Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 12:
Das Exekutivkomitee

Was am 27. Februar im Taurischen Palais unter dem Namen Exekutivkomitee des Sowjets der Arbeiterdeputierten entstanden war, hatte im wesentlichen wenig mit diesem Namen gemein. Der Sowjet der Arbeiterdeputierten von 1905, der Stammvater des Systems, war aus dem Generalstreik hervorgegangen. Er repräsentierte unmittelbar die Massen im Kampfe. Die Streikführer wurden Deputierte des Sowjets. Die Auswahl des Personenbestandes vollzog sich im Feuer. Das führende Organ wurde zur weiteren Leitung des Kampfes vom Sowjet gewählt. Gerade das Exekutivkomitee von 1905 war es gewesen, das den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung gestellt hatte.

Die Februarrevolution siegte, dank dem Aufstand der Regimenter, bevor noch die Arbeiter Sowjets geschaffen hatten. Das Exekutivkomitee bildete sich eigenmächtig vor dem Sowjet, unabhängig von den Betrieben und Regimentern, nach dem Siege der Revolution. Wir sehen hier die klassische Initiative der Radikalen, die beim revolutionären Kampfe abseits stehen, aber bereit sind, seine Früchte zu ernten. Die wirklichen Arbeiterführer verließen die Straßen noch nicht, sie entwaffneten die einen, bewaffneten die anderen, befestigten den Sieg. Die Weiterblickenden unter ihnen waren durch die Nachrichten von der Entstehung irgendeines Sowjets der Arbeiterdeputierten im Taurischen Palais sogleich beunruhigt. Wie die liberale Bourgeoisie in Erwartung der Palastrevolution, die irgendwer vollziehen sollte, im Herbst 1916 eine Reserveregierung vorbereitet hatte, um sie im Falle des Gelingens dem neuen Zaren aufzudrängen, so hatten auch die radikalen Intellektuellen im Augenblick des Februarsieges ihre Reserve-Unterregierung gebildet. Und da sie alle, wenigstens in der Vergangenheit, mit der Arbeiterbewegung in Verbindung gewesen und mit deren Traditionen sich zu decken geneigt waren, gaben sie ihrem Kinde den Namen Exekutivkomitee des Sowjets. Das war eine jener halb beabsichtigten Fälschungen, an denen die Geschichte, darunter auch die Geschichte der Volksaufstände, reich ist. Bei einer revolutionären Wendung der Ereignisse und einem Riß in der Nachfolge greifen jene „gebildeten“ Schichten, denen es bevorsteht, sich der Macht anzuschließen, willig zu Namen und Symbolen, die mit den heroischen Erinnerungen der Massen verbunden sind. Worte verschleiern oft das Wesen der Dinge, besonders, wenn dies die Interessen einflußreicher Schichten erfordern. Die riesige Autorität, des Exekutivkomitees stützte sich schon am Tage seiner Entstehung auf seine angebliche Nachfolge des Sowjets von 1905. Das von der ersten chaotischen Versammlung des Sowjets bestätigte Komitee übte dann entscheidenden Einfluß sowohl auf die Zusammensetzung des Sowjets wie auf dessen Politik aus. Dieser Einfluß war um so konservativer, als es eine natürliche Auslese revolutionärer Vertreter, die durch die glühende Atmosphäre des Kampfes gewährleistet wird, nicht mehr gab. Der Aufstand lag bereits im Rücken, alle berauschten sich am Siege, machten Anstalten, sich auf neue Weise einzurichten, die Seelen waren weich, teils auch die Köpfe. Es waren Monate neuer Konflikte und Kämpfe nötig, unter neuen Bedingungen und der sich daraus ergebenden Menschenumschichtung, damit die Sowjets aus Organen, die den Sieg nachträglich gekrönt hatten, zu wahrhaften Organen des Kampfes und der Vorbereitung eines neuen Aufstandes wurden. Wir heben diese Seite der Sache um so mehr hervor, als sie bis jetzt völlig im Schatten geblieben ist.

Jedoch nicht nur die Entstehungsbedingungen des Exekutivkomitees und des Sowjets bestimmten deren gemäßigten und versöhnlerischen Charakter; es waren tiefere und nachhaltigere Ursachen vorhanden, die sich in gleicher Richtung auswirkten.

Soldaten gab es in Petrograd über 150.000 Mann. Arbeiter und Arbeiterinnen aller Kategorien mindestens die vierfache Zahl. Und trotzdem kamen auf zwei Arbeiterdelegierte im Sowjet fünf Soldatendelegierte. Die Normen der Vertretung hatten einen sehr dehnbaren Charakter, man kam den Soldaten auf jede Weise entgegen. Während die Arbeiter einen Vertreter auf tausend wählten, schickten kleinere Truppenteile häufig zwei. Das graue Soldatenbuch wurde der Grundton der Sowjets.

Aber auch die Zivilisten waren lange nicht alle durch Arbeiter gewählt worden. Nicht wenige Menschen gerieten auf persönliche Einladung hin, durch Protektion oder einfach durch ihre Verschlagenheit in den Sowjet, radikale Advokaten und Ärzte, Studenten, Journalisten, die verschiedene problematische Gruppen und am häufigsten den eigenen Ehrgeiz vertraten. Diese offenbare Verfälschung des Charakters des Sowjets wurde von den Leitern gerne geduldet, die nicht abgeneigt waren, die allzu herbe Essenz der Fabriken und Kasernen mit dem lauwarmen Wässerchen des gebildeten Spießertums zu verdünnen. Viele dieser zufällig Daherkommenden, Abenteuersüchtigen, Usurpatoren und an die Tribüne gewöhnten Schwätzer verdrängten mit der Autorität ihrer Ellenbogen für lange die schweigsamen Arbeiter und die unentschlossenen Soldaten.

Wenn sich die Sache schon in Petrograd so verhielt, kann man sich leicht vorstellen, wie es in der Provinz aussah, wo der Sieg ganz ohne Kampf gekommen war. Das ganze Land wimmelte von Soldaten. Die Garnisonen von Kiew, Helsingfors und Tiflis standen zahlenmäßig hinter Petrograd nicht zurück, in Saratow, Samara, Tambow, Omsk standen je 70.000 bis 80.000 Soldaten, in Jaroslaw, Jekaterinoslaw, Jekaterinburg je 60.000, in einer ganzen Reihe von Städten je 50.000, 40.000 und 30.000. Die Sowjetvertretung war in den verschiedenen Orten verschieden aufgebaut, wies aber überall den Soldaten eine privilegierte Stellung zu. Politisch wurde dies hervorgerufen durch das Bestreben der Arbeiter selbst, den Soldaten so weit wie möglich entgegenzukommen. Ebenso gern erwiesen die Führer den Offizieren Entgegenkommen. Außer der bedeutenden Zahl der Leutnants und Fähnriche, die in der ersten Zeit von Soldaten gewählt wurden, bewilligte man häufig, vor allem in der Provinz, dem Kommandobestand besondere Vertreter. Im Resultat hatte das Militär in vielen Sowjets die überwältigende Mehrheit. Die Soldatenmassen, die noch keine Zeit gehabt hatten, sich eine politische Physiognomie anzueignen, bestimmten durch ihre Vertreter die Physiognomie der Sowjets.

Jede Vertretung verbirgt ein Element des Mißverständnisses in sich. Es ist besonders groß am Tage nach einem Umsturz. Als Deputierte politisch unbeholfener Soldaten figurierten in der ersten Zeit den Soldaten und der Revolution völlig fremde Personen, allerhand Intellektuelle und Halbintellektuelle, die sich in den Hinterlandsgarnisonen versteckt hielten und deshalb als extreme Patrioten auftraten. So entstand das Auseinanderklaffen der Stimmung der Kaserne und der der Sowjets. Der Offizier Stankewitsch, dem die Soldaten seines Bataillons nach dem Umsturze finster und mißtrauisch begegneten, konnte in der Soldatensektion erfolgreich zum akuten Thema, über Disziplin, sprechen. „Warum sind die Stimmungen im Sowjet“, fragte er sich, „milder und angenehmer als beim Bataillon?“ Diese naive Ahnungslosigkeit beweist zum Überfluß, wie schwer es für die wahren Gefühle der unteren Schichten ist, sich einen Weg nach oben zu bahnen.

Nichtsdestoweniger begannen die Meetings der Soldaten und Arbeiter schon seit dem 3. März vom Sowjet zu fordern, unverzüglich die Provisorische Regierung der liberalen Bourgeoisie zu beseitigen und die Macht selbst in die Hand zu nehmen. Die Initiative gehörte auch hier dem Wyborger Bezirk. Konnte es auch eine Forderung geben, die den Massen verständlicher und näher gewesen wäre? Aber diese Agitation brach bald ab: nicht nur deshalb, weil die Vaterlandsverteidiger sie scharf zurückwiesen; schlimmer war, daß die bolschewistische Führung in der ersten Märzhälfte sich faktisch vor dem Regime der Doppelherrschaft beugte. Außer den Bolschewiki aber konnte niemand die Machtfrage auf die Spitze treiben. Die Wyborger Führer mußten den Rückzug antreten. Die Petrograder Arbeiter schenkten indes der neuen Regierung nicht eine Stunde Vertrauen und betrachteten sie nicht als die ihre. Doch horchten sie wachsam auf die Soldaten, bemüht, sich zu ihnen nicht zu schroff in Widerspruch zu stellen. Die Soldaten dagegen, die eben die ersten Sätze der Politik silbenweise entzifferten, trauten zwar nach Bauernart den Herren nicht, horchten aber aufmerksam auf ihre Vertreter, die ihrerseits ehrerbietig auf die autoritativen Häupter des Exekutivkomitees horchten; was die letzteren betrifft, so taten sie nichts anderes, als auf den Puls der liberalen Bourgeoisie zu horchen. Auf diesem Horchen von unten nach oben hielt sich eben alles – bis auf weiteres.

