, den wir nicht erwählt hatten. Das war im März 1917, bei Halifax, als mich die englischen Kriegsmatrosen vor den Augen zahlloser Passagiere auf den Armen von dem norwegischen Dampfer Christianiafjord hinuntertrugen. Unsere Familie war damals in der gleichen Zusammensetzung, nur waren alle zwölf Jahre jünger.

Ohne Fracht und ohne Passagiere verließ Iljitsch etwa um ein Uhr nachts den Hafen. 60 Meilen weit bahnte uns ein Eisbrecher den Weg. Der Sturm, der hier gewütet hatte, erfaßte uns nur noch mit seinem letzten Flügelschlag. Den 12. Februar fuhren wir in den Bosporus hinein. Dem türkischen Polizeioffizier, der aufs Schiff kam, die Kontrolle vorzunehmen – außer meiner Familie und den Agenten der GPU waren keine Passagiere auf dem Dampfer –, übergab ich zur Absendung an den Präsidenten der türkischen Republik, Kemal Pascha, folgende Erklärung:

„Sehr geehrter Herr, am Tor von Konstantinopel habe ich die Ehre, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß ich keinesfalls aus eigener Wahl an die türkische Grenze gekommen bin und daß ich diese Grenze nur der Gewalt gehorchend überschreite. Ich bitte Sie, Herr Präsident, meine dementsprechenden Gefühle entgegenzunehmen. L. Trotzki. Den 12. Februar 1929.“

Diese Erklärung hatte keine Folgen. Der Dampfer fuhr in den Hafen ein. Nach einem Weg von zweiundzwanzig Tagen und nachdem wir 6.000 Kilometer zurückgelegt hatten, befanden wir uns in Konstantinopel.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008