Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 16:
Die Umbewaffnung der Partei

Womit ist nun Lenins außerordentliche Isoliertheit Anfang April zu erklären? Wie konnte eine solche Lage überhaupt entstehen? Und wie wurde die Umbewaffnung der Kader des Bolschewismus erreicht?

Seit 1905 führt die bolschewistische Partei den Kampf gegen das Selbstherrschertum unter der Losung: „Demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.“ Die Losung wie ihre theoretische Begründung gingen von Lenin aus. Im Gegensatz zu den Menschewiki, deren Theoretiker Plechanow einen unversöhnlichen Kampf führte gegen den „irrigen Gedanken von der Möglichkeit, die bürgerliche Revolution ohne Bürgertum zu vollbringen“, meinte Lenin, die russische Bourgeoisie sei bereits unfähig, ihre eigene Revolution zu leiten. Die demokratische Revolution gegen Monarchie und Gutsbesitzer zu Ende führen, könnten nur Proletariat und Bauernschaft in engem Bündnis. Der Sieg dieses Bündnisses würde, nach Lenin, die demokratische Diktatur herbeiführen, die sich keinesfalls mit der Diktatur des Proletariats identifizieren ließe, vielmehr ihr entgegengesetzt sein würde, denn die Aufgabe sei nicht Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, auch nicht Schaffung von Übergangsformen zu dieser, sondern nur unerbittliche Säuberung der Augiasställe des Mittelalters. Das Ziel des revolutionären Kampfes war durch drei Kampfparolen genau festgelegt – demokratische Republik, Konfiskation des gutsherrlichen Bodens, Achtstundentag –, die in der Volkssprache die drei Walfische des Bolschewismus hießen, nach der Analogie zu jenen Walfischen, auf denen, nach einer alten Volkssage, die Welt ruht.

Die Frage der Durchführbarkeit der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft wurde gelöst im Zusammenhang mit der Befähigung der Bauernschaft, ihre eigene Revolution zu vollbringen, das heißt, eine neue Macht aufzustellen, fähig, Monarchie und Adelsgrundbesitz zu liquidieren. Allerdings setzte die Parole der demokratischen Diktatur auch die Beteiligung von Arbeitervertretern an der revolutionären Regierung voraus. Doch wurde diese Beteiligung im voraus eingeschränkt durch die Rolle des Proletariats als linken Verbündeten bei der Lösung der Aufgaben der Bauernrevolution. Die populäre und sogar offiziell anerkannte Idee der Hegemonie des Proletariats in der demokratischen Revolution konnte folglich nichts anderes bedeuten, als daß die Arbeiterpartei mit dem politischen Rüstzeug aus ihrem Arsenal den Bauern helfen, ihnen die besten Mittel und Methoden zur Liquidierung der Feudalgesellschaft eingeben und deren Anwendung in der Praxis zeigen würde. Jedenfalls bedeuteten die Reden von der führenden Rolle des Proletariats in der bürgerlichen Revolution niemals, daß das Proletariat den Bauernaufstand benutzen sollte, um, auf ihn gestützt, seine eigenen historischen Aufgaben, d.h. den direkten Übergang zur sozialistischen Gesellschaft auf die Tagesordnung zu stellen. Die Hegemonie des Proletariats in der demokratischen Revolution unterschied sich scharf von der Diktatur des Proletariats und wurde dieser auch polemisch entgegengehalten. Auf diese Ideen war die bolschewistische Partei seit dem Frühling 1905 ausgerichtet worden.

Der tatsächliche Verlauf der Februarumwälzung hatte das gewohnte Schema des Bolschewismus übertreten. Allerdings war die Revolution durch das Bündnis der Arbeiter und Bauern vollzogen worden. Daß die Bauern hauptsächlich als Soldaten aufgetreten waren, änderte an der Sache nichts. Das Verhalten der bäuerlichen Armee des Zarismus wäre auch in dem Falle von entscheidender Bedeutung gewesen, wenn sich die Revolution in Friedenszeit entfaltet hätte. Um so natürlicher ist es, daß unter den Bedingungen des Krieges die Millionenarmee in der ersten Zeit die Bauernschaft gänzlich verdeckt hat. Nach dem Siege des Aufstandes erwiesen sich Arbeiter und Soldaten als Herren der Lage. Es sollte scheinen, daß man in diesem Sinne hätte sagen können, die demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern sei hergestellt. In Wirklichkeit aber hatte die Februarumwälzung zu einer bürgerlichen Regierung geführt, wobei die Macht der besitzenden Klassen durch die nicht zur Vollendung geführte Macht der Arbeiter- und Soldatensowjets eingeschränkt war. Alle Karten waren vermengt. An Stelle der revolutionären Diktatur, das heißt der konzentriertesten Macht, entstand ein wackliges Regime der Doppelherrschaft, wo die kümmerliche Energie der regierenden Kreise fruchtlos zur Überwindung der inneren Reibungen unfruchtbar verausgabt wurde. Dieses Regime hatte niemand vorausgesehen. Man kann auch von einer Prognose nicht verlangen, daß sie nicht nur die grundlegenden Tendenzen, sondern auch deren episodische Verquickungen aufzeige. „Wer hat jemals wirklich eine große Revolution vollbringen und im voraus wissen können, wie sie zu Ende zu führen?“ fragte später Lenin. „Woher könnte man solches Wissen nehmen? Es ist nicht aus Büchern zu schöpfen. Solche Bücher gibt es nicht. Nur aus der Erfahrung der Massen konnte unser Entschluß geboren werden.“

