Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 8:
Wer leitete den Februaraufstand?

Die Advokaten und Journalisten der durch die Revolution betroffenen Klassen haben nachträglich nicht wenig Tinte verbraucht, um zu beweisen, daß im Februar eigentlich eine Weiberrebellion stattgefunden habe, die dann von der Soldatenmeuterei überdeckt wurde; das eben habe man für eine Revolution ausgegeben. Ludwig XVI. wollte seinerzeit ebenfalls glauben, die Einnahme der Bastille sei eine Rebellion, doch man hat ihm ehrfurchtsvoll beigebracht, daß es eine Revolution sei. Jene, die bei einer Revolution verlieren, sind selten geneigt, ihr ihren rechten Namen zuzugestehen, denn dieser ist, trotz aller Bemühungen wütender Reaktionäre, im historischen Gedächtnis der Menschheit mit der Aureole der Befreiung von alten Ketten und Vorurteilen umgeben. Die Privilegierten aller Jahrhunderte und deren Lakaien haben unentwegt versucht, die Revolution, die sie gestürzt hatte, zum Unterschiede von den früheren, als Wirren, Meuterei oder Pöbelrebellion zu proklamieren. Klassen, die sich überlebt haben, zeichnen sich nie durch Erfindungsgeist aus.

Kurz nach dem 27. Februar unternahm man Versuche, die Februarrevolution mit dem jungtürkischen Militärstreich zu vergleichen, von dem, wie wir wissen, man in den oberen Schichten der russischen Bourgeoisie nicht wenig geträumt hatte. Dieser Vergleich war jedoch derart trostlos, daß er sogar in einem bürgerlichen Blatte eine ernste Zurückweisung fand. Tugan-Baranowski, Nationalökonom, der in seiner Jugend die Marx’sche Schule durchgemacht hatte, eine russische Spielart von Sombart, schrieb am 10. März in der Birschewyje Wedomosti: „Die türkische Revolution bestand in einer siegreichen Erhebung der Armee, die von den Führern vorbereitet und verwirklicht worden war. Die Soldaten waren nur gehorsame Vollstrecker der Absichten ihrer Offiziere. Aber jene Garderegimenter, die am 27. den russischen Thron umgestürzt haben, waren ohne ihre Offiziere erschienen ... Nicht die Armee, sondern die Arbeiter haben den Aufstand begonnen. Nicht Generale, sondern Soldaten sind zur Reichsduma marschiert. Die Soldaten haben die Arbeiter unterstützt, nicht in gehorsamer Ausführung der Befehle ihrer Offiziere, sondern, weil ... sie sich blutsverwandt fühlten mit den Arbeitern, als einer Klasse ebenso werktätiger Menschen wie sie selbst. Die Bauern und die Arbeiter – das sind die zwei sozialen Klassen, die die russische Revolution vollbrachten.“

Diese Worte bedürfen weder einer Berichtigung noch Ergänzung. Die weitere Entwicklung der Revolution hat ihren Sinn zur Genüge bestätigt und bekräftigt.

Der letzte Februartag war in Petrograd der erste Tag nach dem Siege: ein Tag der Begeisterung, der Umarmungen, freudiger Tränen, wortreicher Ergüsse, doch zugleich der Tag der letzten Schläge gegen den Feind. in den Straßen knatterten noch Schüsse. Man erzählte, Protopopows „Pharaonen“, über den Sieg des Volkes nicht unterrichtet, schössen noch weiter von den Dächern. Von unten feuerte man gegen Dachböden, Bodenfenster und Kirchtürme, wo man bewaffnete Phantome des Zarismus vermutete. Um 4 Uhr nachmittags wurde die Admiralität besetzt, wo sich die letzten Reste einstiger Staatsmacht verborgen hielten. Revolutionäre Organisationen und improvisierte Gruppen nahmen in der Stadt Verhaftungen vor. Das Schlüsselburger Zuchthaus wurde ohne einen Schuß genommen. Es schlossen sich der Revolution immer neue und neue Regimenter an: in der Hauptstadt und in der Umgebung.

Der Umsturz in Moskau war nur ein Widerhall des Aufstandes in Petrograd. Die gleichen Stimmungen bei Arbeitern und Soldaten, nur im Ausdruck nicht so kraß. Etwas linkere Stimmungen bei der Bourgeoisie. Eine noch größere Schwäche der revolutionären Organisationen als in Petrograd. Als die Ereignisse an der Newa ihren Anfang nahmen, hielt die Moskauer radikale Intelligenz Beratungen ab, was zu tun sei, und kam zu keinem Entschluß. Erst am 27. Februar begannen in den Moskauer Fabrikbetrieben Streiks, danach folgten Demonstrationen. Die Offiziere sagten den Soldaten in den Kasernen, auf den Straßen meutere Gesindel, das man zur Räson bringen müsse. „Aber jetzt“, erzählt der Soldat Schischilin, „verstanden die Soldaten das Wort Gesindel verkehrt!“ Gegen 2 Uhr nachmittags erschienen vor dem Gebäude der Stadtduma aus verschiedenen Regimentern zahlreiche Soldaten, die Wege suchten, sich der Revolution anzuschließen. Am nächsten Tage wuchsen die Ausstände an. Massen zogen mit Fahnen zur Duma. Der Soldat der Automobil-Kompanie, Muralow, ein alter Bolschewik, Agronom von Beruf, ein großmütiger und tapferer Riese, führte den ersten geschlossenen und disziplinierten Truppenteil zur Duma, der das Radio und andere Punkte besetzte. Acht Monate später wird Muralow die Truppen des Moskauer Militärbezirks kommandieren.

