Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 20:
Die Bauernschaft

Das Fundament der Revolution bildete die Agrarfrage. In den archaischen Rechtsverhältnissen auf dem Lande, die unmittelbar aus der Leibeigenschaft hervorgegangen waren, in der traditionellen Gewalt des Gutsbesitzers, in den engen Banden zwischen Gutsbesitzer, Lokaladministration und ständischer Landesverwaltung wurzelten die barbarischsten Erscheinungen des russischen Lebens, gekrönt durch die Rasputinsche Monarchie. Der Muschik, der die Stütze des jahrhundertealten Asiatentums darstellte, war gleichzeitig eines seiner ersten Opfer.

In den ersten Wochen nach der Februarumwälzung blieb das Dorf fast völlig reglos. Die aktivsten Jahrgänge befanden sich an der Front. Die älteren Generationen, die zu Hause geblieben waren, erinnerten sich nur zu gut an die Strafexpeditionen als das Ende der Revolution. Das Dorf schwieg, deshalb schwieg auch die Stadt über das Dorf. Doch das Gespenst des Bauernkrieges schwebte schon von den Märztagen an über den Gutsnestern. Aus den überwiegend adligen, das heißt rückständigsten und reaktionärsten Gouvernements erscholl der Hilferuf, bevor noch die wirkliche Gefahr sich offenbart hatte. Die Liberalen spiegelten trefflich die Ängste der Gutsbesitzer wider. Die Versöhnler die Stimmung der Liberalen. „Das Agrarproblem in den nächsten Wochen zu forcieren“, räsonierte der „linke“ Suchanow nach der Umwälzung, „ist schädlich, und es besteht nicht die geringste Notwendigkeit dafür.“ Genauso wähnte Suchanow, wie wir wissen, daß es schädlich wäre, die Friedensfrage und den Achtstundentag zu forcieren. Sich vor Schwierigkeiten verkriechen war einfacher. Überdies schreckten die Gutsbesitzer noch damit, daß eine Erschütterung der Rechtszustände auf dem Lande sich auf Aussaat und Versorgung der Städte schädlich auswirken würde. Das Exekutivkomitee schickte warnende Telegramme ins Land, man möge sich „nicht zu Agrarakten zuungunsten der Städteversorgung hinreißen lassen“.

An vielen Orten hielten die Gutsbesitzer, durch die Revolution erschrocken, mit der Frühjahrsaussaat zurück. Bei der schwierigen Ernährungslage des Landes schrie der unbestellte Boden gleichsam nach einem neuen Herrn. Die Bauernschaft rührte sich dumpf. Da sie der neuen Macht nicht vertrauten, schritten die Gutsbesitzer an die schleunige Liquidierung ihrer Besitztümer. In der Berechnung, daß die Zwangsexpropriationen sich auf sie, als Bauern, nicht erstrecken würden, kauften die Kulaken in großem Maße Gutsländereien auf. Zahlreiche Bodenverkäufe trugen vorsätzlich fiktiven Charakter. Man ging davon aus, daß der Privatbesitz unter einer bestimmten Norm verschont bleiben würde; in Anbetracht dessen teilten die Gutsbesitzer ihre Ländereien in kleine Reviere ein, die sie auf vorgeschobene Besitzer übertrugen. Nicht selten wurde der Boden auf Ausländer, Bürger der alliierten oder neutralen Länder, überschrieben. Die Spekulationen der Kulaken und die Machenschaften der Gutsbesitzer drohten, vom Bodenfonds bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung nichts übrigzulassen.

Das Dorf sah diese Manöver. Daher die Forderung: durch ein Dekret jeglichen Bodentransaktionen Einhalt zu gebieten. Von überall strömten Fürsprecher der Bauern in die Stadt, zu der neuen Behörde, Land und Wahrheit zu suchen. Nach erhabenen Disputen oder Ovationen stießen die Minister nicht selten beim Ausgang auf die grauen Gestalten der Bauerndeputierten. Suchanow erzählt, wie ein Bauernfürsprecher mit Tränen in den Augen die Bürger-Minister anflehte, ein Gesetz zu erlassen, das den Bodenfonds gegen Ausverkäufe schützen sollte. „Ungeduldig unterbrach ihn der erregte und blasse Kerenski: Ich habe gesagt, es wird gemacht, folglich wird es gemacht ... Und es ist nicht nötig, mich mit mißtrauischen Augen anzuschauen.“ Suchanow, der dieser Szene beiwohnte, fügt hinzu: „Ich zitiere wörtlich, – und Kerenski hatte recht: mit mißtrauischen Augen blickten die Muschiks auf den berühmten Volksminister und Führer.“ In diesem kurzen Dialog zwischen dem Bauern, der noch bittet, aber nicht mehr vertraut, und dem radikalen Minister, der das Mißtrauen des Bauern abwehrt, liegt die Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs des Februarregimes.