Doch die Stimmung der unteren Schichten brachen nach außen, und die künstlich abgesetzte Machtfrage drängte sich jedesmal vor, wenn auch in maskierter Form. „Die Soldaten wissen nicht, auf wen zu hören ist“, klagten Bezirke und Provinz, auf diese Weise die Unzufriedenheit mit der Doppelherrschaft dem Exekutivkomitee bekanntgebend. Die Delegationen der Baltischen und der Schwarzmeer-Flotte erklärten am 16. März, sie seien bereit, der Provisorischen Regierung in dem Maße Rechnung zu tragen, in dem diese mit dem Exekutivkomitee zusammengehen werde. Mit anderen Worten, sie hatten vor, mit ihr überhaupt nicht zu rechnen. Je weiter, um so beharrlicher klingt diese Note. „Armee und Bevölkerung haben nur den Anordnungen des Sowjets Folge zu leisten“, bestimmt das 172. Reserveregiment und formuliert sogleich das umgekehrte Theorem: „Befehlen der Provisorischen Regierung, die den Beschlüssen des Sowjets widersprechen, ist nicht Folge zu leisten.“ Mit gemischten Gefühlen von Befriedigung und Besorgnis sanktionierte das Exekutivkomitee diesen Zustand. Mit Zähneknirschen duldete ihn die Regierung. Beiden blieb nichts anderes übrig.

Schon Anfang März entstehen Sowjets in allen wichtigen Städten und Industriezentren. Von dort aus verbreiten sie sich während der nächsten Wochen über das ganze Land. Das Dorf beginnen sie erst im April–Mai zu erfassen. Im Namen der Bauernschaft spricht anfangs hauptsächlich die Armee.

Das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets erhielt natürlicherweise gesamtstaatliche Bedeutung. Die übrigen Sowjets richteten sich nach der Hauptstadt und faßten einer nach dem andern Beschlüsse über die bedingte Unterstützung der Provisorischen Regierung. Obwohl sich in den ersten Monaten die Beziehungen zwischen dem Petrograder Sowjet und denen der Provinz reibungslos herausbildeten, ohne Konflikte und ernstliche Mißverständnisse, ergab sich die Notwendigkeit einer gesamtstaatlichen Organisation aus der ganzen Lage. Einen Monat nach der Niederwerfung des Selbstherrschertums wurde die erste Konferenz der Sowjets einberufen, sie war unvollständig und in ihrer Zusammensetzung einseitig. Obwohl von den 185 vertretenen Organisationen zwei Drittel den lokalen Sowjets gehörten, waren es doch vorwiegend Soldatensowjets; zusammen mit den Vertretern der Frontorganisationen hatten die Delegierten der Armee, hauptsächlich Offiziere, die erdrückende Mehrheit. Es ertönten Reden vom Krieg bis zum siegreichen Ende und Zurechtweisungen an die Adresse der Bolschewiki, trotz deren mehr als maßvollem Benehmen. Die Konferenz ergänzte das Petrograder Exekutivkomitee durch 16 konservative Provinzler und legte so seinen gesamtstaatlichen Charakter fest.

Der rechte Flügel war noch mehr gefestigt worden. Von nun an schreckte man die Unzufriedenen immer häufiger mit der Provinz. Die Bestimmung über die Regelung der Zusammensetzung des Petrograder Sowjets, angenommen noch am 14. März, wurde fast nicht durchgeführt. Beschlüsse würden ja doch nicht vom lokalen Sowjet gefaßt, sondern vom Allrussischen Exekutivkomitee. Die offiziellen Führer nahmen eine fast unnahbare Position ein. Wichtigere Beschlüsse wurden im Exekutivkomitee, richtiger in seinem regierenden Kern getroffen, nach vorheriger Übereinkunft mit dem Kern der Regierung. Der Sowjet stand beiseite. Man behandelte ihn wie ein Meeting: „Nicht dort, nicht in den Vollversammlungen wird die Politik gemacht, und alle diese „Plenums“ haben nicht die geringste praktische Bedeutung“ (Suchanow). Die selbstzufriedenen Vollstrecker der Geschicke waren der Ansicht, die Sowjets hätten, nachdem sie ihnen die Führung anvertraut, eigentlich ihre Rolle erfüllt. Die nächste Zukunft wird zeigen, daß dem nicht so war. Die Masse kann sehr geduldig sein, aber sie ist keineswegs Lehm, den man nach Belieben kneten kann. Und in revolutionären Epochen lernt sie schnell. Darin besteht eben die wesentliche Stärke der Revolution.

Um die weitere Entwicklung der Ereignisse besser zu verstehen, muß man bei der Charakteristik jener zwei Parteien verweilen, die seit dem Beginn der Revolution einen engen Block geschlossen hatten, in den Sowjets, den demokratischen Munizipalitäten, auf den Kongressen der sogenannten revolutionären Demokratie herrschten und sogar ihre, allerdings mehr und mehr dahinschmelzende Mehrheit hinüberretteten bis zur Konstituierenden Versammlung, die zum letzten Abglanz ihrer entschwundenen Macht wurde, wie die Abendröte auf einem Berggipfel noch leuchtet von der untergegangenen Sonne.

Kam die russische Bourgeoisie zu spät, um demokratisch zu sein, so wollte sich die russische Demokratie aus demselben Grunde als sozialistisch betrachten. Die demokratische Ideologie hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts hoffnungslos verausgabt. An der Grenze des 20. war für die russische radikale Intelligenz, wollte sie Zugang zu den Massen finden, eine sozialistische Färbung notwendig. Das ist die allgemeine historische Ursache, die zur Entstehung der Mittelparteien führte: der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre. Jede von ihnen hatte indes ihre eigene Genealogie und ihre eigene Ideologie.

Die Ansichten der Menschewiki erwuchsen auf marxistischer Basis. Infolge der nämlichen historischen Verspätung Rußlands wurde hier der Marxismus anfänglich nicht so sehr Kritik der kapitalistischen Gesellschaft wie Begründung der Unvermeidlichkeit der bürgerlichen Entwicklung des Landes. Die Geschichte hat, als sie es bräuchte, die kastrierte Theorie der proletarischen Revolution geschickt dazu benutzt, um mit ihrer Hilfe breite Kreise muffiger Narodniki-Intellektueller in bürgerlichem Geiste zu europäisieren. Den Menschewiki wurde in diesem Prozeß ein großer Platz zugewiesen. Den linken Flügel der bürgerlichen Intelligenz bildend, verbanden sie diese mit den gemäßigtsten Zwischenschichten jener Arbeiter, die zur legalen Arbeit in der Duma und in den Gewerkschaften neigten.

Die Sozialrevolutionäre hingegen bekämpften, ihm teilweise erliegend, theoretisch den Marxismus. Sie hielten sich für die Partei, die das Bündnis zwischen Intelligenz, Arbeitern und Bauern verwirklichte, selbstverständlich unter Leitung der kritischen Vernunft. Auf ökonomischem Gebiet stellten ihre Ideen einen unverdaulichen Mischmasch verschiedener historischer Schichtungen dar, die die Gegensätze in den Daseinsbedingungen der Bauernschaften und die des in schneller kapitalistischer Entwicklung befindlichen Landes widerspiegelten. Die zukünftige Revolution dachten sich die Sozialrevolutionäre weder als bürgerlich noch als sozialistisch, sondern als „demokratisch“: den sozialen Inhalt ersetzten sie durch eine politische Formel. Sie zeichneten sich auf diese Weise einen Weg vor zwischen Bourgeoisie und Proletariat, folglich auch die Rolle eines Schiedsrichters über beide. Nach dem Februar konnte es scheinen, die Sozialrevolutionäre seien einer solchen Stellung sehr nahe gekommen.

Noch von der ersten Revolution her hatten sie Wurzeln in der Bauernschaft. In den ersten Monaten des Jahres 1917 machte sieh die gesamte Dorfintelligenz die traditionelle Formel der Narodniki zu eigen: „Land und Freiheit.“ Zum Unterschiede von den Menschewiki, die stets eine reine Stadtpartei geblieben waren, schienen die Sozialrevolutionäre im Dorf eine mächtige Stütze gefunden zu haben. Noch mehr, sie hatten auch in der Stadt die Vorherrschaft: sowohl in den Sowjets durch die Soldatensektionen, wie in den ersten demokratischen Munizipalitäten, wo sie die absolute Stimmenmehrheit besaßen. Die Macht der Partei schien unbegrenzt. In Wirklichkeit war es nur eine politische Verirrung. Eine Partei, für die alle stimmen, außer jener Minderheit, welche weiß, für wen sie zu stimmen hat, ist keine Partei, wie die Sprache, in der die Säuglinge aller Länder sprechen, keine nationale Sprache ist. Die Partei der Sozialrevolutionäre trat auf als die feierliche Bezeichnung für all das, was an der Februarrevolution unreif, ungeformt und wirr war. Jeder, der von der vorrevolutionären Vergangenheit keine genügenden Gründe geerbt hatte, für Kadetten oder Bolschewiki zu stimmen, stimmte für die Sozialrevolutionäre. Doch die Kadetten standen im geschlossenen Lager der Besitzenden. Die Bolschewiki aber waren noch gering an Zahl, unverständlich und sogar furchterweckend. Die Wahl der Sozialrevolutionäre bedeutete die Wahl der Revolution im großen und ganzen und verpflichtete zu nichts. In den Städten bedeutete sie das Bestreben der Soldaten, sich der Partei anzunähern, die zu den Bauern steht, das Bestreben des rückständigen Teiles der Arbeiter, sich näher an die Soldaten zu halten, das Bestreben des städtischen Kleinvolkes, sich von den Soldaten und Bauern nicht zu entfernen. In jener Periode war die Mitgliedskarte des Sozialrevolutionärs vorübergehend eine Anweisung auf das Recht, die Institutionen der Revolution zu betreten, und behielt ihre Kraft bis zum Austausch gegen eine andere Karte von ernsterem Charakter. Nicht zu Unrecht wurde von der großen Partei, die alles und alle erfaßte, gesagt, sie sei nur eine grandiose Null.

Bereits seit der ersten Revolution leiteten die Menschewiki die Notwendigkeit eines Bündnisses mit den Liberalen aus dem bürgerlichen Charakter der Revolution ab und stellten dieses Bündnis über die Zusammenarbeit mit der Bauernschaft, als einem unzuverlässigen Verbündeten. Die Bolschewiki dagegen bauten die ganze Perspektive der Revolution auf dem Bündnis von Proletariat und Bauernschaft gegen die liberale Bourgeoisie. Da die Sozialrevolutionäre sich vor allem für eine Bauernpartei hielten, so hätte man, könnte es scheinen, in der Revolution ein Bündnis zwischen Bolschewiki und Narodniki als Gegengewicht zum Bündnis der Menschewiki und liberalen Bourgeoisie erwarten dürfen. In Wirklichkeit sehen wir in der Februarrevolution die entgegengesetzte Gruppierung: Menschewiki und Sozialrevolutionäre treten in engstem Bündnis auf, das durch ihren Block mit der liberalen Bourgeoisie ergänzt wird. Die Bolschewiki sind auf dem offiziellen Feld der Politik völlig isoliert.