Die Gefängnisse wurden geöffnet. Der gleiche Muralow brachte einen Lastwagen mit befreiten politischen Gefangenen. Die Hand an der Mütze, fragte der Polizeiaufseher den Revolutionär, ob man auch Juden herauslassen solle. Der soeben aus dem Zuchthaus befreite Dserschinski, der die Arrestantenkleider noch nicht gewechselt hatte, trat im Gebäude der Duma auf, wo sich bereits der Sowjet formierte. Der Artillerist Dorofejew wird später erzählen, wie die Arbeiter der Konfektfabrik Siou am 1. März mit Fahnen in der Kaserne der Artilleriebrigade erschienen, sich mit den Soldaten zu verbrüdern, und wie viele sich vor Freude nicht fassen konnten und weinten. Es gab in der Stadt vereinzelte Schüsse aus dem Hinterhalt, im allgemeinen aber weder bewaffnete Zusammenstöße noch Opfer: für Moskau stand Petrograd ein.

In einer Reihe von Provinzstädten begann die Bewegung erst am 1. März, nachdem der Umsturz auch in Moskau bereits vollzogen war. In Twer begaben sich die Arbeiter aus den Betrieben in Demonstrationszügen zu den Kasernen und marschierten, zusammen mit den Soldaten, durch die Straßen der Stadt. Damals sang man noch die Marseillaise und nicht die Internationale. In Nischni-Nowgorod versammelten sich Tausende von Menschen beim Gebäude der Stadtduma, das in den meisten Städten die Rolle des Taurischen Palais spielte. Nach der Rede des Bürgermeisters setzten sich die Arbeiter mit roten Fahnen in Bewegung, die Politischen aus den Gefängnissen zu befreien. Von einundzwanzig Truppenteilen der Garnison gingen schon bis zum Abend achtzehn freiwillig zur Revolution über. In Samara und Saratow fanden Meetings statt, wurden Sowjets der Arbeiterdeputierten gebildet. In Charkow richtete sich der Polizeimeister, der Zeit gefunden hatte, am Bahnhof über den Umsturz Erkundigungen einzuziehen, in seinem Wagen vor der erregten Menge hoch und schrie aus voller Lunge, die Mütze in der Luft schwenkend: „Es lebe die Revolution, hurra!“ Jekaterinoslaw erhielt die Kunde aus Charkow. An der Spitze der Manifestation schritt der Gehilfe des Polizeimeisters, den langen Säbel mit der Hand stützend, wie es bei Paraden an Zarentagen üblich gewesen. Als es endgültig klar war, daß die Monarchie sich nicht mehr erheben werde, begann man in den Regierungsämtern in aller Stille die Zarenporträts herunterzunehmen und auf dem Boden zu verstecken. Solche Anekdoten, wahre und erfundene, gab es nicht wenig in den liberalen Kreisen, die noch den Geschmack an dem scherzhaften Ton in bezug auf die Revolution nicht verloren hatten. Die Arbeiter wie die Soldatengarnisonen erlebten die Ereignisse auf ganz andere Art.

Von einer Reihe anderer Provinzstädte (Pskow, Orel, Rybinsk, Pensa, Kasan, Zarizyn usw.) vermerkt die Chronik unter dem 2. März: „Man erfuhr von dem vollzogenen Umsturz, und die Bevölkerung schloß sich der Revolution an.“ Dieser Bericht gibt, trotz seines summarischen Charakters, das Geschehene im wesentlichen richtig wieder.

In das Dorf flossen die Nachrichten über die Revolution aus den nächsten Städten teils durch die Behörden, hauptsächlich durch die Märkte, die Arbeiter und die Urlauber. Das Dorf nahm den Umsturz langsamer und weniger enthusiastisch auf als die Stadt, aber nicht minder tief: es verband ihn mit Krieg und Land.

Es wäre keine Übertreibung, zu sagen, daß Petrograd die Februarrevolution vollbrachte. Das übrige Land schloß sich ihm an. Nirgends außer in Petrograd gab es Kampf. Im ganzen Lande fanden sich keine Bevölkerungskreise, Parteien, Institutionen oder Truppenteile, die es gewagt hätten, zum Schutze des alten Regimes aufzustehen. Das beweist, wie unbegründet das spätere Gerede der Reaktionäre war, wonach das Schicksal der Monarchie sich anders gestaltet hätte, wenn die Gardekavallerie in Petrograd gewesen wäre oder wenn Iwanow eine zuverlässige Brigade von der Front gebracht hätte. Weder im Hinterlande noch an der Front war eine Brigade oder ein Regiment bereit, sich für Nikolaus II. zu schlagen.

Der Umsturz vollzog sich auf Initiative und durch die Kraft einer Stadt, die etwa ein Fünfundsiebzigstel der gesamten Bevölkerung Rußlands umfaßte. Wenn man will, kann man sagen, der größte demokratische Akt vollzog sich auf die undemokratischste Weise. Das ganze Land war vor eine vollendete Tatsache gestellt. Der Umstand, daß man in der Perspektive mit der konstituierenden Versammlung rechnete, ändert daran nichts, denn die Fristen und die Art der Einberufung der Nationalvertretung wurden von Organen bestimmt, die aus dem siegreichen Petrograder Aufstand hervorgegangen waren. Das wirft ein grelles Licht auf die Frage der Funktion demokratischer Formen im allgemeinen und während revolutionärer Epochen im besonderen. Dem juristischen Fetischismus des Volkswillens haben Revolutionen stets schwere Schläge zugefügt, und zwar um so erbarmungsloser, je tiefer, kühner, demokratischer diese Revolutionen waren.