Doch das menschliche Denken ist konservativ, und das Denken der Revolutionäre ist es mitunter besonders. Die bolschewistischen Kader in Rußland fuhren fort, an dem alten Schema festzuhalten, und sahen in der Februarrevolution, obwohl in ihr klar zwei nicht zu vereinbarende Regime enthalten waren, nur die erste Etappe der bürgerlichen Revolution. Ende März schickte Rykow aus Sibirien im Namen der Sozialdemokraten an die Prawda ein Begrüßungstelegramm anläßlich des Sieges der „nationalen Revolution“, deren Aufgabe „die Eroberung der politischen Freiheit“ sei. Sämtliche führenden Bolschewiki, ohne Ausnahme – wir kennen keine einzige – glaubten, die demokratische Diktatur stünde noch bevor. Nachdem die Provisorische Regierung „sich erschöpft haben wird“, würde die demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern erstehen, als Vorstufe des bürgerlich-parlamentarischen Regimes. Das war eine völlig falsche Perspektive. Das aus der Februarumwälzung hervorgegangene Regime leitete die demokratische Diktatur nicht nur nicht ein, sondern war der lebendige und erschöpfende Beweis dafür, daß sie überhaupt nicht möglich ist. Daß die Versöhnlerdemokratie nicht zufällig, nicht durch Kerenskis Leichtsinn oder Tschcheidses Beschränktheit, die Macht an die Liberalen ausgeliefert hatte, bewies sie dadurch, daß sie während acht weiterer Monate aus allen Kräften für die Erhaltung der bürgerlichen Regierung kämpfte, Arbeiter, Bauern und Soldaten unterdrückte und am 25. Oktober auf dem Posten einer Verbündeten und Schützerin der Bourgeoisie fiel. Und es war von Anfang an klar: wenn die Demokratie, die vor sich gigantische Aufgaben und in den Massen uneingeschränkte Unterstützung hatte, freiwillig auf die Macht verzichtete, geschah dies nicht aus politischen Prinzipien oder Vorurteilen heraus, sondern infolge der Hoffnungslosigkeit der Lage des Kleinbürgertums in der kapitalistischen Gesellschaft, besonders in der Periode von Krieg und Revolution, wo es um die grundlegenden Existenzfragen von Ländern, Völkern und Klassen geht. Indem es Miljukow das Zepter aushändigte, sagte das Kleinbürgertum: nein, diese Aufgaben gehen über meine Kraft.

Die Bauernschaft, die auf ihrem Rücken die Versöhnlerdemokratie emporgehoben hatte, schließt alle Klassen der bürgerlichen Gesellschaft in deren Urform ein. Gemeinsam mit dem städtischen Kleinbürgertum, das jedoch in Rußland niemals eine ernsthafte Rolle gespielt hat, bildete sie jenes Protoplasma, aus dem sich in der Vergangenheit die neuen Klassen differenzierten und in der Gegenwart weiter differenzieren. Die Bauernschaft hat immer zwei Gesichter: eines dem Proletariat zugewandt, das andere der Bourgeoisie. Die zwischenstufliche, vermittelnde, versöhnlerische Position „bäuerlicher“ Parteien, von der Art der Sozialrevolutionäre, kann sich nur unter den Bedingungen eines relativen politischen Stillstandes halten; in einer revolutionären Epoche tritt unvermeidlich der Moment ein, wo das Kleinbürgertum wählen muß. Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki trafen ihre Wahl in der ersten Stunde. Sie liquidierten im Keime die „demokratische Diktatur“, um sie zu hindern, eine Brücke zur Diktatur des Proletariats zu werden. Doch gerade damit hatten sie der letzteren den Weg geöffnet, nur vom anderen Ende: nicht durch sie, sondern gegen sie.

Die weitere Entwicklung der Revolution konnte offenbar nur von neuen Tatsachen, nicht aber von alten Schemen ausgehen. Durch ihre Vertretung wurden die Massen, halb gegen ihren Willen, halb ohne ihr Wissen in die Mechanik der Doppelherrschaft hineingezogen. Sie mußten von nun an durch diese hindurchgehen, um sich durch Erfahrung zu überzeugen, daß sie ihnen weder Frieden noch Land geben könne. Vom Regime der Doppelherrschaft sich abzuwenden, bedeutet für die Massen von nun an, mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki zu brechen: Es ist aber ganz offensichtlich, daß die politische Wendung der Arbeiter und Soldaten zu den Bolschewiki den ganzen Bau der Doppelherrschaft umwarf und nichts anderes mehr bedeuten konnte als die Errichtung der Diktatur des Proletariats, die sich auf das Bündnis der Arbeiter und Bauern stützte. Im Falle einer Niederlage der Volksmassen konnte auf den Ruinen der bolschewistischen Partei nur die Militärdiktatur des Kapitals entstehen. Die „demokratische Diktatur“ war in beiden Fällen ausgeschlossen. Auf sie den Blick gerichtet, wandten die Bolschewiki faktisch das Gesicht dem Gespenst der Vergangenheit zu. In dieser Lage fand sie Lenin, der mit der unbeugsamen Absicht gekommen war, die Partei auf einen neuen Weg zu führen.

Die Formel der demokratischen Diktatur hatte allerdings auch Lenin selbst bis zum Beginn der Februarrevolution durch keine andere ersetzt, weder bedingt noch hypothetisch. War das richtig? Wir glauben, nein. Was in der Partei nach der Umwälzung vor sich ging, enthüllte allzu bedrohlich die Verspätung der Umbewaffnung, die noch dazu unter den gegebenen Umständen nur Lenin vornehmen konnte. Er hatte sich darauf vorbereitet. Im Feuer des Krieges seinen Stahl bis zur Weißglut erhitzt und wiederholt umgeschmiedet. Es veränderte sich in seinen Augen die Gesamtperspektive des historischen Prozesses. Die Erschütterungen des Krieges hatten die möglichen Fristen der sozialistischen Revolution im Westen stark verkürzt. Die für Lenin noch immer demokratisch gebliebene Russische Revolution sollte der sozialistischen Umwälzung in Europa einen Anstoß geben, die dann auch das zurückgebliebene Rußland in ihren Strudel hineinziehen müßte. Das war die allgemeine Konzeption Lenins, als er Zürich verließ. Der von uns bereits zitierte Brief an die Schweizer Arbeiter lautet: „Rußland ist ein Bauernland, eines der rückständigsten europäischen Länder. Unmittelbar kann der Sozialismus dort nicht sofort siegen. Doch der bäuerliche Charakter des Landes kann angesichts des heute noch erhalten gebliebenen gewaltigen Bodenbestandes der adligen Gutsbesitzer, auf der Basis der Erfahrung von 1905, der bürgerlich-demokratischen Revolution in Rußland einen ungeheuren Schwung verleihen und unsere Revolution in den Prolog zur sozialistischen Weltrevolution verwandeln, in eine Stufe zu dieser.“ In diesem Sinne schrieb Lenin jetzt zum erstenmal daß das russische Proletariat die sozialistische Revolution beginnen werde.