Diese auf den ersten Blick unerklärliche Tatsache ist in Wirklichkeit ganz gesetzmäßig. Die Sozialrevolutionäre waren keinesfalls eine Bauernpartei, trotz der allgemeinen Sympathien des Dorfes für ihre Parolen. Der grundlegende Kern der Partei, jener, der ihre wirkliche Politik bestimmte und aus seiner Mitte Minister und Beamte stellte, war viel mehr mit den liberalen und radikalen Kreisen der Stadt verbunden als mit den rebellierenden Bauernmassen. Dieser führende Kern, der infolge des Zustroms von ehrgeizigen Märzsozialrevolutionären ungeheurer angeschwollen war, bekam Todesangst vor dem Schwung der Bauernbewegung, die unter sozialrevolutionären Parolen ging. Die neugebackenen Narodniki wünschten freilich den Bauern alles Gute, aber den roten Hahn wollten sie nicht. Der Schrecken der Sozialrevolutionäre vor dem aufständischen Dorf geht parallel mit dem Schrecken der Menschewiki vor dem Vorstoß des Proletariats; in seiner Gesamtheit war der demokratische Schreck ein treues Abbild der vollkommen realen Gefahr, die die Bewegung der Unterdrückten den besitzenden Klassen brachte und diese zu einem einigen Lager bürgerlich-gutsherrlicher Reaktion zusammenschweißte. Der Block der Sozialrevolutionäre mit der Regierung des Gutsbesitzers Lwow kennzeichnete ihren Bruch mit der Agrarrevolution, wie der Block der Menschewiki mit den Industriellen und Bankiers vom Typ der Gutschkow Tereschtschenko und Konowalow deren Bruch mit der proletarischen Bewegung gleichkam. Das Bündnis zwischen Menschewiki und Sozialrevolutionären bedeutete unter diesen Umständen nicht die Zusammenarbeit von Proletariat und Bauernschaft, sondern eine Koalition von Parteien, die zugunsten eines Blocks mit den besitzenden Klassen mit Proletariat und Bauernschaft gebrochen hatten.

Aus dem Dargelegten ist klar, wie fiktiv der Sozialismus der beiden demokratischen Parteien war; aber das heißt noch nicht, daß ihr Demokratismus echt war. Im Gegenteil, gerade die Saftlosigkeit des Demokratismus erforderte eben die sozialistische Maskierung. Das russische Proletariat führte den Kampf um Demokratie in unversöhnlichem Antagonismus zur liberalen Bourgeoisie. Die demokratischen Parteien, die im Blocke mit der liberalen Bourgeoisie waren, mußten unvermeidlich mit dem Proletariat in Konflikt geraten. Dies sind die sozialen Wurzeln des weiteren erbitterten Kampfes zwischen den Versöhnlern und den Bolschewiki.

Führt man die oben umrissenen Prozesse auf ihre nackte Klassenmechanik zurück, deren sich die Teilnehmer und sogar die Führer der beiden Versöhnlerparteien allerdings nicht restlos bewußt wurden, so entsteht etwa folgende Verteilung der historischen Funktionen. Die liberale Bourgeoisie vermochte die Massen bereits nicht mehr zu gewinnen. Darum fürchtete sie die Revolution. Aber die Revolution war für die bürgerliche Entwicklung notwendig. Von der Großbourgeoisie trennten sich zwei Abteilungen ab, die aus deren jüngeren Brüdern und Söhnen bestanden. Die eine Abteilung begab sich zu den Arbeitern, die andere zu den Bauern. Sie trachteten die einen wie die anderen an sich zu ziehen, indem sie aufrichtig und leidenschaftlich zu beweisen suchten, sie seien Sozialisten. Auf diese Weise gewannen sie tatsächlich bedeutenden Einfluß im Volke. Aber sehr bald waren die Auswirkungen ihrer Ideen ihnen über den Kopf gewachsen. Die Bourgeoisie empfand die tödliche Gefahr und gab das Alarmsignal. Die von ihr abgetrennten Abteilungen, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, beantworteten einmütig den Zuruf des Familienältesten. Über die alten Meinungsverschiedenheiten hinwegschreitend, stellten sie sich Schulter an Schulter auf und stürzten, den Massen den Rücken zugekehrt, der bürgerlichen Gesellschaft zu Hilfe.

Sogar verglichen mit den Menschewiki verblüfften die Sozialrevolutionäre durch Schwammigkeit und Welkheit. Den Bolschewiki erschienen sie in allen wichtigen Augenblicken einfach als Kadetten dritter Sorte. Den Kadetten galten sie als drittklassige Bolschewiki. Den Platz der zweiten Sorte nahmen in beiden Fällen die Menschewiki ein. Die schwankende Basis und die Formlosigkeit der Ideologie führten zu einer entsprechenden Menschenauslese: alle sozialrevolutionären Führer trugen den Stempel der Unfertigkeit, Oberflächlichkeit und sentimentalen Unzuverlässigkeit. Man kann ohne jede Übertreibung sagen: ein Durchschnittsbolschewik bewies in der Politik, das heißt in den Klassenbeziehungen, mehr Scharfsinn als die berühmtesten sozialrevolutionären Führer.

Bar fester Kriterien, neigten die Sozialrevolutionäre zu ethischen Imperativen. Man braucht nicht zu beweisen, daß moralische Prätentionen sie nicht hinderten, in der großen Politik kleine Gaunereien zu begehen, was im allgemeinen charakteristisch ist für Mittelparteien ohne feste Basis, klare Doktrin und wahren sittlichen Kern.

Im Blocke der Menschewiki und Sozialrevolutionäre gehörte der führende Platz den Menschewiki, trotz der fraglos zahlenmäßigen Überlegenheit der Sozialrevolutionäre. In dieser Rollenverteilung äußerte sich auf ihre Weise die Hegemonie der Stadt über das Dorf, das Übergewicht der städtischen Kleinbourgeoisie über die ländliche, schließlich die geistige Überlegenheit der „marxistischen“ Intelligenz über die Intelligenz, die sich an die echtrussische Soziologie hielt und auf die Dürftigkeit der alten russischen Geschichte stolz war.

In den ersten Wochen nach dem Umsturz hatte, wie wir wissen, keine der linken Parteien in der Hauptstadt ihren wirklichen Stab. Die allgemein anerkannten Führer der sozialistischen Parteien befanden sich in der Emigration. Die Führer zweiten Ranges waren vom Fernen Osten nach dem Zentrum unterwegs. Das erzeugte bei den jeweiligen Häuptern eine behutsame und abwartende Stimmung, die sie näher aneinanderstieß. Nicht eine der leitenden Gruppen führte in jenen Wochen ihre Gedanken zu Ende. Der Kampf der Parteien im Sowjet trug einen äußerst friedlichen Charakter: es war, als ginge es um Schattierungen innerhalb ein und derselben „revolutionären Demokratie“. Allerdings vollzog die Leitung der Sowjets mit der Ankunft Zeretellis aus der Verbannung (19. März) eine schroffe Wendung nach rechts, in die Richtung der direkten Verantwortung für die Regierung und den Krieg. Doch auch die Bolschewiki schwenkten Mitte März unter dem Einfluß der aus der Verbannung angekommenen Kamenjew und Stalin schroff nach rechts, so daß die Distanz zwischen der Sowjetmehrheit und der linken Opposition Anfang April wohl geringer war als Anfang März. Die eigentliche Differenzierung begann etwas später. Man kann sogar ihr genaues Datum nennen: am 4. April, dem Tag nach der Ankunft Lenins m Petrograd.

Die Partei der Menschewiki hatte an den Spitzen ihrer verschiedenen Richtungen eine Reihe hervorragender Gestalten, aber nicht einen revolutionären Führer. Der äußerste rechte Flügel, vertreten durch die alten Lehrer der russischen Sozialdemokratie, Plechanow, Wera Sassulitsch, Deutsch, stand schon unter dem Selbstherrschertum auf der patriotischen Position. Gerade am Vorabend der Februarrevolution schrieb Plechanow, der sich selbst jämmerlich überlebte, in einer amerikanischen Zeitung, Streiks und andere Kampfesarten der Arbeiter in Rußland wären jetzt ein Verbrechen. Breitere Kreise der alten Menschewiki, darunter Gestalten wie Martow, Dan, Zeretelli, zählten sich zum Lager von Zimmerwald und lehnten die Verantwortung für den Krieg ab. Doch der Internationalismus der linken Menschewiki wie der der linken Sozialrevolutionäre war in den meisten Fällen eine Deckung für ihre demokratisch-oppositionelle Stellung. Die Februarrevolution versöhnte die Mehrheit dieser „Zimmerwalder“ mit dem Krieg, in dem sie von nun an die Verteidigung der Revolution entdeckten. Mit der größten Entschlossenheit betrat diesen Weg Zeretelli, der Dan und andere hinter sich herzog. Martow, der den Beginn des Krieges in Frankreich erlebte und erst am 9. Mai aus dem Ausland eintraf, konnte nicht übersehen, daß seine gestrigen Gesinnungsgenossen nach der Februarrevolution dort angelangt waren, wo Guesde, Sembat und andere im Jahre 1914 begonnen hatten, als sie die Verteidigung der bürgerlichen Republik gegen den deutschen Absolutismus auf sich nahmen. Sich an die Spitze des linken Flügels der Menschewiki stellend, dem es nicht gelang, sich zu irgendeiner ernsten Rolle in der Revolution zu erheben, blieb Martow in Opposition zu der Politik Zeretelli-Dan, wobei er gleichzeitig der Annäherung der linken Menschewiki an die Bolschewiki entgegenwirkte. Im Namen des offiziellen Menschewismus trat Zeretelli auf, hinter dem eine unbestrittene Mehrheit stand: die vorrevolutionären Patrioten vereinigten sich mühelos mit den Patrioten des Februaraufgebots. Plechanow hatte allerdings seine eigene, ganz chauvinistische Gruppe, die außerhalb der Partei und sogar außerhalb des Sowjets stand. Martows Fraktion, die die gemeinsame Partei nicht verließ, hatte keine eigene Zeitung, wie sie auch keine eigene Politik besaß. Wie stets während großer historischer Ereignisse, verlor Martow hoffnungslos den Kopf und hing in der Luft. Im Jahre 1917, wie im Jahre 1905, hat die Revolution diesen hervorragenden Menschen fast nicht bemerkt.

Zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets und später des Zentral-Exekutivkomitees wurde fast automatisch der Vorsitzende der menschewistischen Dumafraktion, Tschcheidse. Er war bestrebt, den ganzen Vorrat seiner Gewissenhaftigkeit in seine Pflichten hineinzutragen, wobei er seine stete Unsicherheit durch eine simple Scherzhaftigkeit verschleierte. Auf ihm lag der unauslöschliche Stempel seiner Provinz. Das bergige Georgien, das Land der Sonne, der Weingärten, Bauern und des Kleinadels, mit einem geringen Prozent von Arbeitern, hat eine breite Schicht linker Intellektueller hervorgebracht, die, geschmeidig, temperamentvoll, sich jedoch in ihrer erdrückenden Mehrheit nicht über den kleinbürgerlichen Horizont erhob. In alle vier Dumas schickte Georgien Menschewiki als Deputierte, und in allen vier Fraktionen spielten seine Deputierten die Rolle von Führern. Georgien wurde die Gironde der Russischen Revolution. Beschuldigte man die Girondisten des 18. Jahrhunderts des Föderalismus, so endeten die Girondisten Georgiens, die mit der Verteidigung des einen und unteilbaren Rußlands begonnen hatten, beim Separatismus.

Die markanteste Figur, die die georgische Gironde hervorgebracht hat, war zweifellos der ehemalige Deputierte der zweiten Duma, Zeretelli, der sogleich nach seiner Ankunft aus der Verbannung nicht nur das Haupt der Menschewiki, sondern der gesamten damaligen Sowjetmehrheit wurde. Weder Theoretiker noch Journalist, aber hervorragender Redner, war und blieb Zeretelli der Radikale von südfranzösischem Typus. Unter den Bedingungen parlamentarischer Routine würde er sich wie ein Fisch im Wasser gefühlt haben. Doch er war in einer revolutionären Epoche geboren und hatte sich in seiner Jugend mit einer Dosis Marxismus vergiftet. Jedenfalls entwickelte er bei revolutionären Ereignissen von allen Menschewiki den größten Schwung und das Bestreben, konsequent zu sein. Gerade deshalb hat er mehr als die anderen zum Zusammenbruch des Februarregimes beigetragen. Tschcheidse unterwarf sich ihm ganz, wenn er auch in gewissen Augenblicken Angst bekam vor dessen doktrinärer Geradlinigkeit, die den gestrigen revolutionären Zuchthäusler den konservativen Vertretern der Bourgeoisie annäherte.

Der Menschewik Skobeljew, der seine frische Popularität der Stellung als Deputierter der letzten Duma verdankte, machte, nicht nur infolge seines jugendlichen Aussehens, den Eindruck eines Studenten, der auf einer Hausbühne die Rolle eines Staatsmannes spielt. Skobeljew spezialisierte sich auf das Löschen von „Exzessen“, Beseitigung lokaler Konflikte und überhaupt auf praktische Verkleisterung der Risse der Doppelherrschaft, bis er im Mai in der unglückseligen Rolle eines Arbeitsministers in die Koalitionsregierung geriet.

Eine einflußreichere Figur unter den Menschewiki war Dan, ein alter Parteiarbeiter, der stets als die zweite Person nach Martow galt. Wenn Sitten und Geist der deutschen Sozialdemokratie der Niedergangsepoche dem Menschewismus überhaupt in Fleisch und Blut eingegangen waren, so schien Dan nachgerade ein Mitglied der deutschen Parteileitung zu sein, ein Ebert kleineren Formats. Der deutsche Dan hat ein Jahr später in Deutschland erfolgreich jene Politik durchgeführt, die dem russischen Ebert in Rußland mißlungen war. Der Grund lag allerdings nicht in den Menschen, sondern in den Verhältnissen.

War die erste Geige im Orchester der Sowjetmehrheit Zeretelli, so spielte auf schriller Klarinette mit blutunterlaufenen Augen Liber aus aller Lungenkraft. Das war ein Menschewik aus dem jüdischen Arbeiterbund (Bund), mit langer revolutionärer Vergangenheit, sehr aufrichtig, sehr temperamentvoll, sehr beredt, sehr beschränkt und leidenschaftlich bestrebt, sich als unbeugsamer Patriot und eiserner Staatsmann zu zeigen. Liber verzehrte sich buchstäblich in Haß gegen die Bolschewiki.

Die Phalanx menschewistischer Führer kann man mit dem ehemaligen ultralinken Bolschewiki Wojtinski abschließen, einem angesehenen Teilnehmer der ersten Revolution, der die Katorga hinter sich hatte und im März auf dem Boden des Patriotismus mit der Partei brach. Nachdem er sich den Menschewiki angeschlossen hatte, wurde Wojtinski, wie es sich gehört, professioneller Bolschewikenfresser. Ihm fehlte nur das Temperament, um in der Hetze gegen seine früheren Gesinnungsgenossen es mit Liber aufnehmen zu können.

Der Stab der Narodniki war ebensowenig einheitlich, aber bei weitem nicht so bedeutend und farbig. Die sogenannten Volkssozialisten, die die äußerste rechte Flanke bildeten, führte der alte Emigrant Tschajkowski, der in seinem kämpferischen Chauvinismus Plechanow glich, ohne dessen Talente oder dessen Vergangenheit zu besitzen. Neben ihm stand die alte Breschko-Breschkowskaja, die die Sozialrevolutionäre Großmutter der Russischen Revolution nannten, die sich aber eifrig als Taufmutter der russischen Konterrevolution vordrängte. Der betagte Anarchist Kropotkin, der aus seiner Jugend eine Schwäche für die Narodniki behalten hatte, benutzte den Krieg, um all das zu desavouieren, was er fast ein halbes Jahrhundert gelehrt hatte: der Staatsverneiner unterstützte die Entente, und wenn er die russische Doppelherrschaft verurteilte, so nicht im Namen der Herrschaftslosigkeit, sondern im Namen der Alleinherrschaft der Bourgeoisie. Diese Alten spielten jedoch eher eine dekorative Rolle, wenn auch Tschajkowski später, im Kriege gegen die Bolschewiki, an der Spitze einer der weißen Regierungen stand, die von Churchill ausgehalten wurden.

Den ersten Platz unter den Sozialrevolutionären, allen anderen weit voran, aber nicht in der Partei, sondern über der Partei, nahm Kerenski ein, ein Mann ohne jegliche Parteivergangenheit. Wir werden im weiteren mehr als einmal dieser von der Vorsehung erkorenen Figur begegnen, deren Stärke in der Periode der Doppelherrschaft die Verbindung der Schwächen des Liberalismus mit den Schwächen der Demokratie bildete. Der formelle Eintritt in die Partei der Sozialrevolutionäre änderte nichts an Kerenskis verächtlichem Verhalten zu Parteien im allgemeinen: er hielt sich für den unmittelbar Auserwählten der Nation. Aber auch die sozialrevolutionäre Partei hatte ja zu jener Zeit aufgehört, eine Partei zu sein, und war eine grandiose, wahrhaft nationale Null. In Kerenski fand sie den ihr adäquaten Führer.

Der spätere Ackerbauminister und dann auch Vorsitzende der Konstituierenden Versammlung, Tschernow, war zweifellos die repräsentativste Figur der alten sozialrevolutionären Partei und galt nicht zufällig als deren Inspirator, Theoretiker und Führer. Mit bedeutenden, aber nicht zu einer Einheit verbundenen Kenntnissen, eher ein Bücherkundiger als ein gebildeter Mensch, hatte Tschernow stets eine unbeschränkte Auswahl passender Zitate zu seiner Verfügung, die lange auf die Phantasie der russischen Jugend gewirkt hatten, ohne sie viel zu lehren. Nur auf eine einzige Frage hatte dieser redselige Führer keine Antwort: wen und wohin führt er? Die eklektischen Formeln Tschernows, aufgeputzt mit Moral und Versehen, vereinigten bis zu einer bestimmten Zeit das bunteste Publikum, das in allen kritischen Stunden nach verschiedenen Richtungen hin zerrte. Es ist nicht weiter verwunderlich, wenn Tschernow seine Methode der Parteibildung selbstzufrieden dem Leninschen „Sektierertum“ gegenüberstellte.

Tschernow kam fünf Tage nach Lenin in Petrograd an: England hatte ihn schließlich durchgelassen. Auf die vielen Begrüßungen im Sowjet antwortete der Führer der größten Partei mit der längsten Rede, über die sich Suchanow, ein halber Sozialrevolutionär, folgendermaßen äußerte: „Nicht ich allein, sondern auch viele sozialrevolutionäre Parteipatrioten runzelten die Stirn und schüttelten die Köpfe: was singt er da so unangenehm, was macht er für seltsame Grimassen und verdreht die Äuglein und spricht endlos ungereimtes Zeug.“ Die gesamte weitere Tätigkeit Tschernows in der Revolution entwickelte sich im Grundton seiner ersten Rede. Nach einigen Versuchen, sich Kerenski und Zeretelli von links entgegenzustellen, ergab sich Tschernow, von allen Seiten eingeklemmt, kampflos, säuberte sich von seinen Zimmerwaldismus der Emigration, ging in die Kontaktkommission und später in die Koalitionsregierung. Alles, was er tat, traf daneben. Er beschloß daher, auszuweichen. Stimmenthaltung wurde für ihn die Form des politischen Daseins. Seine Autorität schmolz von April bis Oktober noch schneller als die Reihen seiner Partei. Bei allem Unterschied zwischen Tschernow und Kerenski, die einander haßten, wurzelten beide gänzlich in der vorrevolutionären Vergangenheit, in der alten russischen morschen Gesellschaft, in der saftlosen und prätentiösen Intelligenz, die darauf brannte, die Volksmassen zu belehren, zu bevormunden, ihnen Wohltaten zu erweisen, aber völlig unfähig war, sie anzuhören, zu begreifen und von ihnen zu lernen. Ohne dieses aber gibt es keine revolutionäre Politik.