Es ist oft genug davon gesprochen worden, besonders in bezug auf die Große Französische Revolution, daß die äußerste Zentralisierung der Monarchie später der revolutionären Hauptstadt gestartete, für das ganze Land zu denken und zu handeln. Diese Erklärung ist oberflächlich. Wenn die Revolution zentralistische Tendenzen aufweist, so nicht als Nachahmung der gestürzten Monarchie, sondern infolge der unausweichlichen Bedürfnisse der neuen Gesellschaft, die sich mit Partikularismus nicht vertragen. Wenn die Hauptstadt in der Revolution eine so dominierende Rolle spielt und in gewissen Momenten gleichsam den Willen der Nation in sich konzentriert, dann eben deshalb, weil sie die wesentlichsten Tendenzen der neuen Gesellschaft am krassesten ausdrückt und zu Ende führt. Die Provinz empfindet die Schritte der Hauptstadt als ihre eigenen, aber bereits in die Tat umgesetzten Absichten. Die initiative Rolle der Zentren ist nicht eine Verletzung des Demokratismus, sondern seine dynamische Verwirklichung. Jedoch fiel in großen Revolutionen der Rhythmus dieser Dynamik niemals mit dem Rhythmus der formalen, repräsentativen Demokratie zusammen. Die Provinz schließt sich den Handlungen des Zentrums an, nur mit Verspätung. Bei der eine Revolution charakterisierenden schnellen Entwicklung der Ereignisse führt dies zu scharfen, mit Methoden der Demokratie nicht zu lösenden Krisen des revolutionären Parlamentarismus. In allen wirklichen Revolutionen zerschlug sich die Nationalvertretung unvermeidlich den Kopf an der Dynamik der Revolution, deren Hauptherd die Hauptstadt war. So im siebzehnten Jahrhundert in England, im achtzehnten in Frankreich und im zwanzigsten in Rußland. Die Rolle der Hauptstadt wird nicht durch die Traditionen des bürokratischen Zentralismus, sondern durch die Lage der führenden revolutionären Klasse bestimmt, deren Avantgarde sich naturgemäß in der Hauptstadt konzentriert: das trifft in gleicher Weise für die Bourgeoisie wie für das Proletariat zu.

Als der Februarsieg feststand, ging man an das Zählen der Opfer. In Petrograd wurden ermittelt: 1.443 Tote und Verwundete, darunter 869 Militärpersonen, davon 60 Offiziere. Verglichen mit der Zahl der Opfer einer beliebigen Schlacht der großen Metzelei sind diese erheblichen Zahlen verschwindend gering. Die liberale Presse verkündete die Februarrevolution als eine unblutige. In den Tagen allgemeiner Auflösung der Gefühle und gegenseitigen Amnestierens der patriotischen Parteien unternahm es niemand, die Wahrheit festzustellen. Albert Thomas, der Freund alles Siegreichen, sogar siegreicher Aufstände, schrieb damals von der „allersonnigsten, allerfestlichsten, allerunblutigsten russischen Revolution“. Allerdings in der Hoffnung, sie würde zur Verfügung der französischen Börse bleiben. Aber schließlich hatte nicht Thomas das Pulver erfunden. Am 27. Juni 1789 rief Mirabeau: „Welches Glück, diese große Revolution wird ohne Morde und ohne Tränen auskommen! ... Die Geschichte hat zu lange nur von Raubtiertaten berichtet ... Wir dürfen hoffen, die Geschichte der Menschen zu beginnen.“ Als alle drei Stände sich in der Nationalversammlung vereinigt hatten, schrieben die Vorfahren von Albert Thomas: „Die Revolution ist beendet, sie hat keinen Tropfen Blut gekostet.“ Und man muß zugeben, daß es in jener Periode tatsächlich noch kein Blut gegeben hatte. Anders in den Februartagen. Doch die Legende von der unblutigen Revolution erhielt sich hartnäckig, da es dem Bedürfnis des liberalen Bourgeois entsprach, die Sache so darzustellen, als sei ihm die Macht von selbst zugefallen.

Wenn aber die Februarrevolution auch nicht unblutig gewesen ist, so muß man doch staunen über die geringe Zahl an Opfern, sowohl im Augenblick des Umsturzes als auch besonders in der ersten nachfolgenden Periode. War es doch eine Abrechnung für Sklaverei, Verfolgungen, Hohn und niederträchtige Mißhandlungen, denen die Volksmassen Rußlands jahrhundertelang ausgesetzt gewesen waren! Matrosen und Soldaten rechneten zwar hie und da mit ihren schlimmsten Schindern in Gestalt von Offizieren ab. Doch war die Zahl solcher Vergeltungen verschwindend im Vergleich mit der Zahl der alten blutigen Kränkungen. Die Massen streiften ihre Gutmütigkeit erst bedeutend später ab, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß die herrschenden Klassen alles zurückzuzerren und die Revolution, die sie nicht vollbracht hatten, für sich auszunutzen suchten, wie sie sich stets die Güter des Lebens, die sie nicht erzeugten, anzueignen pflegten.