Dies war das Bindeglied zwischen der alten Position des Bolschewismus, die die Revolution auf demokratische Ziele begrenzte, und der neuen Position, die Lenin in seinen Thesen vom 4. April zum erstenmal der Partei bekanntgab. Die Perspektive des unmittelbaren Überganges zur Diktatur des Proletariats kam ganz überraschend, der Tradition widersprechend, und wollte einfach in die Köpfe nicht hinein. Es ist notwendig, hier daran zu erinnern, daß man bis zum Ausbruch der Februarrevolution und in der ersten Zeit danach unter Trotzkismus nicht den Gedanken verstand, daß man innerhalb der nationalen Grenzen Rußlands keine sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen vermag (der Gedanke an eine solche „Möglichkeit“ wurde bis zum Jahre 1924 überhaupt von niemand ausgesprochen und kam wohl keinem in den Sinn), – Trotzkismus nannte man den Gedanken, daß das Proletariat Rußlands früher als das Proletariat des Westens zur Macht gelangen und in diesem Falle sich nicht im Rahmen der demokratischen Diktatur halten kann, sondern an die ersten sozialistischen Maßnahmen herangehen muß. Es ist nicht verwunderlich, daß man die Aprilthesen Lenins als trotzkistisch brandmarkte.

Die Einwände der „alten Bolschewiki“ bewegten sich auf verschiedenen Linien. Der Hauptstreit ging um die Frage, ob die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei. Da die Agrarumwälzung sich noch nicht vollzogen hatte, konnten Lenins Gegner mit vollem Recht behaupten, die demokratische Revolution sei nicht zu Ende geführt, und daraus folgern, es gäbe für die Diktatur des Proletariats auch dann keinen Platz, wenn die sozialen Verhältnisse Rußlands diese in einer mehr oder weniger nahen Zukunft ermöglichen sollten. Gerade so hatte die Redaktion der Prawda in dem von uns bereits angeführten Zitat die Frage gestellt. Später, auf der Aprilkonferenz, wiederholte Kamenjew:

„Lenin hat nicht recht, wenn er sagt, die bürgerlich-demokratische Revolution sei abgeschlossen ... Der klassische Rest des Feudalismus – der gutsherrliche Bodenbesitz – ist noch nicht liquidiert ... Der Staat nicht in eine demokratische Gesellschaft umgewandelt ... Es ist verfrüht zu sagen, die bürgerliche Demokratie habe alle ihre Möglichkeiten erschöpft.“

„Die demokratische Diktatur“, erwiderte Tomski, „das ist unsere Basis ... Wir müssen die Macht des Proletariats und der Bauernschaft organisieren und sie von der Kommune trennen, da dort die Macht nur dem Proletariat gehört.“

„Vor uns stehen gewaltige revolutionäre Aufgaben“, stimmte ihnen Rykow bei. „Aber die Verwirklichung dieser Aufgaben führt uns über den Rahmen des bürgerlichen Regimes noch nicht hinaus.“

Lenin sah gewiß nicht weniger scharf als seine Opponenten, daß die demokratische Revolution nicht abgeschlossen war, richtiger, daß sie, kaum angefangen, schon zurückzurollen begann. Aber eben daraus folgte, daß sie lediglich unter der Herrschaft der neuen Klasse zu Ende zu führen war und daß man dazu nur gelangen könnte, wenn man die Massen dem Einfluß der Menschewiki und Sozialrevolutionäre entriß, das heißt dem indirekten Einfluß der liberalen Bourgeoisie. Die Verbindung dieser Parteien mit den Arbeitern und insbesondere mit den Soldaten wurde durch die Idee der Verteidigung genährt – der „Verteidigung des Landes“ oder der „Verteidigung der Revolution“. Lenin forderte deshalb: unversöhnliche Politik in Beziehung auf alle Schattierungen des Sozialpatriotismus, Trennung der Partei von den rückständigen Massen, um dann diese Massen von ihrer Rückständigkeit zu befreien. „Den alten Bolschewismus muß man aufgeben“, sagte er wiederholt. „Es ist notwendig, die Scheidelinie zwischen Kleinbürgertum und Lohnproletariat zu ziehen.“

Einem oberflächlichen Blick mochte es scheinen, alte Gegner hätten ihr Rüstzeug getauscht. Menschewiki und Sozialrevolutionäre vertraten jetzt die Mehrheit der Arbeiter und Soldaten und verwirklichten gleichsam in der Tat das politische Bündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft, das die Bolschewiki stets im Gegensatz zu den Menschewiki verkündet hatten. Lenin aber forderte, die proletarische Avantgarde solle sich von diesem Bündnis lostrennen. In Wirklichkeit blieb jede Partei sich treu. Die Menschewiki betrachteten, wie stets, ihre Mission in der Unterstützung der liberalen Bourgeoisie. Ihr Bündnis mit den Sozialrevolutionären war nur ein Mittel zur Verbreiterung und Festigung dieser Unterstützung. Dagegen bedeutete der Bruch der proletarischen Avantgarde mit dem kleinbürgerlichen Block die Vorbereitung des Bündnisses zwischen Arbeitern und Bauern unter Führung der bolschewistischen Partei, das heißt die Diktatur des Proletariats.