Awksentjew, den die Partei auf die höchsten Posten der Revolution erhob – Vorsitzender des Exekutivkomitees der Bauerndeputierten, Minister des Innern, Vorsitzender des Vorparlaments –, stellte schon die völlige Karikatur eines Politikers dar: bezaubernder Literaturlehrer des Mädchengymnasiums in Orel – das ist alles, was man von ihm sagen kann. Allerdings – seine politische Tätigkeit war bei weitem bösartiger als seine Person.

Eine große Rolle, aber mehr hinter den Kulissen, spielte in der Fraktion der Sozialrevolutionäre und im regierenden Sowjetkern Goz. Terrorist aus einer bekannten revolutionären Familie, war Goz weniger anspruchsvoll und sachlicher als seine näheren politischen Freunde. Jedoch in der Eigenschaft eines sogenannten „Praktikers“ beschränkte er sich auf die Angelegenheiten der Küche und überließ die großen Fragen den anderen. Man muß übrigens hinzufügen, daß er weder Redner noch Schriftsteller war und sein wichtigstes Hilfsmittel persönliche Autorität bildete, die er mit Jahren Zwangsarbeit erkauft hatte.

Wir haben im wesentlichen alle genannt, die man aus dem führenden Kreis der Narodniki nennen könnte. Es folgen nur noch ganz zufällige Gestalten, wie etwa Filippowski, bezüglich dessen niemand erklären konnte, wie er denn eigentlich auf den obersten Gipfel des Februarolymps geraten war: es bleibt nur anzunehmen, daß dabei die entscheidende Rolle seine Seeoffiziersuniform gespielt hat.

Neben den offiziellen Führern der zwei herrschenden Parteien gab es im Exekutivkomitee nicht wenig „Wilde“, Einzelgänger, in der Vergangenheit Teilnehmer der Bewegung auf deren verschiedenen Etappen, Menschen, die längst vor der Umwälzung vom Kampfe zurückgetreten waren und die jetzt, nach hastiger Rückkehr unter das Banner der siegreichen Revolution sich nicht beeilten, ins Parteijoch zu gehen. In allen Grundfragen gingen die Wilden die Linie der Sowjetmehrheit. In der ersten Zeit gehörte ihnen sogar die führende Rolle. Aber in dem Maße, wie die offiziellen Führer aus der Verbannung und Emigration zurückkehrten, wurden die Parteilosen auf die zweite Stelle verdrängt, die Politik bekam Form, das Parteimäßige trat in seine Rechte.

Die Gegner des Exekutivkomitees aus dem Lager der Reaktion haben später mehr als einmal auf die Übermacht der Fremdstämmigen im Komitee verwiesen: Juden, Georgier, Letten, Polen usw. Obwohl die Fremdstämmigen im Verhältnis zur ganzen Mitgliedermasse des Exekutivkomitees einen durchaus niedrigen Prozentsatz ausmachten, nahmen sie zweifellos im Präsidium, in verschiedenen Kommissionen, unter den Referenten usw. einen sehr sichtbaren Platz ein. Da die Intelligenz der unterdrückten Nationalitäten, hauptsächlich in den Städten konzentriert, reichlich die revolutionären Reihen füllte, so ist es nicht weiter verwunderlich, daß die Zahl der Fremdstämmigen unter der älteren Generation der Revolutionäre besonders ansehnlich war. Ihre Erfahrung, obwohl nicht immer von hoher Qualität, machte sie unentbehrlich bei Errichtung der neuen gesellschaftlichen Formen. Ganz abgeschmackt sind aber die Versuche, die Politik der Sowjets und den Verlauf der gesamten Revolution aus der angeblichen Übermacht der Fremdstämmigen abzuleiten. Der Nationalismus enthüllt auch in diesem Falle Verachtung für die wirkliche Nation, das heißt das Volk, indem er es in der Periode seines großen nationalen Erwachens als einen völligen Tölpel in fremden und zufälligen Händen schildert. Weshalb aber und wie konnten die Fremdstämmigen eine solche wundertätige Macht über die eingeborenen Millionen erlangen? In der Tat stellt die Masse der Nation im Moment einer einschneidenden historischen Wendung nicht selten jene Elemente in ihren Dienst, die noch gestern unterdrückt waren und deshalb mit höchster Bereitschaft den neuen Aufgaben Ausdruck geben. Nicht die fremdstämmigen führen die Revolution, sondern die Revolution benutzt die Fremdstämmigen. So geschah es sogar bei großen Reformen von oben. Die Politik Peters 1. hörte nicht auf, national zu sein, als sie von den alten Wegen abbog und Fremdstämmige und Ausländer in ihren Dienst zog. Die Meister der Deutschen Vorstadt und die holländischen Schiffer drückten in jener Periode die Bedürfnisse der nationalen Entwicklung Rußlands besser aus als die russischen Popen, die ehemals von den Griechen herangeschleppt worden waren, oder die Moskauer Bojaren, die ebenfalls über die fremdländische Vergewaltigung klagten, obwohl sie selber von Fremden abstammten, die den russischen Staat gebildet hatten. Jedenfalls verteilte sich die fremdstämmige Intelligenz im Jahre 1917 auf die gleichen Parteien wie die echtrussische, litt an den gleichen Gebrechen und beging dieselben Fehler, wobei gerade die Fremdstämmigen unter den Menschewiki und Sozialrevolutionären mit besonderem Eifer für die Verteidigung und Einheit Rußlands paradierten.

So sah das Exekutivkomitee aus, das oberste Organ der Demokratie. Zwei Parteien, die ihre Illusionen verloren, aber die Vorurteile behalten hatten, mit einem Führerstab, der unfähig war, vom Wort zur Tat überzugehen, gelangten an die Spitze der Revolution, die berufen war, Jahrhunderte alte Ketten zu brechen und die Grundsteine einer neuen Gesellschaft zu legen. Die gesamte Tätigkeit der Versöhnler wurde eine Kette qualvoller Widersprüche, die die Volksmassen entkräfteten und die Konvulsionen des Bürgerkrieges vorbereiteten.

Die Arbeiter, die Soldaten, die Bauern nahmen die Ereignisse ernst. Sie meinten, daß die von ihnen geschaffenen Sowjets unverzüglich an die Beseitigung jener Nöte schreiten müßten, die die Revolution geboren hatten. Alle kamen zu den Sowjets. Jeder brachte, was ihn schmerzte. Und wen schmerzte nichts? Man verlangte Beschlüsse, erhoffte Hilfe, erwartete Gerechtigkeit, forderte Vergeltung. Fürsprecher, Beschwerdeführer, Bittsteller, Entlarver glaubten, daß nun endlich die feindliche Macht durch eine eigene ersetzt war. Das Volk vertraut dem Sowjet, das Volk ist bewaffnet, also ist der Sowjet die Regierung. So verstanden sie die Sache – und hatten sie etwa nicht recht? „Ein ununterbrochener Strom von Soldaten, Arbeitern, Soldatenfrauen, Kleinhändlern, Bediensteten, Müttern, Vätern öffnete und schloß die Türe, suchte, fragte, weinte, forderte, zwang Maßnahmen zu treffen – manchmal genau bezeichnend welche – und verwandelte den Sowjet tatsächlich in eine revolutionäre Macht. Das war durchaus nicht im Interesse und paßte keinesfalls in die Pläne des Sowjets selbst“, klagt der uns bekannte Suchanow, der selbstverständlich „nach Kräften gegen diesen Prozeß ankämpfte“. Ob mit Erfolg? Ach, er ist gezwungen, gleich zu gestehen: „Der Sowjetapparat begann unwillkürlich, automatisch, gegen den Willen des Sowjets die offizielle Staatsmaschinerie zu verdrängen, die immer mehr im Leerlauf ging.“ Was aber taten die Doktrinäre der Kapitulation, die Mechaniker des Leerlaufs? „Man war gezwungen, sich damit abzufinden und einzelne Funktionen der Regierung zu übernehmen“, gesteht Suchanow melancholisch, „und gleichzeitig die Fiktion aufrechtzuerhalten, als hätte das Mariinski-Palais die Leitung.“ Das ist es, womit sich diese Leute in einem verelendeten Lande beschäftigten, das in den Flammen des Krieges und der Revolution stand: durch maskeradenhafte Maßnahmen schützten sie das Prestige einer Regierung, die das Volk organisch ausgeschieden hatte. Möge die Revolution umkommen, aber es lebe die Fiktion! Gleichzeitig jedoch stieg die Macht, die diese Männer zur Türe hinausjagten, durchs Fenster zu ihnen zurück, wobei sie sie jedesmal überraschte und in eine lächerliche. oder unwürdige Lage versetzte.

Noch in der Nacht zum 28. Februar hatte das Exekutivkomitee die monarchistische Presse geschlossen und für Zeitungen Erlaubnispflicht eingeführt. Proteste ertönten. Am lautesten schrien die, die gewohnt waren, allen den Mund zu verstopfen. Nach einigen Tagen stieß das Komitee wieder auf die Frage der Pressefreiheit: soll man reaktionäre Zeitungen erlauben oder nicht? Es entstanden Meinungsverschiedenheiten. Doktrinäre vom Typ Suchanow waren für absolute Pressefreiheit. Tschcheidse war anfangs nicht einverstanden: wie dürfe man die Waffen dem Todfeinde zur unkontrollierbaren Verwendung überlassen? Es war, nebenbei gesagt, keinem in den Sinn gekommen, die Entscheidung der Frage der Regierung anheimzustellen. Das wäre auch gegenstandslos gewesen: die Druckereiarbeiter erkannten nur die Verfügungen des Sowjets an. Am 5. März bestätigte das Exekutivkomitee: die rechte Presse ist zu schließen, das Erscheinen neuer Zeitungen ist von der Genehmigung des Sowjets abhängig zu machen. Aber schon am 10. wurde die Verordnung unter dem Ansturm der bürgerlichen Kreise wieder aufgehoben. „Drei Tage genügten, um zur Vernunft zu kommen“, triumphiert Suchanow. Ein unbegründeter Triumph! Die Presse steht nicht über der Gesellschaft. Ihre Existenzbedingungen geben in der Revolution den Gang der Revolution selbst wieder. Wenn diese den Charakter des Bürgerkrieges annimmt oder anzunehmen droht, wird keines der kämpfenden Lager die Existenz der feindlichen Presse auf dem Gebiete ihres Einflusses zulassen, wie es auch nicht die Kontrolle über Arsenale, Eisenbahnen oder Druckereien freiwillig aus der Hand gibt. Im revolutionären Kampfe ist die Presse nur eine der Waffengattungen. Das Recht auf das Wort steht jedenfalls nicht über dem Recht auf das Leben. Die Revolution jedoch eignet sich auch dieses an. Man kann als Gesetz aufstellen, revolutionäre Regierungen sind um so liberaler, um so duldsamer, um so „großmütiger“ gegen die Reaktion, je nichtiger ihr Programm, je mehr sie mit der Vergangenheit verknüpft sind, je konservativer ihre Rolle ist. Und umgekehrt: Je grandioser die Aufgaben sind, je größer die Zahl der erworbenen Rechte und Interessen, die durch sie verletzt werden, um so konzentrierter ist die revolutionäre Macht, um so unverhüllter ihre Diktatur. Mag das nun gut oder schlecht sein, aber gerade auf diesen Wegen ist die Menschheit bisher vorwärtsgeschritten.