Tugan-Baranowski hat recht, wenn er sagt, die Februarrevolution hätten die Arbeiter und Bauern vollbracht, die letzteren in der Person des Soldaten. Es bleibt aber die große Frage bestehen, wer hat den Umsturz geleitet? Wer hat die Arbeiter auf die Beine gebracht? Wer die Soldaten auf die Straße geführt? Nach dem Siege wurden diese Fragen Gegenstand von Parteikämpfen. Am einfachsten suchte man sie durch eine Universalformel zu lösen: keiner hat die Revolution geleitet, sie vollzog sich von selbst. Diese „Elementar“-Theorie kam nicht nur jenen Herrschaften sehr gelegen, die gestern noch in aller Ruhe administriert, gerichtet, angeklagt, verteidigt, gehandelt oder kommandiert hatten, heute aber Eile zeigten, sich der Revolution anzubiedern, sondern auch vielen Berufspolitikern und gewesenen Revolutionären, die, nachdem sie die Revolution verschlafen hatten, nun glauben wollten, sie unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht von allen anderen.

In seiner kuriosen Geschichte der russischen Wirren erzählt General Denikin, der ehemalige Höchstkommandierende der Weißen Armee, über den 27. Februar: „An diesem entscheidenden Tage gab es keine Führer, es gab nur entfesselte Elemente. In ihrem zornigen Lauf konnte man weder Ziel, noch Plan, noch Parolen erkennen.“ Der gelehrte Historiker Miljukow schürft nicht tiefer als der General, der eine Schwäche für das Schrifttum hat. Bis zum Umsturz hatte der liberale Führer jeden Gedanken an eine Revolution für eine Eingebung des deutschen Stabes erklärt. Die Lage wurde aber nach dem Umsturz, der die Liberalen an die Macht brachte, verzwickter. Jetzt bestand Miljukows Aufgabe nicht mehr darin, die Revolution mit der Ehrlosigkeit der hohenzollernschen Initiative zu behaften, sondern, im Gegenteil, den Revolutionären die Ehre der Initiative abzusprechen. Der Liberalismus adoptierte vollständig die Theorie vom elementaren und unpersönlichen Charakter des Umsturzes. Mit Sympathie beruft sich Miljukow auf den Halbliberalen, Halbsozialisten Stankewitsch, einen Privatdozenten, der Regierungskommissar beim Hauptquartier des Oberkommandos geworden war. „Die Masse kam von selbst in Bewegung, einem unbewußten, inneren Drange gehorchend ...“, schreibt Stankewitsch über die Februartage. „Mit welcher Parole sind die Soldaten aufgetreten? Wer führte sie, als sie Petrograd eroberten, als sie das Bezirksgericht niederbrannten? Nicht eine politische Idee, nicht eine revolutionäre Parole, nicht eine Verschwörung, nicht eine Rebellion, sondern die elementare Bewegung, die mit einem Male die alte Macht restlos einäscherte.“ Das Elementare erhält hier einen fast mystischen Charakter.

Der gleiche Stankewitsch gibt eine sehr wertvolle Zeugenaussage: „Ende Januar hatte ich Gelegenheit, in einem sehr intimen Kreise Kerenski zu treffen ... Gegenüber der Möglichkeit eines Volksaufstandes verhielten sich alle ausgesprochen ablehnend, aus Furcht, die einmal ausgebrochene Massenbewegung des Volkes könnte in linksradikales Fahrwasser geraten, und dieses würde außerordentliche Schwierigkeiten für die Kriegsführung schaffen.“ Die Ansichten des Kerenskikreises unterschieden sich im wesentlichen nicht von denen der Kadetten. Nicht von dort konnte die Initiative ausgehen.

„Die Revolution schlug wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein“, sagt der Vertreter der sozialrevolutionären Partei, Sensinow. „Wollen wir offen sein: sie kam als eine große und freudige Überraschung auch für uns, Revolutionäre, die lange Jahre für sie gearbeitet und sie stets erwartet hatten.“

Nicht viel besser verhielt sich die Sache mit den Menschewiki. Ein Journalist der bürgerlichen Emigrantenkreise berichtet über seine Begegnung in der Straßenbahn am 24. Februar mit Skobeljew, dem späteren Minister der revolutionären Regierung. „Dieser Sozialdemokrat, einer der Führer der Bewegung, sagte mir, die Unruhen trügen den Charakter von Plünderungen, die man unterdrücken müsse. Das hinderte Skobeljew nicht, einen Monat später zu behaupten, er und seine Freunde hätten die Revolution gemacht.“ Die Farben sind hier sicherlich dick aufgetragen. Doch im wesentlichen ist die Position der legalen Sozialdemokraten, der Menschewiki, ziemlich der Wirklichkeit entsprechend wiedergegeben.

Schließlich sagt ein späterer Führer des linken Flügels der Sozialrevolutionäre; Mstislawski, der dann zu den Bolschewiki überging, von dem Februarumsturz: „Die Revolution hat uns, damalige Parteileute, wie die törichten Jungfrauen des Evangeliums schlafend überrascht.“ Es ist hierbei unwesentlich, wieweit sie Jungfrauen ähnelten, geschlafen haben sie tatsächlich alle.

Wie aber war es mit den Bolschewiki? Das ist uns zum Teil schon bekannt. Hauptleiter der unterirdischen bolschewistischen Organisation in Petrograd waren damals drei Männer: die ehemaligen Arbeiter Schljapnikow und Saluzki und der ehemalige Student Molotow. Schljapnikow, der längere Zeit im Ausland gelebt und mit Lenin in naher Verbindung gestanden hatte, war der politisch reifere und aktivere der drei, die das Büro des Zentralkomitees bildeten. Doch bestätigen die Erinnerungen Schljapnikows selbst am besten, daß das Trio den Ereignissen nicht gewachsen war. Bis zur allerletzten Stunde glaubten die Führer, es handle sich nur um eine revolutionäre Kundgebung, um eine von vielen, nicht aber um einen bewaffneten Aufstand. Der uns bereits bekannte Kajurow, einer der Leiter des Wyborger Bezirkes, behauptet kategorisch: „Direktiven aus den Parteizentren waren absolut nicht zu verspüren ... Das Petrograder Komitee war verhaftet, und der Vertreter des Zentralkomitees, Genosse Schljapnikow, war ohnmächtig, Weisungen für den nächsten Tag zu geben.“