Einwände anderer Art ergaben sich aus der Rückständigkeit Rußlands. Die Macht der Arbeiterklasse bedeute unabwendbar Übergang zum Sozialismus. Die Ökonomik und Kultur Rußlands sei dafür aber nicht reif. Wir müßten die demokratische Revolution zu Ende führen. Nur die sozialistische Revolution im Westen könne die Diktatur des Proletariats bei uns rechtfertigen. Das waren die Einwände Rykows auf der Aprilkonferenz. Daß die kulturökonomischen Bedingungen Rußlands an sich für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft ungenügend sind, war für Lenin das Abc. Doch die Gesellschaft ist durchaus nicht so rationell aufgebaut, daß die Fristen für die Diktatur des Proletariats gerade in dem Moment eintreten, wenn die ökonomischen und kulturellen Bedingungen für den Sozialismus gereift sind. Würde sich die Menschheit so planmäßig entwickeln, dann bestände keine Notwendigkeit für die Diktatur, wie für Revolutionen überhaupt. Es geht eben darum, daß die lebendige historische Gesellschaft durch und durch disharmonisch ist, und zwar um so mehr, je verspäteter ihre Entwicklung. Einen Ausdruck dieser Disharmonie bildet eben die Tatsache, daß in einem so rückständigen Lande wie Rußland die Bourgeoisie bereits vor dem vollen Siege des bürgerlichen Regimes gänzlich verfault ist und außer dem Proletariat niemand sie als Führer der Nation ersetzen kann. Rußlands ökonomische Rückständigkeit befreit die Arbeiterklasse nicht von der Pflicht, die ihr zukommende Aufgabe zu erfüllen, sie gestaltet nur diese Erfüllung äußerst schwierig. Rykow, der betont hatte, Sozialismus müsse aus Ländern mit entwickelterer Industrie kommen, erhielt von Lenin eine einfache, aber erschöpfende Antwort: „Es läßt sich nicht sagen, wer beginnen und wer beenden wird.“

Im Jahre 1921, als die Partei, von bürokratischer Verknöcherung noch weit entfernt, mit der gleichen Freimütigkeit ihre Vergangenheit beurteilte, wie sie ihre Zukunft vorbereitet hatte, beschäftigte sich einer der älteren Bolschewiki, Olminski, der an der Parteipresse auf allen Etappen ihrer Entwicklung leitenden Anteil genommen hatte, mit der Frage, wie die Tatsache zu erklären sei, daß die Partei im Moment der Februarrevolution auf den opportunistischen Weg geraten war. Und was ihr dann so schnell ermöglichte, auf die Oktoberbahn abzubiegen. Die Quelle der Märzirrungen sieht der genannte Autor ganz richtig in der Tatsache, daß die Partei den Kurs auf demokratische Diktatur „zu lange gehalten hat“. „“Die bevorstehende Revolution kann nur eine bürgerliche Revolution sein“ ... Das war“, sagt Olminski, „für jedes Parteimitglied ein obligatorisches Urteil, die offizielle Meinung der Partei, ihre ständige und unveränderliche Losung bis zur Februarrevolution 1917 und sogar einige Zeit danach.“ Zur Illustration könnte Olminski darauf verweisen, daß die Prawda noch vor Stalin und Kamenjew, das heißt unter der „linken“ Redaktion, einschließlich Olminskis, am 7. März wie selbstverständlich geschrieben hat: „Gewiß handelt es sich bei uns noch nicht um den Sturz der Herrschaft des Kapitals, sondern um den Sturz der Herrschaft des Absolutismus und Feudalismus“ ... Durch die zu kurze Visierung des Ziels geriet die Partei in die Märzgefangenschaft der bürgerlichen Demokratie. „Wie ist es dann zur Oktoberrevolution gekommen“, fragt der Autor weiter, „wie konnte es geschehen, daß die Partei, von den Führern bis zum letzten Mitglied, so „plötzlich“ sich von dem lossagte, was sie fast zwei Jahrzehnte hindurch als unumstößliche Wahrheit betrachtet hatte?“

Suchanow stellt als Gegner die gleiche Frage auf andere Weise: „Wie und wodurch hatte es Lenin verstanden, seine Bolschewiki zu besiegen?“ In der Tat, Lenins Sieg innerhalb der Partei war nicht nur voll, sondern auch in sehr kurzer Frist errungen. Die Gegner ironisierten aus diesem Anlaß überhaupt nicht wenig das persönliche Regime in der bolschewistischen Partei. Auf die von ihm aufgeworfene Frage gibt Suchanow selbst die Antwort ganz im Geiste des heroischen Prinzips: „Der geniale Lenin war eine historische Autorität – das ist die eine Seite der Sache. Die andere ist die, daß es außer Lenin in der Partei niemand und nichts gegeben hat. Einige bedeutendere Generale waren ohne Lenin – nichts, wie einige unerreichbare Planeten ohne die Sonne (ich lasse hier Trotzki außer acht, der damals noch nicht in den Reihen des Ordens stand).“ Diese kuriosen Zeilen versuchen, den Einfluß Lenins durch dessen Einfluß zu erklären, wie wenn etwa die Eigenschaft des Opiums, schläfrig zu machen, mit seiner einschläfernden Kraft erklärt wird.

Der tatsächliche Einfluß Lenins in der Partei war zweifellos sehr groß, aber doch keinesfalls unbeschränkt. Er blieb auch später nicht uneingeschränkt, nach dem Oktober, als Lenins Autorität außerordentlich gewachsen war, da die Partei seine Kraft an dem Metermaß der Weltereignisse nachgeprüft hatte. Um so unzureichender sind die nackten Hinweise auf die persönliche Autorität Lenins im April 1917, als die ganze führende Parteischicht bereits Zeit gefunden harte, eine Position einzunehmen, die der Leninschen entgegengesetzt war.