Der Sowjet hatte recht, als er die Kontrolle über die Presse in seinen Händen behalten wollte. Weshalb aber hat er so leicht darauf verzichtet? Weil er überhaupt auf einen ernsten Kampf verzichtet hatte. Er schwieg sich aus über Frieden, über Grund und Boden, sogar über die Republik. Nachdem er der konservativen Bourgeoisie die Macht übergeben hatte, blieb ihm weder Anlaß, die rechte Presse zu fürchten, noch die Möglichkeit, gegen sie zu kämpfen. Dafür aber begann die Regierung mit Hilfe des Sowjets bereits nach wenigen Monaten erbarmungslos gegen die linke Presse vorzugehen. Zeitungen der Bolschewiki wurden eine nach der anderen geschlossen.

Am 7. März deklamierte Kerenski in Moskau: „Nikolaus II. ist in meinen Händen ... Ein Marat der Russischen Revolution werde ich niemals sein ... Nikolaus II. wird sich unter meiner persönlichen Überwachung nach England begeben ...“ Damen warfen Blumen, Studenten klatschten Beifall. Die Massen aber horchten auf Noch nie hatte eine ernste Revolution, das heißt eine solche, die was zu verlieren hatte, den gestürzten Monarchen ins Ausland gelassen. Von den Arbeitern und Soldaten gingen ununterbrochen Forderungen ein: die Romanows zu verhaften. Das Exekutivkomitee fühlte, daß man in diesem Punkte nicht spaßen dürfe.

Es wurde beschlossen, die Angelegenheit der Romanows müsse der Sowjet in seine Hände nehmen: damit war offen anerkannt, daß die Regierung kein Vertrauen verdiene. Das Exekutivkomitee gab an alle Eisenbahnstrecken den Befehl, Romanow nicht durchlassen: das war es, warum der Zarenzug unterwegs umherirrt! Eines der Exekutivkomiteemitglieder, der Arbeiter Gwosdjew, ein rechtsstehender Menschewik, wurde entsandt, Nikolaus zu verhaften. Kerenski war desavouiert und mit ihm die Regierung. Sie trat aber nicht zurück, sondern unterwarf sich stillschweigend. Schon am 9. März berichtete Tschcheidse dem Exekutivkomitee, die Regierung hätte von dem Gedanken, Nikolaus nach England zu schicken, „Abstand“ genommen. Die Zarenfamilie wurde im Winterpalais der Haft unterworfen. So stahl das Exekutivkomitee sich selbst die Macht unter dem Kissen hervor. Von der Front aber kamen immer eindringlichere Forderungen: den ehemaligen Zaren in die Peter-Paul-Festung überzuführen.

Revolutionen bedeuteten stets Besitzumschichtungen, nicht nur im Wege der Gesetzgebung, sondern auch im Wege von Expropriationen durch die Massen. Die Agrarrevolution vollzog sich in der Geschichte überhaupt nie anders: die legale Reform ging beständig in Begleitung des roten Hahnes. In den Städten war die Rolle der Expropriation kleiner: bürgerliche Revolutionen hatten nicht die Aufgabe, den bürgerlichen Besitz zu erschüttern. Doch gab es kaum eine Revolution, in der die Massen nicht für allgemeine Zwecke von Gebäuden Besitz ergriffen hätten, die den Feinden des Volkes gehörten. Gleich nach der Februarumwälzung tauchten Parteien aus der Illegalität hervor, entstanden Gewerkschaftsverbände, wurden ununterbrochen Meetings abgehalten, alle Stadtbezirke hatten ihre Sowjets – alle brauchten Räume. Die Organisationen nahmen Besitz von unbewohnten Villen der zaristischen Minister oder von leerstehenden Palästen der Zarenballerinen. Die Betroffenen erhoben Beschwerde, oder die Behörden griffen aus eigener Initiative ein. Da die Aneigner aber im Grunde die Macht besaßen, die offizielle Macht hingegen ein Gespenst war, so waren die Staatsanwälte letzten Endes gezwungen, sich an das Exekutivkomitee zu wenden mit dem Ersuchen um Wiederherstellung der verletzten Rechte der Ballerinen, deren unkomplizierte Funktionen von den Mitgliedern der Dynastie aus den Volksmitteln hoch bezahlt worden waren. Wie es sich gehört, setzte man die Kontaktkommission in Bewegung, die Minister tagten, das Exekutivkomitee beriet, es wurden Delegationen zu den Aneignern geschickt – die Sache zog sich monatelang hin.

Suchanow teilt mit, als „Linker“ hätte er an sich nichts gegen die radikalsten gesetzgebenden Eingriffe in den Privatbesitz gehabt, dafür aber wäre er „ein heftiger Feind jeglicher gewaltsamen Aneignungen“. Mit solchen Kniffen verhüllten die linken Pechvögel ihren Bankrott. Eine wahrhaft revolutionäre Regierung wäre zweifellos imstande gewesen, durch ein rechtzeitiges Dekret über die Requisitionen von Räumlichkeiten die Zahl der chaotischen Besitzergreifungen auf ein Minimum herabzusetzen. Doch die linken Versöhnler hatten die Macht an die Eigentumsfanatiker abgetreten, um hinterher den Massen vergeblich Achtung vor revolutionärer Gesetzlichkeit zu predigen ... unter freiem Himmel. Petrograds Klima begünstigt Platonismus nicht.

Die Brotschlangen gaben der Revolution den letzten Antrieb. Sie waren auch die erste Gefährdung des neuen Regimes. Schon in der konstituierenden Sitzung des Sowjets war beschlossen worden, eine Ernährungskommission zu schaffen. Die Regierung machte sich wenig Sorgen darüber, wie die Hauptstadt zu ernähren sei. Sie war nicht abgeneigt, sie durch Hunger zu zähmen. Das Ernährungsproblem fiel auch späterhin dem Sowjet zu. Zu seiner Verfügung standen Nationalökonomen und Statistiker mit einiger praktischer Erfahrung, die früher im Dienste wirtschaftlicher und administrativer Organe der Bourgeoisie gewesen waren. In den meisten Fällen waren das Menschewiki des rechten Flügels, wie Gromann und Tscherewanin, oder ehemalige weit nach rechts gerückte Bolschewiki, wie Basarow und Awilow. Aber kaum von Angesicht zu Angesicht vor das Ernährungsproblem der Hauptstadt gestellt, waren sie durch die ganze Situation gezwungen, radikalste Maßnahmen zur Bändigung der Spekulation und zur Organisierung des Marktes vorzuschlagen. In einer Reihe von Sitzungen des Sowjets wurde ein ganzes System von Maßnahmen „des Kriegssozialismus“ bestätigt, das die Proklamierung aller Brotvorräte als Staatsgut, Festsetzung von Höchstpreisen für Brot entsprechend ebensolchen Preisen für Industrieprodukte, staatliche Produktionskontrolle und geordneten Warenaustausch mit dem Dorfe zum Inhalt hatte. Die Führer des Exekutivkomitees wechselten besorgte Blicke; da sie nichts vorzuschlagen wußten, schlossen sie sich den radikalen Resolutionen an. Die Mitglieder der Kontaktkommission übermittelten sie dann verlegen der Regierung. Die Regierung versprach, die Sache zu studieren. Aber weder Fürst Lwow noch Gutschkow noch Konowalow hatten Lust zu kontrollieren, zu requirieren, sich selbst und ihre Freunde einzuschränken. Alle wirtschaftlichen Verfügungen des Sowjets zerschellten an dem passiven Widerstand des Staatsapparates, soweit sie nicht durch die lokalen Sowjets eigenmächtig verwirklicht wurden. Die einzige praktische Maßnahme, die der Petrograder Sowjet auf dem Gebiete der Ernährung durchgeführt hatte, bestand in der Einschränkung des Konsumenten durch eine feste Ration: anderthalb Pfund Brot für physische Arbeiter, ein Pfund für die übrigen. Allerdings brachte diese Einschränkung noch fast keine Änderungen in das reale Ernährungsbudget der Hauptstadtbevölkerung: – ein Pfund beziehungsweise anderthalb Pfund – es läßt sich leben. Das Elend täglichen Hungerns steht noch bevor. Die Revolution wird gezwungen sein, nicht monate-, sondern jahrelang den Riemen am eingefallenen Leibe enger und enger zu ziehen. Sie wird diese Prüfung ertragen. Im Augenblick quält sie nicht Hunger, sondern die Ungewißheit, die Unbestimmtheit des Kurses, die Unsicherheit vor dem morgigen Tag. Ökonomische Schwierigkeiten, verschärft durch 32 Kriegsmonate, klopfen an Türen und Fenster des neuen Regimes. Zerrüttung des Transports, Mangel an verschiedenen Arten von Rohstoffen, Abgenutztheit eines großen Teiles des Inventars, bedrohliche Inflation, Desorganisation des Warenumsatzes, das alles erfordert kühne und unaufschiebbare Maßnahmen. Während sie auf der ökonomischen Linie zu diesen gelangten, machten die Versöhnler die Durchführung politisch unmöglich. Jedes Wirtschaftsproblem, dem sie sich verschlossen, verwandelte sich in eine Verurteilung der Doppelherrschaft, und jeder Beschluß, den sie unterzeichnet hatten, verbrannte ihnen unerträglich die Finger.