Die Schwäche der unterirdischen Organisationen war die unmittelbare Folge des politischen Vernichtungsfeldzuges, der der Regierung dank der zu Beginn des Krieges herrschenden patriotischen Stimmung ganz besondere Erfolge gebracht harte. Jede Organisation, darunter auch die revolutionäre, besitzt die Tendenz, hinter ihrer sozialen Basis zurückzubleiben. Die unterirdischen Organisationen der Bolschewiki hatten sich zu Beginn des Jahres 1917 von Niedergeschlagenheit und Zersplitterung noch immer nicht erholt, während in den Massen die Pestluft des Patriotismus jäh der revolutionären Empörung Platz machte.

Um ein klareres Bild von der Lage der revolutionären Führung zu erhalten, mußte man sich vergegenwärtigen, daß die autoritärsten Revolutionäre, die Führer der linken Parteien, sich in der Emigration und zum Teil auch in Gefängnissen und Verbannung befanden. Je gefährlicher eine Partei für das alte Regime gewesen war, um so grausamer enthauptet zeigte sie sich zu Beginn der Revolution. Die Narodniki hatten eine Dumafraktion, geführt von dem parteilosen Radikalen Kerenski. Der offizielle Führer der Sozialrevolutionäre, Tschernow, befand sich in der Emigration. Die Menschewiki verfügten in der Duma über eine Parteifraktion mit Tschcheidse und Skobeljew an der Spitze. Martow lebte als Emigrant im Auslande, Dan und Zeretelli in der Verbannung. Um die linken Fraktionen, Narodniki und Menschewiki, gruppierte sich ein großer Teil sozialistischer Intellektueller mit revolutionärer Vergangenheit. Daraus entstand so etwas wie ein politischer Stab, nur in der Art, daß er erst nach dem Siege fähig war, sich zu zeigen. Die Bolschewiki hatten keine Dumafraktion: 5 Arbeiterdeputierte, in denen die zaristische Regierung das organisierende Zentrum der Revolution sah, waren seit den ersten Kriegsmonaten verhaftet. Lenin war in der Emigration, mit ihm Sinowjew. Kamenjew, wie auch die damals nur wenig bekannten führenden Praktiker Swerdlow, Rykow, Stalin, in der Verbannung. Der polnische Sozialdemokrat Dserschinski, der damals noch nicht zu den Bolschewiki gehörte, befand sich in der Katorga. Die zufällig anwesenden Führer hielten weder sich noch andere für fähig, eine leitende Rolle in den revolutionären Ereignissen zu spielen, besonders da sie gewohnt waren, nur unter unbestritten autoritärer Führung zu handeln.

Wenn aber schon die bolschewistische Partei den Aufständischen keine autoritäre Leitung zu sichern vermochte, so konnte bei den übrigen politischen Organisationen davon nicht einmal die Rede sein. Dies unterstützte die verbreitete Meinung vom elementaren Charakter der Februarrevolution. Nichtsdestoweniger ist sie tief irrig, im besten Falle inhaltlos.

Der Kampf dauerte in der Hauptstadt nicht 1 und nicht 2 Stunden, sondern 5 Tage. Die Führer waren bestrebt, ihn einzudämmen. Die Massen antworteten mit verschärftem Ansturm und drangen vorwärts. Sie hatten gegen sich den alten Staat, hinter dessen traditioneller Fassade man noch eine mächtige Kraft vermutete, die liberale Bourgeoisie mit Reichsduma, Semstwo- und Stadtverbänden, Kriegsindustrie-Organisationen, Akademien Universitäten und weitverzweigter Presse; schließlich zwei starke sozialistische Parteien, die dem Druck von unten patriotischen Widerstand entgegensetzten. In der Partei der Bolschewiki hatte der Aufstand die ihm am nächsten stehende, aber enthauptete Organisation, mit zersplitterten Kadern und schwachen illegalen Zellen. Dennoch entbrannte die Revolution, die in jenen Tagen niemand erwartet hatte, und als man oben glaubte, die Bewegung erlösche bereits, sicherte sie sich in schroffem Aufstieg und mächtigen Konvulsionen den Sieg.

Woher diese beispiellose Kraft der Beharrlichkeit und des Ansturmes? Es genügt nicht, auf die Erbitterung zu verweisen. Erbitterung allein wäre zu wenig gewesen. So sehr die Petrograder Arbeiter während der Kriegsjahre durch menschliches Rohmaterial auch verwässert worden waren; so besaßen sie immerhin große revolutionäre Erfahrung. In ihrer Beharrlichkeit und in ihrem Ansturm war, trotz fehlender Leitung und der Gegenwirkung von oben, eine nicht immer ausgesprochene, aber auf Lebenserfahrung begründete Kräftebewertung und selbständige strategische Berechnung.