Viel näher an die Lösung der Frage geht Olminski heran, wenn er beweist, daß die Partei, trotz ihrer Formel der bürgerlich-demokratischen Revolution, sich durch ihre gesamte Politik der Bourgeoisie und Demokratie gegenüber faktisch seit langer Zeit darauf vorbereitet hatte, an die Spitze des Proletariats im unmittelbaren Kampfe um die Macht zu treten. „Wir (oder viele von uns)“, sagt Olminski, „hielten unbewußt den Kurs auf die proletarische Revolution, während wir vermeinten, den Kurs auf die bürgerlich-demokratische Revolution zu halten. Mit anderen Worten, wir bereiteten den Oktober vor, während wir glaubten, die Februarrevolution vorzubereiten.“ Eine sehr wertvolle Verallgemeinerung, die gleichzeitig eine einwandfreie Zeugenaussage ist!

In der theoretischen Erziehung der revolutionären Partei war ein Element des Widerspruches enthalten, der seinen Ausdruck in der zweideutigen Formel „demokratische Diktatur“ des Proletariats und der Bauernschaft fand. Eine Delegierte, die auf der Konferenz zum Referat Lenins Stellung nahm, äußerte den Gedanken Olminskis noch einfacher: „Die Prognose, die die Bolschewiki aufgestellt hatten, erwies sich als falsch, aber die Taktik war richtig.“

In den Aprilthesen, die so paradox schienen, stützte sich Lenin gegenüber der alten Formel auf die lebendige Tradition der Partei: ihre Unversöhnlichkeit gegen die herrschenden Klassen und Feindseligkeit gegen alle Halbheiten, während die „alten Bolschewiki“ der konkreten Entwicklung des Klassenkampfes zwar frische, aber bereits den Archiven gehörende Erinnerungen entgegenstellten. Lenin besaß eine zu sichere Stütze, die durch die ganze Geschichte des Kampfes der Bolschewiki und Menschewiki vorbereitet war. Es ist hier angebracht, zu erinnern, daß das offizielle sozialdemokratische Programm in jener Zeit bei Bolschewiki und Menschewiki noch gemeinsam war und die praktischen Aufgaben der demokratischen Revolution auf dem Papier bei beiden Parteien gleich aussahen. Doch waren sie in der Wirklichkeit durchaus nicht gleich. Die bolschewistischen Arbeiter ergriffen sofort nach der Umwälzung die Initiative des Kampfes um den Achtstundentag; die Menschewiki erklärten diese Forderung für unzeitgemäß. Die Bolschewiki leiteten die Verhaftung der zaristischen Beamten, die Menschewiki widersetzten sich „Exzessen“. Die Bolschewiki gingen energisch an die Schaffung der Arbeitermiliz, die Menschewiki bremsten die Bewaffnung des Proletariats, da sie es sich mit der Bourgeoisie nicht zu verderben wünschten. Noch ehe sie den Kreis der bürgerlichen Demokratie überschritten hatten, waren die Bolschewiki aus allen Kräften bestrebt, wenn auch durch die Führung vom Weg abgelenkt, wie unversöhnliche Revolutionäre zu handeln. Dagegen opferten die Menschewiki bei jedem Schritt das demokratische Programm im Interesse des Bündnisses mit den Liberalen. Bei völligem Fehlen demokratischer Verbündeter mußten Kamenjew und Stalin unvermeidlich in der Luft hängenbleiben.

Der Aprilzusammenstoß Lenins mit dem Generalstab der Partei ist nicht der einzige gewesen. In der ganzen Geschichte des Bolschewismus unter Abzug einzelner Episoden, die im Wesen die Regel nur bestätigen, standen alle Führer der Partei in allen wichtigen Momenten der Entwicklung rechts von Lenin. Zufällig? Nein! Lenin ist gerade darum der unbestrittene Führer der in der Weltgeschichte revolutionärsten Partei geworden, weil sein Denken und Wille letzten Endes den grandiosen revolutionären Möglichkeiten des Landes und der Epoche angemessen waren. Den anderen fehlten bald ein, bald zwei Zoll, oft aber auch mehr.

Fast die gesamte Führerschicht der bolschewistischen Partei befand sich in den Monaten und Jahren, die der Revolution vorangegangen waren, außerhalb der aktiven Arbeit. Viele hatten die lastenden Eindrücke der ersten Kriegsmonate in die Gefängnisse und die Verbannung mitgenommen und den Zusammenbruch der Internationale einsam oder in kleinen Gruppen erlebt. Wenn sie in den Reihen der Partei auch hinreichende Aufnahmefähigkeit für die Ideen der Revolution gezeigt hatten, was sie ja auch an den Bolschewismus fesselte, so besaßen sie, isoliert, doch nicht die Kraft, dem Drucke der Umgebung Widerstand zu leisten und selbständig die Ereignisse marxistisch einzuschätzen. Der ungeheure Umschwung, der sich in den Massen in den zweieinhalb Kriegsjahren vollzogen hatte, war fast außerhalb ihres Gesichtsfeldes geblieben. Die Umwälzung aber hatte sie nicht nur der Isoliertheit entrissen, sondern sie kraft ihrer autoritativen Stellung auf entscheidende Posten in der Partei gestellt. Ihren Stimmungen nach waren diese Elemente nicht selten der „Zimmerwalder“ Intelligenz viel näher als den revolutionären Arbeitern aus den Betrieben.