Die Bestimmungen über die Landkomitees, als Vorbereitungsorgane für die Agrarreform, waren vom ersten Ackerbauminister, dem Kadetten Schingarow, erlassen worden. Das oberste Landkomitee, mit dem liberal-bürokratischen Professor Postnikow an der Spitze, bestand hauptsächlich aus Narodniki, die sich besonders davor fürchteten, weniger gemäßigt zu erscheinen als ihr Vorsitzender. Die lokalen Landkomitees wurden in den Gouvernements, Kreisen und Bezirken errichtet. Galten die Sowjets, die sich im Dorfe nur schwer durchsetzten, als Privatorgane, so hatten die Landkomitees Regierungscharakter. Je unbestimmter der Lage nach ihre Funktionen waren, um so schwerer konnten sie dem Druck der Bauernschaft Widerstand leisten. Je niedriger auf der hierarchischen Leiter ein Komitee stand, je näher es dem Lande war, um so eher wurde es zum Werkzeug der Bauernbewegung.

Ende März tauchten in der Hauptstadt die ersten beunruhigenden Nachrichten auf über das Erscheinen von Bauern auf dem Schauplatz. Der Nowgoroder Kommissar gibt telegraphisch Nachricht über Unruhen, die ein Fähnrich Panasjuk stifte, über „unbegründete Verhaftungen von Gutsbesitzern“ usw. Im Tambower Gouvernement wird von einer Bauernmenge mit einigen entlassenen Soldaten an der Spitze ein Gutshof geplündert. Die ersten Meldungen sind zweifellos übertrieben, die Gutsbesitzer bauschen in ihren Beschwerden offensichtlich die Zusammenstöße auf und greifen den Ereignissen vor. Was aber keinem Zweifel unterliegt, ist die führende Teilnahme von Soldaten an der Bauernbewegung, die von der Front und den Stadtgarnisonen Initiativgeist mitbringen.

Ein Bezirkskomitee im Gouvernement Charkow beschließt am 5. April, bei den Bodenbesitzern Haussuchungen nach Waffen vorzunehmen. Dies ist bereits eine deutliche Vorahnung des Bürgerkrieges. Die Entstehung von Unruhen im Skopinski-Kreis, Gouvernement Rjasan, erklärt der Kommissar damit, daß das Exekutivkomitee des Nachbarkreises die Zwangsverpachtung des gutsherrlichen Bodens an die Bauern verfügte. „Die Agitation der Studenten für die Wahrung der Ruhe bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung hat keinen Erfolg.“ So erfahren wir, daß „Studenten“, die in der ersten Revolution zum Agrarterror aufgerufen hatten – das war zu jener Zeit die Taktik der Sozialrevolutionäre –, im Jahre 1917 dagegen Ruhe und Gesetzlichkeit, allerdings erfolglos predigten.

Der Kommissar des Gouvernements Simbirsk zeichnet ein Bild der anschwellenden Bauernbewegung: die Bezirks- und Dorfkomitees – von ihnen wird noch im weiteren die Rede sein – verhaften Gutsbesitzer, weisen sie aus dem Gouvernement aus, entfernen die Arbeiter von den gutsherrlichen Feldern, beschlagnahmen den Boden und bestimmen eigenmächtig den Pachtzins. „Die vom Exekutivkomitee entsandten Delegierten gehen auf die Seite der Bauern über.“ Gleichzeitig setzt die Bewegung der Gemeindemitglieder gegen die Siedler ein, das heißt gegen die Großbauern, die auf Grund des Stolypinschen Gesetzes vom 9. November 1906 sich mit selbständigen Landstücken ausgesondert hatten. „Die Lage im Gouvernement gefährdet die Feldbestellung.“ Der Simbirsker Gouvernementskommissar sieht bereits im April keinen anderen Ausweg, als die unverzügliche Proklamierung des Bodens zum Nationaleigentum mit der Bestimmung, daß die Art der Landbenutzung später von der Konstituierenden Versammlung festgelegt werden solle.