Zu einer großen Nachprüfung der Kräfte und Beziehungen wurde die Frage des 8-Stunden-Tages. Der Aufstand hat gesiegt, doch der Generalstreik geht weiter. Die Arbeiter sind ernstlich der Meinung, die Änderung des Regimes müsse eine Änderung auch in ihr Schicksal bringen. Das erregt sofort Besorgnis bei den neuen Herrschern, Liberalen wie Sozialisten. Patriotische Parteien und Zeitungen erheben den Ruf: „Soldaten in die Kasernen, Arbeiter an die Werkbank!“ Also bleibt alles beim alten? fragen die Arbeiter. Bis auf weiteres, antworten verlegen die Menschewiki. Doch die Arbeiter begreifen: wenn es nicht sofort Änderungen gibt, später erst recht nicht. Die Sache mit den Arbeitern zu regeln, überläßt die Bourgeoisie den Sozialisten. Sich darauf berufend, daß der errungene Sieg „die Position der Arbeiterklasse in ihrem revolutionären Kampfe in genügendem Maße gesichert hat“ – und in der Tat: stehen nicht liberale Gutsbesitzer an der Macht? –, beschließt das Exekutivkomitee am 5. März, die Arbeit im Petrograder Rayon wieder aufzunehmen. Arbeiter an die Werkbank! So stark war die Macht des gepanzerten Egoismus der gebildeten Klassen, der Liberalen gemeinsam mit ihren Sozialisten. Diese Menschen glaubten, daß Millionen Arbeiter und Soldaten, die sich unter dem unerbittlichen Druck von Unzufriedenheit und Hoffnung zum Aufstand erhoben hatten, sich nach dem Siege gehorsam mit den alten Lebensbedingungen bescheiden würden. Aus Geschichtsbüchern hatten diese Führer die Überzeugung gewonnen, so sei es auch in früheren Revolutionen geschehen. Aber nein, so war es sogar in der Vergangenheit nie gewesen. Wurden die Werktätigen in den alten Stall zurückgetrieben, so nur auf Umwegen, durch eine Reihe von Niederlagen und Überlistungen. Die grausame soziale Kehrseite politischer Umwälzungen hatte Marat scharf empfunden. Deshalb ist er auch von den offiziellen Geschichtsschreibern so verleumdet worden. „Die Revolution wird vollzogen und gestützt nur von den unteren Klassen der Gesellschaft, von all den Elenden, die der schamlose Reichtum als Canaille verachtet und die von den Römern, mit dem diesen eigenen Zynismus, einst Proletarier genannt wurden“, schrieb Marat einen Monat vor dem Umsturz des 10. August 1792. Was gibt nun die Revolution den Elenden? „Nachdem die Bewegung anfangs einen gewissen Erfolg erreicht hat, erweist sie sich schließlich als besiegt; es fehlt ihr stets noch an Wissen, Festigkeit, Mitteln, Waffen, Führern, an einem bestimmten Aktionsplan; sie bleibt schutzlos gegen die Verschwörer, welche Erfahrung, Geschicklichkeit und Schlauheit besitzen.“ Ist es da verwunderlich, daß Kerenski kein Marat der Russischen Revolution sein wollte?

Einer der ehemaligen russischen Industriekapitäne, W. Auerbach, erzählt mit Entrüstung, daß „die Hefe die Revolution etwa wie einen Karneval verstanden hat: das Dienstmädchen, zum Beispiel, verschwand für ganze Tage, ging mit roten Schleifen spazieren, fuhr Auto, kehrte erst gegen Morgen heim; um sich zu waschen und wieder auf den Bummel zu gehen“. Es ist bemerkenswert, daß der Entlarver, der es unternimmt, die demoralisierende Wirkung der Revolution zu zeigen, das Benehmen des Dienstmädchens in jenen Zügen schildert, die, vielleicht außer der roten Schleife, am besten das Alltagsleben einer bürgerlichen Patrizierin wiedergeben. Ja, die Unterdrückten nehmen die Revolution wie einen Festtag auf, oder wie den Vorabend eines Festtages, und die erste Regung der durch sie geweckten Haussklavinnen besteht eben darin, das Joch der täglichen, erniedrigenden, beklemmenden, ausweglosen Unfreiheit abzuschwächen. Die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit konnte und wollte sich nicht bloß mit den roten Schleifen allein, als Siegessymbol für andere, abfinden. In den Betrieben Petrograds herrschte Erregung. Eine nicht geringe Anzahl von Betrieben widersetzte sich offen den Beschlüssen des Sowjets. An die Werkbänke zu gehen sind die Arbeiter freilich bereit, denn sie sind dazu gezwungen; doch unter welchen Bedingungen? Die Arbeiter forderten den 8-Stunden-Tag. Die Menschewiki beriefen sich auf das Jahr 1905, wo die Arbeiter auf dem Wege der Gewalt den 8-Stunden-Tag einzuführen versucht und eine Niederlage erlitten hatten: „Der Kampf auf zwei Fronten – gegen Reaktion und Kapitalisten – geht über die Kräfte des Proletariats.“ Das war ihre zentrale Idee. Allgemein gesprochen, anerkannten die Menschewiki für die Zukunft die Unvermeidlichkeit eines Bruches mit der Bourgeoisie. Doch dies rein theoretische Bekenntnis verpflichtete sie zu nichts. Sie meinten, man dürfe den Bruch nicht forcieren. Da aber die Bourgeoisie nicht durch leidenschaftliche Phrasen der Redner und Journalisten in das Lager der Reaktion zurückgeworfen wird, sondern durch die selbständige Bewegung der werktätigen Klassen, widersetzten sich die Menschewiki aus allen Kräften dem ökonomischen Kampfe der Arbeiter und Bauern. „Für die Arbeiterklasse“, lehrten sie, „stehen jetzt nicht die sozialen Fragen auf dem ersten Platz. Sie erkämpft sich jetzt die politische Freiheit.“ Worin jedoch diese Freiheit bestand, konnten die Arbeiter nicht begreifen. Sie wollten vor allem etwas Freiheit für ihre Muskeln und Nerven. Und sie bedrängten die Unternehmer. Welche Ironie: gerade am 10. März, als die menschewistische Zeitung schrieb, der 8-Stunden-Tag stehe nicht auf der Tagesordnung, erklärte die Vereinigung der Fabrikanten, die am Vorabend bereits gezwungen gewesen war, mit dem Sowjet in offizielle Verhandlungen zu treten, ihre Zustimmung zur Einführung des 8-Stunden-Tages und zur Bildung von Fabrikkomitees. Die Industriellen bewiesen mehr Weitsicht als die Strategen des Sowjets. Das ist nicht verwunderlich: in den Fabriken standen die Unternehmer von Angesicht zu Angesicht den Arbeitern gegenüber, die mindestens in der Hälfte der Petrograder Betriebe, darunter vorwiegend der größten, nach 8-stündiger Arbeit einmütig die Werkbänke verließen. Sie nahmen sich selbst, was ihnen Regierung und Sowjet versagten. Als die liberale Presse gerührt die Geste der russischen Industriellen vom 10. März 1917 mit der Geste des französischen Adels vom 4. August 1789 verglich, war sie der historischen Wahrheit viel näher, als sie es selbst geglaubt haben mag: ähnlich den Feudalen am Ende des 18. Jahrhunderts handelten die russischen Kapitalisten unter den Schlägen des Zwanges und hofften durch eine vorübergehende Konzession in die Lage zu kommen, später das Verlorene wieder einzuholen. Unter Verletzung der offiziellen Lüge gestand ein kadettischer Publizist offen: „Zum Unglück der Menschewiki haben die Bolschewiki die Vereinigung der Fabrikanten durch Terror bereits gezwungen, sich mit der sofortigen Einführung des 8-Stunden-Tages einverstanden zu erklären.“ Worin der Terror bestand, wissen wir schon. Die Arbeiterbolschewiki nahmen in dieser Bewegung zweifellos den ersten Platz ein. Und wiederum ging, wie in den entscheidenden Tagen des Februar, die erdrückende Mehrheit der Arbeiter mit ihnen.

Mit sehr gemischten Gefühlen registrierte der von den Menschewiki geleitete Sowjet den gewaltigen Sieg, der eigentlich gegen ihn errungen worden war. Die beschämten Führer mußten jedoch einen Schritt weitergehen und der Provisorischen Regierung vorschlagen, noch vor der Konstituierenden Versammlung ein Dekret über den 8-Stunden-Tag für das ganze Land zu erlassen. Nach einer Übereinkunft mit den Unternehmern weigerte sich aber die Regierung, in Erwartung besserer Tage, die ihr ohne jeglichen Nachdruck gestellte Forderung zu erfüllen.

Im Moskauer Bezirk begann der gleiche Kampf, nur nahm er einen schleichenderen Charakter an. Auch hier verlangte, entgegen dem Widerstande der Arbeiter, der Sowjet die Wiederaufnahme der Arbeit. In einer der größten Fabriken erhielt die Resolution gegen den Abbruch des Streiks 7.000 von 13.000 Stimmen. So ungefähr reagierten auch die anderen Betriebe. Am 10. März wiederholte der Sowjet den Beschluß, wonach die Arbeiter sofort in die Betriebe zurückgehen sollten. Obwohl daraufhin in den meisten Fabriken die Arbeit aufgenommen wurde, entbrannte fast überall der Kampf um die Verkürzung des Arbeitstages. Die Arbeiter korrigierten ihre Führer durch die Tat. Der sich lange sträubende Moskauer Sowjet war schließlich, am 21. März, gezwungen, durch einen eigenen Beschluß den 8-Stunden-Tag einzuführen. Die Industriellen unterwarfen sich unverzüglich. In der Provinz dauerte der Kampf noch bis in den April hinein. Fast überall bremsten die Sowjets anfangs die Bewegung und wirkten ihr entgegen; später traten sie, unter dem Druck der Arbeiter, mit den Unternehmern in Verhandlung; wo diese ihre Zustimmung verweigerten, waren die Sowjets gezwungen, den 8-Stunden-Tag eigenmächtig zu dekretieren. Welche Bresche im System!