Am Vorabend des Krieges ging die revolutionäre Schicht der Arbeiter mit den Bolschewiki und führte die Masse hinter sich. Mit Beginn des Krieges änderte sich die Lage schroff: die konservativen Zwischenschichten erhoben den Kopf und rissen einen bedeutenden Teil der Klasse mit sich, die revolutionären Elemente wurden isoliert und verstummten. Im Verlauf des Krieges änderte sich die Situation, anfangs langsam, dann, nach den Niederlagen, schneller und radikaler. Aktive Unzufriedenheit ergriff die gesamte Arbeiterklasse. Zwar war sie bei großen Kreisen noch patriotisch gefärbt, doch hatte das mit dem berechnenden, feigen Patriotismus der besitzenden Klasse nichts gemein, die alle inneren Fragen bis nach dem Siege vertagten. Gerade der Krieg, seine Opfer, seine Schrecken und seine Schande ließen nicht nur die alten, sondern auch die neuen Arbeiterschichten mit dem zaristischen Regime zusammenstoßen, mit neuer Schärfe anprallen und zu der Schlußfolgerung kommen: man darf es nicht länger dulden! Diese Schlußfolgerung war allgemein, sie verband die Massen und verlieh ihnen die gewaltige Kraft des Vorstoßes.

Die Armee quoll auf, Millionen Arbeiter und Bauern in sich aufnehmend. Jeder hatte beim Militär die Seinen: einen Sohn, einen Mann, einen Bruder oder einen anderen Nächsten. Die Armee war nicht mehr wie vor dem Kriege vom Volke abgezäunt. Man kam jetzt mit Soldaten viel mehr zusammen, man begleitete sie, wenn sie zur Front abmarschierten, man lebte mit ihnen, wenn sie auf Urlaub kamen, man unterhielt sich mit ihnen in den Straßen, in den Straßenbahnen über die Front, man besuchte sie in den Lazaretten. Arbeiterviertel, Kaserne, Front und zum großen Teil auch das Dorf wurden miteinander verbundene Gefäße. Die Arbeiter wußten, was der Soldat dachte und fühlte. Sie führten endlose Gespräche über den Krieg, über Menschen, die sich am Kriege bereicherten, über Generale, über Regierung, über Zar und Zarin. Der Soldat sagte über den Krieg: Verflucht sei er! Der Arbeiter antwortete über die Regierung: Verflucht seien sie alle! Der Soldat sagte: Weshalb schweigt ihr hier, im Zentrum? Der Arbeiter antwortete: Mit leeren Händen ist nichts zu machen, schon im Jahre 1905 haben wir uns an der Armee blutig gestoßen. Der Soldat grübelnd: Wenn sich doch alle auf einmal erhöben! Der Arbeiter: Ja, eben alle auf einmal. Solche Gespräche wurden vor dem Kriege von einzelnen geführt und hatten einen konspirativen Charakter. Jetzt sprach man überall so, bei jedem Anlaß und fast offen, mindestens in den Arbeitervierteln.

Der zaristischen Ochrana gelang manchmal eine gute Sondierung. Zwei Wochen vor der Revolution berichtete ein Petrograder Spitzel, der mit dem Spitznamen Krestjaninow unterzeichnete, in seinem Rapport über ein Gespräch in der Straßenbahn, die einen Arbeitervorort kreuzte. Ein Soldat habe erzählt, aus seinem Regiment seien 8 Mann in die Katorga verschickt worden, weil sie sich im Herbst geweigert hätten, auf die Arbeiter der Nobel-Werke zu schießen, und auf die Polizisten schossen. Dieses Gespräch wurde ganz offen geführt, da Polizei und Spitzel es in den Arbeitervierteln vorzogen, unbemerkt zu bleiben. „Wir werden mit ihnen abrechnen“, schloß der Soldat. Der Rapport lautet weiter: „Ein Arbeiter sagte: „Dazu muß man sich organisieren, damit alle wie einer sind.“ Der Soldat antwortete: „Darüber braucht man sich keine Sorgen zu machen, bei uns ist schon längst organisiert ... Sie haben genug Blut getrunken, die Menschen leiden an der Front, sie aber fressen sich hier dicke Fratzen an ... „ Besondere Vorfälle haben sich nicht ereignet. 10. Februar 1917. Krestjaninow.“ > Ein unvergleichliches Spitzel-Epos! „Besondere Vorfälle haben sich nicht ereignet.“ Sie werden sich ereignen, und zwar bald: die Unterhaltung in der Straßenbahn verzeichnet ihr unausbleibliches Nahen.

Den elementaren Charakter des Aufstandes illustriert Mstislawski durch ein bemerkenswertes Beispiel: Als der „Verband der Offiziere des 27. Februar“, der gleich nach dein Umsturz entstanden war, durch eine Umfrage festzustellen versuchte, wer als erster das Wolynski-Regiment auf die Straße geführt hatte, kamen sieben Angaben über sieben Initiatoren dieser entscheidenden Aktion. Es ist höchst wahrscheinlich, möchten wir unsererseits hinzufügen, daß ein Teilchen der Initiative tatsächlich mehreren Soldaten gehörte; wobei nicht ausgeschlossen ist, daß der Hauptinitiator in den Straßenkämpfen fiel, seinen Namen ins Dunkel mitnehmend. Dies aber schmälert das historische Gewicht seiner namenlosen Initiative nicht. Wichtiger ist noch eine andere Seite der Sache, die uns über die Mauern der Kaserne hinausführt. Der Aufstand der Gardebataillone, der zur Überraschung der liberalen und legal-sozialistischen Kreise entbrannte, kam gar nicht unerwartet für die Arbeiter. Ohne deren Aufstand wäre auch das Wolynski-Regiment nicht auf die Straße gegangen. Der Zusammenstoß der Arbeiter mit den Kosaken, den der Advokat von seinem Fenster aus beobachtet und von dem er telephonisch einem Deputierten Mitteilung gemacht hatte, erschien beiden wie die Episode eines unpersönlichen Prozesses: die Heuschrecken der Fabriken sind mit den Heuschrecken der Kaserne zusammengeprallt. Anders aber erschien die Sache dem Kosaken, der es gewagt hatte, dem Arbeiter zuzublinzeln, wie dem Arbeiter, der sofort entschied, der Kosak „hat gut geblinzelt“ ... Das molekulare Ineinanderdringen von Armee und Volk ging ununterbrochen vor sich. Die Arbeiter verfolgten die Temperatur der Armee und fühlten sofort das Nahen des kritischen Punktes. Das verlieh auch dem Ansturm der auf den Sieg vertrauenden Massen diese unwiderstehliche Kraft.