Die „alten Bolschewiki“, die ihren Ruf im April 1917 mit so viel aufgeblähtem Selbstbewußtsein nachlebten, waren zur Niederlage verurteilt, denn sie verteidigten gerade jenes Element der Parteitradition, das der geschichtlichen Nachprüfung nicht standgehalten hatte. „Ich gehöre zu den alten Bolschewiki-Leninisten“, sagte zum Beispiel auf der Petrograder Konferenz am 14. April Kalinin, „und vertrete die Ansicht, der alte Leninismus hat sich im gegenwärtigen, eigenartigen Moment keinesfalls als untauglich erwiesen, und ich kann über die Erklärung des Genossen Lenin nur staunen, daß die alten Bolschewiki im gegenwärtigen Moment ein Hemmnis geworden seien.“ Solche gekränkte Stimmen mußte Lenin in jenen Tagen nicht selten vernehmen. Mit der traditionellen Formel der Partei brechend, hörte Lenin indes nicht im geringsten auf, „Leninist“ zu sein: er warf die abgenutzte Schale des Bolschewismus beiseite, um dessen Kern zu neuem Leben zu erwecken. Gegen die alten Bolschewiki fand Lenin in einer anderen, bereits gestählten, aber frischeren und mehr mit den Massen verbundenen Parteischicht eine Stütze. In der Februarrevolution hatten die bolschewistischen Arbeiter, wie wir wissen, die entscheidende Rolle gespielt. Sie betrachteten es als selbstverständlich, daß jene Klasse die Macht übernehmen müsse, die den Sieg errungen hatte. Diese Arbeiter hatten stürmisch gegen den Kurs Kamenjew-Stalin protestiert und der Wyborger Bezirk sogar mit dein Ausschluß der „Führer“ aus der Partei gedroht. Das gleiche war in der Provinz zu beobachten. Fast überall gab es linke Bolschewiki, die man des Maximalismus und sogar des Anarchismus beschuldigte. Den revolutionären Arbeitern fehlten nur die theoretischen Mittel, um ihre Positionen zu verteidigen. Doch waren sie bereit, den ersten Zuruf mit Widerhall zu beantworten.

Nach dieser Arbeiterschicht, die während des Aufschwungs der Jahre 1912-1914 sich endgültig hochgerichtet hatte, orientierte sich Lenin. Schon zu Beginn des Krieges, als die Regierung durch die Zerschlagung der bolschewistischen Dumafraktion der Partei einen schweren Hieb zugefügt hatte, verwies Lenin, über die fernere revolutionäre Arbeit sprechend, auf die von der Partei erzogenen „Tausende klassenbewußte Arbeiter, aus denen, allen Schwierigkeiten zum Trotz, ein neues Führerkollektiv entstehen wird“.

Durch zwei Fronten von ihnen getrennt, fast ohne Verbindung, riß sich Lenin von ihnen doch niemals los. „Mag sie Krieg, Gefängnis, Sibirien, Katorga fünffach, zehnfach zerschlagen. Diese Schicht zu vernichten, ist unmöglich. Sie lebt. Sie ist von revolutionärem Geist und Antichauvinismus durchdrungen.“ In Gedanken erlebte Lenin die Ereignisse gemeinsam mit diesen Arbeiterbolschewiki, zog gemeinsam mit ihnen die notwendigen Schlüsse, nur breiter und kühner als sie. Zum Kampfe gegen die Unentschlossenheit des Stabes und der breiten Offiziersschicht der Partei stützte sich Lenin sicher auf die Unteroffiziersschicht, die den einfachen Arbeiterbolschewiken besser widerspiegelte.

Die zeitweilige Macht der Sozialpatrioten und die verhüllte Schwäche des opportunistischen Flügels der Bolschewiki bestanden darin, daß die ersteren sich auf die damaligen Vorurteile und Illusionen der Massen stützten und die anderen sich ihnen anpaßten. Die Hauptstärke Lenins war, daß er die innere Logik der Bewegung begriff und danach seine Politik richtete. Er zwang den Massen seinen Plan nicht auf. Er half den Massen, ihren eigenen Plan zu erkennen und zu verwirklichen. Als Lenin alle Probleme der Revolution auf das eine Problem zurückführte: „Geduldig aufklären“, hieß dies, das Bewußtsein der Massen mit jener Situation in Übereinstimmung zu bringen, in die der historische Prozeß sie hineingetrieben hatte. Arbeiter oder Soldat mußte, enttäuscht von der Politik der Versöhnler, auf Lenins Position übergehen, ohne sich auf der Zwischenetappe Kamenjew-Stalin aufzuhalten.

Sobald die Leninschen Formeln gegeben waren, erhellten sie vor den Bolschewiki die Erfahrung des verflossenen Monats und die Erfahrung jedes neuen Tages im neuen Lichte. Unter der breiten Parteimasse begann eine schnelle Differenzierung: nach links! nach links! zu den Thesen Lenins!

„Bezirk auf Bezirk“, sagte Saleschski, „schloß sich ihnen an, und auf der am 24. April versammelten Allrussischen Parteikonferenz sprach sich die Petrograder Organisation in ihrer Gesamtheit für die Thesen aus.“

Der Kampf um die Umbewaffnung der bolschewistischen Kader, der am Abend des 3. April begonnen hatte, war gegen Ende des Monats im wesentlichen bereits beendet. [1] Die Parteikonferenz, die in Petrograd vom 24.-29. April tagte, zog das Fazit des März, des Monats opportunistischer Schwankungen, und des Aprils, des Monats der scharfen Krise. Zu dieser Zeit war die Partei sehr stark gewachsen, sowohl zahlenmäßig wie politisch. 149 Delegierte vertraten 79.000 Parteimitglieder, davon 15.000 aus Petrograd. Für die gestern noch illegale und heute antipatriotische Partei eine imposante Zahl, und Lenin wiederholte sie mehrere Male mit Genugtuung. Die politische Physiognomie der Konferenz wurde schon bei der Wahl des fünfgliedrigen Präsidiums bestimmt: weder Kamenjew noch Stalin, die Hauptschuldigen des Märzunheils, kamen hinein.