Die Regierung hielt sich absichtlich beiseite. Inzwischen wurde, dirigiert von den liberalen Führern, eine wütende Kampagne gegen die Arbeiter eröffnet. Um sie mürbe zu machen, beschloß man, die Soldaten gegen sie aufzuhetzen. Eine Verkürzung des Arbeitstages bedeutete doch Schwächung der Front. Dürfe man etwa während des Krieges nur an sich denken? Würden etwa in den Schützengräben die Stunden gezählt? Wenn die besitzenden Klassen den Weg der Demagogie beschreiten, machen sie vor nichts halt. Die Agitation nahm einen wüsten Charakter an und wurde bald in die Schützengräben übertragen. Der Soldat Pirejko gesteht in seinen Fronterinnerungen, daß die Agitation, hauptsächlich von neugebackenen Sozialisten aus dem Offiziersstande geführt, nicht ohne Wirkung blieb. „Aber das ganze Pech des Offiziersstandes, der es versuchte, die Soldaten gegen die Arbeiter aufzuhetzen, bestand darin, daß sie Offiziere waren. Zu frisch war noch in der Erinnerung eines jeden Soldaten, was früher der Offizier bedeutet hatte.“ Den schärfsten Charakter nahm die Arbeiterhetze in der Hauptstadt an. im Verein mit dem Kadettenstab fanden die Industriellen unbeschränkte Mittel und Kräfte für die Agitation in der Garnison. „Um den 20. herum“, erzählt Suchanow, „konnte man an allen Straßenecken, in den Straßenbahnen, an jedem öffentlichen Platz Arbeiter und Soldaten in wütendem Wortgefecht miteinander antreffen.“ Es kam auch zu Schlägereien. Die Arbeiter begriffen die Gefahr und wandten sie geschickt ab.

Es genügte ihnen, zu diesem Zwecke die Wahrheit zu erzählen, die Zahlen der Kriegsgewinne zu nennen, den Soldaten die Betriebe und Werkstätten mit ihrem Maschinenlärm, höllischen Flammen der Öfen zu zeigen – ihre ewige Front, an der sie ungezählte Opfer brachten. Auf Initiative der Arbeiter begannen regelmäßige Besuche der Betriebe durch Garnisonteile, besonders jener Betriebe, die für die Landesverteidigung arbeiteten. Der Soldat sah und hörte, der Arbeiter zeigte und erklärte. Die Besuche endeten mit feierlichen Verbrüderungen. Die sozialistischen Zeitungen veröffentlichten zahlreiche Resolutionen von Truppenteilen über deren unverbrüchliche Solidarität mit den Arbeitern. Um die Mitte des Monats April verschwand der Konfliktgegenstand restlos aus den Spalten der Zeitungen. Die bürgerliche Presse verstummte. So errangen die Arbeiter nach dem ökonomischen einen politischen und moralischen Sieg.

Die mit dem Kampf um den 8-Stunden-Tag verbundenen Ereignisse waren für die ganze weitere Entwicklung der Revolution von großer Bedeutung. Die Arbeiter gewannen einige freie Stunden in der Woche für Lektüre, Versammlungen, aber auch für Gewehrübungen, die mit der Schaffung der Arbeitermiliz einen geordneten Charakter bekamen. Nach einer so krassen Lehre fingen die Arbeiter an, sich die Sowjetleiter näher zu besehen. Die Autorität der Menschewiki hatte eine ernstliche Einbuße erlitten. Die Bolschewiki befestigten sich in den Betrieben, teils auch in den Kasernen. Der Soldat wurde aufmerksamer nachdenklicher, vorsichtiger; er begriff, daß ihm jemand auflauere. Die verräterische Absicht der Demagogie wandte sich gegen deren Inspiratoren. Statt Entfremdung und Feindschaft entstand eine innigere Zusammenschweißung der Arbeiter und Soldaten.

Trotz des Kontaktidylls haßte die Regierung den Sowjet, seine Führer, seine Bevormundung. Sie bewies es bei der ersten sich bietenden Gelegenheit. Da der Sowjet reine Regierungsfunktionen ausübte, und zwar auf eigenes Ersuchen der Regierung, sobald es hieß, die Massen im Zaume zu halten, kam das Exekutivkomitee um einen bescheidenen Unkostenzuschuß ein. Die Regierung lehnte ab und beharrte, trotz wiederholten Drängens des Sowjets, bei ihrer Weigerung: sie könne einer „Privatorganisation“ keine Staatsmittel bewilligen. Der Sowjet schwieg. Das Budget des Sowjets belastete die Arbeiter, die nicht müde wurden, Geldsammlungen für die Bedürfnisse der Revolution zu veranstalten.

Indes wahrten beide Parteien, Liberale und Sozialisten, den Schein restloser gegenseitiger Freundschaft. Auf der Allrussischen Konferenz der Sowjets wurde das Vorhandensein einer Doppelmacht für eine Erfindung erklärt. Kerenski versicherte den Delegierten der Armee, zwischen Regierung und Sowjet bestehe völlige Einigkeit über Aufgaben und Ziele. Nicht minder eifrig bestritten Zeretelli, Dan und andere Sowjethäupter die Existenz der Doppelherrschaft. Mit Hilfe der Lüge suchte man ein Regime zu festigen, das auf Lüge aufgebaut war.

Doch schwankte das Regime seit den ersten Wochen. Die Führer waren unermüdlich in organisatorischen Kombinationen: sie versuchten, sich gegen die Massen auf zufällige Vertreter zu stützen, auf die Soldaten gegen die Arbeiter, auf neue Dumas, Semstwos, Kooperationen gegen die Sowjets, auf die Provinz gegen die Hauptstadt und zum Schluß auf die Offiziere gegen das Volk.

Die Sowjetform enthält keinerlei mystische Kraft. Sie ist durchaus nicht von den Fehlern einer jeden Vertretungsform frei, die unvermeidlich bleiben, solange diese selbst unvermeidlich ist. Aber ihre Stärke besteht darin, daß sie diese Fehler auf das äußerste herabmindert. Man kann mit Bestimmtheit sagen – und die Erfahrung wird das bald bestätigen –, daß jede andere die Massen atomisierende Vertretung in der Revolution deren wirklichen Willen unvergleichlich schlechter und mit weitaus größerer Verspätung zum Ausdruck gebracht haben würde. Von allen revolutionären Vertretungsformen ist der Sowjet die biegsamste, unmittelbarste und klarste. Aber, doch ist es nur eine Form. Sie kann nicht mehr geben, als die Massen in jedem gegebenen Augenblick fähig sind, in sie hineinzulegen. Dafür aber kann sie den Massen das Verständnis für die begangenen Fehler und deren Richtigstellung erleichtern. Darin eben bestand eine der wichtigsten Bürgschaften für die Entwicklung der Revolution.

Wie aber waren die politischen Perspektiven des Exekutivkomitees? Es ist fraglich, ob einer seiner Führer bis zu Ende durchdachte Perspektiven besaß. Suchanow versicherte später, daß, nach seinem Plan, die Macht nur für eine kurze Frist an die Bourgeoisie abgetreten werden sollte, bis die Demokratie, stärker geworden, diese Macht umso sicherer übernehmen könne. Doch diese an sich naive Konstruktion hat einen durchsichtig retrospektiven Charakter. Jedenfalls wurde sie seinerzeit von niemandem formuliert. Unter der Leitung Zeretellis hörten zwar die Schwankungen des Exekutivkomitees nicht auf, wurden aber in ein System gebracht. Zeretelli verkündete offen, ohne eine feste bürgerliche Macht drohe der Revolution der unabwendbare Untergang. Die Demokratie müsse sich darauf beschränken, auf die liberale Bourgeoisie einen Druck auszuüben, und sich hüten, durch eine unvorsichtige Handlung sie in das Lager der Reaktion zu stoßen; im Gegenteil, sie müsse die liberale Bourgeoisie, insoweit diese die Errungenschaften der Revolution festigen werde, unterstützen. Letzten Endes mußte dieses unbestimmte Regime auf eine bürgerliche Republik mit den Sozialisten als parlamentarischer Opposition hinauslaufen.

Einen Stein des Anstoßes bildete für die Führer weniger die Perspektive als das laufende Aktionsprogramm. Die Versöhnler versprachen den Massen, auf dem Wege des „Drucks“ von der Bourgeoisie eine demokratische Innen- und Außenpolitik zu erkämpfen. Zweifellos haben in der Geschichte die herrschenden Klassen mehr als einmal unter dem Druck der Volksmassen Konzessionen gemacht. Aber der „Druck“ bedeutete letzten Endes die Drohung, die herrschende Klasse von der Macht zu verdrängen und deren Platz einzunehmen. Gerade diese Waffe jedoch hatte die Demokratie nicht in den Händen. Sie selbst hatte freiwillig die Macht der Bourgeoisie ausgeliefert. Bei Ausbruch von Konflikten drohte nicht die Demokratie mit der Wegnahme der Macht, sondern umgekehrt die Bourgeoisie schreckte mit ihrem Verzicht auf die Macht. So lag der Haupthebel der Druckmechanik in den Händen der Bourgeoisie. Das erklärt auch, weshalb die Regierung bei ihrer ganzen Ohnmacht allen ernsten Bestrebungen der Sowjetspitzen mit Erfolg Widerstand leisten konnte.

Mitte April erweist sich sogar das Exekutivkomitee als ein zu breites Organ für die politischen Sakramente des führenden Kernes, der sein Gesicht endgültig den Liberalen zugewandt hatte. Es wurde ein Büro abgesondert, ausschließlich aus rechten Vaterlandsverteidigern. Von nun an machte man große Politik im eigenen Kreise. Alles schien ins Geleise zu kommen und sich zu festigen. Zeretelli herrschte in den Sowjets uneingeschränkt. Kerenski stieg höher und höher. Aber gerade in diesem Moment begannen unten, bei den Massen, die ersten beunruhigenden Anzeichen deutlich sichtbar zu werden. „Es ist erstaunlich“, schreibt Stankewitsch, der dem Kreise Kerenskis nahestand, „daß gerade in dem Augenblick, als das Komitee sich organisierte, als das Büro, gewählt ausschließlich aus Parteien der Vaterlandsverteidigung, die Verantwortung für die Arbeit übernahm, daß gerade zu dieser Zeit das Komitee aus seinen Händen die Leitung der Massen verlor, die sich von ihm abwandten.“ Erstaunlich? Nein, nur gesetzmäßig.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003