Hier müssen wir die treffende Bemerkung eines liberal en Würdenträgers anführen, der versuchte, das Fazit seiner Februarbeobachtungen zu ziehen: „Es ist üblich, zu sagen: die Bewegung hat elementar begonnen, die Soldaten sind von selbst auf die Straße gegangen. Ich kann dem keinesfalls zustimmen. Was will auch das Wörtchen „elementar“ besagen? ... Die „Urzeugung“ ist in der Soziologie noch unmöglicher als in der Naturwissenschaft. Weil kein revolutionärer Führer von Namen der Bewegung sein Etikett anhängen kann, wird sie nicht unpersönlich, sondern nur namenlos.“ Diese Fragestellung, die unvergleichlich ernster ist als die Hinweise Miljukows auf deutsche Agenten und russische Elementargewalten, gehört einem ehemaligen Staatsanwalt, der im Amte eines zaristischen Senators der Revolution begegnete. Vielleicht hat gerade die Gerichtserfahrung Sawadski erlaubt, zu der Einsicht zu kommen, daß der revolutionäre Aufstand weder auf Kommando ausländischer Agenten, noch als unpersönlicher Naturprozeß entstehen konnte.

Der gleiche Autor führt zwei Episoden an, die es ihm ermöglichten, gleichsam durch das Schlüsselloch ins Laboratorium des Revolutionsprozesses zu blicken. Am Freitag, dem 24. Februar, als oben noch keiner einen Umsturz für die nächsten Tage erwartete, bog die Straßenbahn, in der der Senator saß, plötzlich mit solchem Krach, daß die Scheiben zitterten und eine zerbrach, vom Litejny-Prospekt in eine Nebenstraße ein und blieb stehen. Der Schaffner forderte alle auf, auszusteigen. „Der Wagen wird nicht weiterfahren.“ Die Passagiere protestierten, schimpften, mußten aber aussteigen. „Ich sehe noch jetzt das Gesicht des sich ausschweigenden Schaffners: bös-entschlossen, irgendein Wolfsgesicht.“ Der Straßenbahnverkehr stockte überall, soweit der Blick reichte. Dieser entschlossene Schaffner, an dem der liberale Würdenträger schon das „Wolfsgesicht“ sah, muß ein hochentwickeltes Pflichtbewußtsein besessen haben, um auf der Straße des kaiserlichen Petrograds, während des Krieges, ganz allein den mit Beamten gefüllten Wagen zum Stehen zu bringen. Genau solche Schaffner haben den Wagen der Monarchie zum Stehen gebracht, ungefähr mit den gleichen Worten: „Der Wagen wird nicht weiterfahren!“, und die Bürokratie ausgesetzt, ohne in der Eile große Unterschiede zwischen Gendarmeriegeneralen und liberalen Senatoren zu machen. Der Schaffner vom Litejny-Prospekt war ein bewußter Faktor der Geschichte. Und man mußte ihn vorher erzogen haben.

Während des Brandes des Bezirksgerichts drückte ein liberaler Jurist, aus dem Kreise desselben Senators, auf der Straße sein Bedauern darüber aus, daß das Laboratorium der Gerichtsexpertise und das Notariatsarchiv vernichtet werden. Ein älterer Mann von düsterem Aussehen, dem Äußeren nach ein Arbeiter, erwiderte mürrisch: „Wir werden die Häuser und das Land verteilen können, auch ohne dein Archiv!“ Wahrscheinlich ist die Episode literarisch abgerundet worden. Doch solcherart ältere Arbeiter, die die nötige Abfuhr zu geben wußten, gab es in der Menge nicht wenig. Sie selbst hatten keine Beziehung zur Brandstiftung des Bezirksgerichts: jedenfalls aber konnten solche „Exzesse“ sie keineswegs schrecken. Sie bewaffneten die Massen nicht nur mit den nötigen Ideen gegen die zaristische Polizei, sondern auch gegen die liberalen Juristen, die die größte Angst davor hatten, daß im Feuer der Revolution die Notariatsakten des Eigentums verbrennen könnten. Diese namenlosen Politiker der Fabrik und der Straße waren nicht vom Himmel gefallen: man mußte sie erzogen haben.

Die Ereignisse der letzten Februartage registrierend, bezeichnete auch die Ochrana die Bewegung als „elementar“, das heißt als ohne planmäßige Leitung von oben; doch fügte sie gleich hinzu: „bei der allgemeinen Bearbeitung des Proletariats durch Propaganda.“ Diese Bewertung trifft den Kern: Die berufsmäßigen Kämpfer gegen die Revolution hatten, bevor sie die Zellen der befreiten Revolutionäre besetzten, das Antlitz des sich abwickelnden Prozesses schärfer erkannt als die Führer des Liberalismus.