Trotzdem die Streitfragen für die Partei im ganzen bereits fest entschieden waren, blieben viele Führer, an den gestrigen Tag gebunden, auf dieser Konferenz in Opposition oder Halbopposition zu Lenin. Stalin bewahrte Schweigen und wartete ab. Dserschinski forderte im Namen „vieler“, die „mit den Thesen des Referenten prinzipiell nicht einverstanden sind“, ein Korreferat seitens „der Genossen, die gemeinsam mit uns die Revolution praktisch erlebt haben“. Das war eine deutliche Anspielung auf den Emigrantencharakter der Leninschen Thesen. Kamenjew trat tatsächlich auf der Konferenz mit einem Korreferat auf zur Verteidigung der bürgerlich-demokratischen Diktatur. Rykow, Tomski und Kalinin versuchten mehr oder weniger, bei ihren Märzpositionen zu verharren. Kalinin fuhr fort, auf der Vereinigung mit den Menschewiki zu bestehen, im Interesse des Kampfes gegen den Liberalismus. Ein angesehener Moskauer Parteiarbeiter, Smidowitsch, führte leidenschaftlich Klage: „Wo immer wir auftreten, wird gegen uns ein Schreckgespenst in Gestalt der Thesen des Genossen Lenin gerichtet.“ Früher, solange die Moskauer für die Resolutionen der Menschewiki stimmten, ließ es sich viel ruhiger leben.

Als Schüler Rosa Luxemburgs trat Dserschinski gegen das Selbstbestimmungsrecht der Nationen auf und beschuldigte Lenin der Förderung separatistischer Tendenzen, die das Proletariat Rußlands schwächten. Auf die Gegenanklage wegen Unterstützung des großrussischen Chauvinismus antwortete Dserschinski: „Ich kann ihm (Lenin) den Vorwurf machen, daß er auf dem Standpunkt polnischer, ukrainischer und anderer Chauvinisten steht.“ Dieser Dialog entbehrt nicht politischer Pikanterie: der Großrusse Lenin beschuldigt den Polen Dserschinski des großrussischen, gegen die Polen gerichteten Chauvinismus und wird von diesem des polnischen Chauvinismus beschuldigt. Das politische Recht war auch in diesem Streitfall völlig auf seiten Lenins. Seine nationale Politik ging als wichtiges Grundelement in die Oktoberrevolution ein.

Die Opposition erlosch merklich. In den strittigen Fragen brachte sie nicht mehr als sieben Stimmen zusammen. Es gab jedoch eine bemerkenswerte und krasse Ausnahme, die die internationalen Verbindungen der Partei betraf. Knapp vor Schluß der Arbeiten, in der Abendsitzung des 29. April, brachte Sinowjew im Namen einer Kommission folgenden Resolutionsentwurf ein: „An der auf den 18. Mai anberaumten internationalen Konferenz der Zimmerwalder teilzunehmen“ (in Stockholm). Das Protokoll lautet: „Angenommen mit allen Stimmen gegen eine.“ Diese eine Stimme war Lenin. Er verlangte den Bruch mit Zimmerwald, wo die Mehrheit endgültig bei den deutschen Unabhängigen und den neutralen Pazifisten vom Schlag des Schweizers Grimm angelangt war. Für die russischen Parteikader jedoch war Zimmerwald während des Krieges fast identisch mit dem Bolschewismus geworden. Die Delegierten weigerten sich, sowohl auf den Namen Sozialdemokratie zu verzichten, wie mit Zimmerwald zu brechen, das ihnen immer noch als eine Verbindung mit den Massen der Zweiten Internationale erschien. Lenin versuchte, die Beteiligung an der bevorstehenden Konferenz wenigstens auf rein informatorische Zwecke zu begrenzen. Sinowjew trat dagegen auf. Der Antrag Lenins ging nicht durch. Darauf stimmte er gegen die ganze Resolution. Niemand unterstützte ihn. Das war letztes Aufflackern der „März“-Stimmungen, Festklammern an die gestrigen Positionen, Angst vor „Isolierung“. Die Konferenz fand jedoch überhaupt nicht statt, und zwar infolge der gleichen inneren Krankheiten von Zimmerwald, die Lenin gerade bewogen hatten, mit ihm zu brechen. Die gegen eine Stimme abgelehnte Boykottpolitik wurde auf diese Weise doch verwirklicht.

Der schroffe Charakter der Wendung, die in der Politik der Partei vorgenommen worden war, wurde für alle offenbar. Schmidt, Arbeiterbolschewik, später Volkskommissar für Arbeit, sagte auf der Aprilkonferenz: „Lenin hat dem Charakter der Parteitätigkeit eine neue Richtung gegeben.“ Nach dem, allerdings einige Jahre später geschriebenen Ausdruck Raskolnikows hat Lenin im April 1917 „die Oktoberrevolution im Bewußtsein der Parteileiter vollzogen ... Die Taktik unserer Partei bildet keine gerade Linie, nach der Ankunft Lenins machte sie eine schroffe Kurve nach links.“ Unmittelbarer und gleichzeitig präziser beurteilt die alte Bolschewistin Ludmilla Stahl die Änderung: „Alle Genossen haben bis zur Ankunft Lenins im Dunkeln getappt“, sagte sie am 14. April auf der Stadtkonferenz. „Es gab nur die Formeln von 1905. Angesichts seiner selbständigen Schöpfung vermochten wir nicht das Volk zu lehren ... Unsere Genossen konnten sich nur auf die Vorbereitung zur Konstituierenden Versammlung mit parlamentarischen Mitteln beschränken und nicht die Möglichkeit berechnen, weiter zu schreiten. Wenn wir die Parolen Lenins akzeptieren, tun wir nur, was uns das Leben selbst eingibt. Man darf sich vor der Kommune, weil das ja schon eine Arbeiterregierung ist, nicht fürchten. Die Pariser Kommune war nicht ausschließlich eine Arbeiterkommune, sondern auch kleinbürgerlich.“ Man kann Suchanow zustimmen, daß die Umbewaffnung der Partei „der wichtigste und grundlegende Sieg Lenins, abgeschlossen Anfang Mai, gewesen ist.“ Allerdings, Suchanow meinte, Lenin habe bei dieser Operation die marxistischen Waffen mit den anarchistischen vertauscht.

Es bleibt zu fragen, und es ist keine unwichtige Frage, obwohl sie leichter zu stellen als zu beantworten ist: welche Entwicklung würde die Revolution genommen haben, wenn Lenin im April 1917 Rußland nicht erreicht hätte? Wenn unsere Darstellung überhaupt etwas beweist und nachweist, so ist es, hoffen wir, dies, daß Lenin nicht Schöpfer des revolutionären Prozesses war, sondern sich nur in die Kette der objektiven historischen Kräfte eingegliedert hat. Doch war er in dieser Kette ein großes Glied. Die Diktatur des Proletariats ergab sich aus der ganzen Situation. Aber man mußte sie erst errichten. Sie war ohne die Partei nicht zu errichten. Die Partei jedoch konnte ihre Mission nur erfüllen, nachdem sie sie erkannt hatte. Dazu war eben Lenin notwendig. Bis zu seiner Ankunft war nicht einer der bolschewistischen Führer imstande gewesen, die Diagnose der Revolution zu stellen. Die Führung Kamenjew-Stalin wurde durch den Lauf der Dinge nach rechts geschleudert, zu den Sozialpatrioten: zwischen Lenin und dem Menschewismus ließ die Revolution keinen Raum für Mittelpositionen. Der innere Kampf in der bolschewistischen Partei war vollkommen unvermeidlich. Lenins Ankunft hat den Prozeß nur beschleunigt. Sein persönlicher Einfluß hat die Krise verkürzt. Kann man aber mit Bestimmtheit sagen, die Partei würde auch ohne ihn ihren Weg gefunden haben? Dies zu behaupten, könnten wir uns keinesfalls entschließen. Der Faktor Zeit entscheidet hier, und hinterher läßt sich schwer auf die Uhr der Geschichte blicken. Dialektischer Materialismus hat jedenfalls nichts mit Fatalismus gemein. Die Krise, die die opportunistische Leitung unvermeidlich hervorrufen mußte, würde ohne Lenin einen besonders scharfen und langwierigen Charakter angenommen haben. Die Bedingungen des Krieges und der Revolution ließen aber der Partei für die Erfüllung ihrer Mission keine langen Fristen. Es ist deshalb ganz und gar nicht ausgeschlossen, daß die desorientierte und zerrissene Partei die revolutionäre Situation auf viele Jahre hinaus verpassen konnte. Die Rolle der Persönlichkeit tritt hier vor uns wahrhaft gigantischem Maßstabe auf. Nur muß man diese richtig begreifen und die Persönlichkeit als ein Glied der historischen Kette betrachten.

Lenins „plötzliche“ Ankunft aus dem Auslande nach langer Abwesenheit, der wilde Lärm der Presse um seinen Namen, der Zusammenstoß Lenins mit allen Führern der eigenen Partei und sein schneller Sieg über sie – kurz die äußere Hülle der Ereignisse hat in diesem Falle stark zur mechanischen Gegenüberstellung von Person, Held, Genie, objektiven Verhältnissen, Masse, Partei beigetragen. In Wirklichkeit ist eine solche Gegenüberstellung völlig einseitig. Lenin war kein zufälliges Element der historischen Entwicklung, sondern Produkt der gesamten vergangenen russischen Geschichte. Er war tief in ihr verwurzelt. Gemeinsam mit den fortgeschrittenen Arbeitern hatte er während des vorangegangenen Vierteljahrhunderts ihren ganzen Kampf mitgemacht. „Zufall“ war nicht sein Eingreifen in die Ereignisse, sondern eher jener Strohhalm, mit dem Lloyd George ihm den Weg zu sperren versucht hatte. Lenin stand der Partei nicht von außen gegenüber sondern er war ihr vollendetster Ausdruck. Indem er sie erzog, erzog er sich an ihr. Sein Auseinandergehen mit der Führerschicht der Bolschewiki bedeutete den Kampf des morgigen Tages der Partei mit ihrem gestrigen Tage. Wäre Lenin nicht künstlich durch Emigration und Krieg von der Partei getrennt gewesen, so wäre die äußere Mechanik der Krise nicht so dramatisch und die innere Kontinuität der Parteientwicklung nicht so verhüllt. Aus jener besonderen Bedeutung, die Lenins Ankunft erhalten hat, ergibt sich nur, daß Führer nicht zufällig erstehen, daß ihre Auslese und Erziehung Jahrzehnte erfordern, daß sie nicht willkürlich zu ersetzen sind, daß ihre mechanische Ausschaltung aus dem Kampfe der Partei eine offene Wunde zufügen und unter Umständen die Partei für lange Zeit paralysieren kann.

 

Fußnote von Trotzki

1. Am gleichen Tag, als Lenin in Petrograd ankam, holte jenseits des Atlantischen Ozeans, bei Halifax, die britische Seepolizei fünf Emigranten von dem norwegischen dampfer Christianiafjord berunter, die auf der Rückkehr aus New York nach Rußland waren: Trotzki, Tschudnowski, Melnitschanski, Muschin, Fischelew, und Romantschenko. diese Personen erhielten erst am 4. Mai die Möglichkeit, nach petrograd zu kommen, als die poloitische Umbewaffnung der bolschewistischen partei mindestens im gröbsten beendet war. Wir erachten es deshalb für nicht angebracht, in den Text unseres Berichtes die Darstellung jener Absichten über die Revolution einzufügen, die Trotzki in der damals in New York erschienenen russischen Tageszeitung entwickelte. Da andererseits die Kenntnis dieser Ansicht dem Leser für dioe weiteren Parteigruppierungen und insbesondere für den Ideenkampf am Vorabend des Oktobers erleichtern dürfte, so halten wir es für zweckmäßif, die darauf bezügliche Auskunft auszusondern und sie am ende des Buches als Anhang beizugeben. Der Leser, der sich an einem detaillierten Studium der theoretischen Vorbereitung der Oktoberrevolution desinteressiert glaubt, mag ruhig an diesem Anhang vorübergehen. (Anhang Nr.2)

 


Zuletzt aktualisiert am 23.1.2005