Die Mystik des Elementaren erklärt nichts. Um die Situation richtig einzuschätzen und den Moment des Ausholens gegen den Feind zu bestimmen, war es notwendig, daß die Masse, ihre führende Schicht, ihre eigenen Ansprüche an die historischen Ereignisse stellte und eigene Kriterien besaß, sie einzuschätzen. Mit anderen Worten, es war nicht die Masse an sich, sondern es war die Masse der Petrograder und der russischen Arbeiter im allgemeinen notwendig, die die Revolution von 1905 erlebt hatte und den Moskauer Dezemberaufstand von 1905, der an dem Semjonowski-Garderegiment zerschellte; es war notwendig, daß es in dieser Masse Arbeiter gegeben hat, die über die Erfahrung von 1905 nachgedacht, die konstitutionellen Illusionen der Liberalen und Menschewiki kritisiert, die Perspektive der Revolution sich angeeignet, Dutzende Male das Problem der Armee überlegt, aufmerksam verfolgt hatten, was in ihrer Umgebung vorging, die fähig waren, aus ihren Beobachtungen revolutionäre Schlüsse zu ziehen und sie den anderen zu vermitteln. Schließlich war notwendig, daß sich bei den Truppenteilen der Garnison fortgeschrittene Soldaten fanden, die in ihrer Vergangenheit von revolutionärer Propaganda erfaßt oder mindestens berührt worden waren.

In jeder Fabrik, in jeder Werkstatt, in jeder Kompanie, in jeder Teestube, im Lazarett, in der Etappe und sogar in dem entvölkerten Dorfe ging eine molekulare Arbeit des revolutionären Gedankens vor sich. Überall gab es Deuter der Ereignisse, hauptsächlich Arbeiter, die man ausfragte, was es Neues gäbe, und von denen man das nötige Wort erwartete. Diese Häupter waren häufig sich selbst überlassen, nährten sich von Bruchteilen revolutionärer Verallgemeinerungen, zu denen sie auf verschiedenen Wegen kamen; selbst in liberalen Zeitungen lasen sie, was sie brauchten, zwischen den Zeilen heraus. Ihr Klasseninstinkt war durch politisches Kriterium geschärft, und führten sie auch nicht immer ihre Ideen zu Ende, so arbeitete ihr Gedanke doch unablässig und beharrlich stets in der gleichen Richtung. Elemente der Erfahrung, der Kritik, der Initiative, der Selbstaufopferung durchdrangen die Masse und bildeten die innere, dem oberflächlichen Blick unerreichbare, aber nichtsdestoweniger entscheidende Mechanik der revolutionären Bewegung als eines bewußten Prozesses.

Den hochmütigen Politikern des Liberalismus und des gezähmten Sozialismus erscheint gewöhnlich alles, was in den Massen geschieht, als instinktiver Prozeß, wie wenn es sich um einen Ameisenhaufen oder Bienenstock handele. Tatsächlich war der Gedanke, der tief in den Arbeitern bohrte, viel kühner, weitsichtiger und bewußter als jener Ideenwulst, mit dem die gebildeten Klassen sich die Zeit vertrieben. Und mehr noch, dieser Gedanke war auch wissenschaftlich begründeter: nicht nur, weil er in großem Maße durch die Methoden des Marxismus befruchtet war, sondern vor allem, weil er sich dauernd von der lebendigen Erfahrung der Massen nährte, denen es bevorstand, bald die revolutionäre Arena zu betreten. Die Wissenschaftlichkeit des Gedankens besteht darin, daß er den objektiven Prozessen entspricht und diese Prozesse zu beeinflussen und zu lenken fähig ist. Besaßen denn die Ideen der regierenden Kreise, die sich an der Apokalypse inspirierten und an die Träume Rasputins glaubten, auch nur im geringsten diese Eigenschaften? Oder waren etwa die Ideen des Liberalismus wissenschaftlich begründet, der da hoffte, daß das rückständige Rußland, indem es an dem Gemetzel der kapitalistischen Giganten teilnahm, fähig werden würde, gleichzeitig den Sieg und den Parlamentarismus zu erringen? Oder vielleicht war das geistige Leben der Intellektuellenkreise wissenschaftlich, die sich sklavisch dem von Kind auf altersschwachen Liberalismus anpaßten, wobei sie ihre scheinbare Selbständigkeit durch längst abgestandene Redensarten schützten? Wahrhaftig, hier herrschte das Reich geistiger Starrheit, der Gespenster, des Aberglaubens, der Fiktionen, wenn man will, das Reich der „Elementargewalt“. Haben wir mithin nicht durchaus das Recht, die liberale Philosophie der Februarrevolution völlig umzukehren? Ja, wir haben das Recht zu sagen: während die offizielle Gesellschaft, dieser ganze vielstöckige Überbau der herrschenden Klassen, Schichten, Gruppen, Parteien und Cliquen, tagein, tagaus in Trägheit und Automatismus lebte, sich die Zeit mit Resten abgenutzter Ideen vertrieb, taub gegen die unabwendbaren Forderungen der Entwicklung, sich von Gespenstervisionen blenden ließ und nichts voraussah, – vollzog sich in den Arbeitermassen ein selbständiger und tiefer Prozeß des Anwachsens nicht nur des Hasses gegen die Herrschenden, sondern auch der kritischen Erkenntnis von deren Ohnmacht, der Anhäufung von Erfahrung und schöpferischer Einsicht, die mit dem revolutionären Aufstand und seinem Siege abschloß.

Auf die oben gestellte Frage: wer hat den Februaraufstand geleitet, können wir folglich mit genügender Bestimmtheit antworten: die aufgeklärten und gestählten Arbeiter, die hauptsächlich von der Partei Lenins erzogen worden waren. Aber wir müssen dabei hinzufügen: diese Leitung genügte, um dem Aufstande den Sieg zu sichern, doch reichte sie nicht aus, um die Führung der Revolution von Anfang an in die Hände der proletarischen Avantgarde zu legen.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003