Aus dem Kreise Kaschirski, dicht bei Moskau, kommen Klagen, das Exekutivkomitee verleite die Bevölkerung zur Aneignung kirchlicher, klösterlicher und gutsherrlicher Ländereien. Im Gouvernement Kursk holen die Bauern die Kriegsgefangenen von der Arbeit auf den Gütern heraus und setzen sie sogar im Ortsgefängnis fest. Nach den Bauernkongressen beginnen die Bauern des Gouvernements Pensa – geneigt, die Resolutionen der Sozialrevolutionäre über Land und Freiheit wörtlich zu nehmen – die kürzlich mit den Bodenbesitzern abgeschlossenen Verträge zu verletzen. Gleichzeitig eröffnen sie einen Feldzug gegen die neuen Regierungsorgane. „Bei der Bildung der Bezirks- und Kreisexekutivkomitees im Monat März wurden in der Mehrzahl Vertreter der Intelligenz gewählt; später jedoch“, berichtet der Pensaer Kommissar, „wurden Stimmen gegen sie laut, und schon Mitte April bestanden die Komitees überall ausschließlich aus Bauern, die in der Bodenfrage offen ungesetzliche Tendenzen vertraten.“

Eine Gruppe des benachbarten Kasaner Gouvernements erhob bei der Provisorischen Regierung Beschwerde über die Unmöglichkeit, die Wirtschaft fortzuführen, da die Bauern die Feldarbeiter verjagen, die Saat wegnehmen, an vielen Orten die ganze Habe von den Gehöften wegtragen, den Gutsbesitzer hindern, in seinem Walde Holz zu fällen, mit Gewalt und Tod drohen. „Es gibt kein Recht, alle tun, was sie wollen, der vernünftige Teil wird terrorisiert.“ Die Kasaner Gutsbesitzer wissen bereits, wer die Schuld an der Anarchie hat: „Die Verfügungen der Provisorischen Regierung sind im Dorfe unbekannt, dafür aber sind die Flugblätter der Bolschewiki sehr verbreitet.“

Indes herrschte an Verfügungen der Provisorischen Regierung kein Mangel. Durch ein Telegramm vom 20. März stellte Fürst Lwow den Kommissaren anheim, Bezirkskomitees als Organe der Ortsbehörde zu schaffen, und empfahl ihnen, zur Arbeit „die örtlichen Bodenbesitzer und alle intellektuellen Kräfte des Dorfes hinzuzuziehen“. Es war beabsichtigt, das gesamte Staatsregime nach dem System der Friedenskammern zu organisieren. Die Kommissare jedoch waren bald gezwungen, über die Verdrängung der „intellektuellen Kräfte“ zu klagen, der Muschik mißtraute offensichtlich den Kreis- und Dorfkerenskis.

Am 3. April dekretiert Fürst Lwows Stellvertreter, Fürst Urussow – das Innenministerium war, wie wir sehen, mit hohen Titeln ausgestattet –, keine Willkür zu dulden und insbesondere „die Freiheit jedes Bodenbesitzers, über sein Land unbeschränkt zu verfügen“, das heißt, die süßeste aller Freiheiten, zu schützen. Nach zehn Tagen hält es Fürst Lwow für nötig, sich selbst zu mühen und den Kommissaren anzuordnen, „mit der ganzen Kraft des Gesetzes jegliche Äußerung von Gewalt und Plünderung zu unterdrücken“. Nach weiteren zwei Tagen befiehlt Fürst Urussow einem Gouvernementskommissar, „Maßnahmen zu treffen zum Schutze der Gestüte gegen Willkürakte, indem man den Bauern auseinandersetzt“ ... und so weiter. Am 18. April ist Fürst Urussow darüber besorgt, daß die Kriegsgefangenen, die auf den Gütern arbeiten, maßlose Forderungen zu stellen beginnen, und er schreibt den Kommissaren vor, die Vermessenen auf Grund der Vollmachten, über die früher die zaristischen Gouverneure verfügten, zu bestrafen. Zirkulare, Verfügungen, telegraphische Anordnungen rinnen in ununterbrochenem Regen von oben nach unten. Am 12. Mai zählt Fürst Lwow in einem neuen Telegramm die Ausschreitungen auf, die „im ganzen Lande nicht aufhören wollen: willkürliche Verhaftungen, Haussuchungen, Entsetzung aus Ämtern, Besitzverwaltungen, Fabrikleitungen; Plünderungen, Räubereien, Freibeutertum; Gewaltakte an Amtspersonen; Belegung der Bevölkerung mit Steuern; Aufhetzung eines Teiles der Bevölkerung gegen den anderen,“ usw. usw. „Alle Akte solcher Art haben als offen rechtswidrig, in gewissen Fällen sogar als anarchistisch zu gelten“ ... Die Qualifizierung ist nicht sehr klar, wohl aber die Schlußfolgerung: „die energischsten Maßnahmen zu treffen“. Die Gouvemementskommissare leiteten die Zirkulare energisch weiter an die Kreise, die Kreiskommissare drückten auf die Bezirkskomitees, und alle gemeinsam offenbarten sie ihre Ohnmacht vor dem Muschik.

Fast überall greifen die in der Nähe liegenden Truppenteile ein. Sehr häufig machen sie den Anfang. Die Bewegung nimmt äußerst mannigfaltige Formen an, je nach den lokalen Verhältnissen und dem Grade der Kampfverschärfung. In Sibirien, wo es keine Gutsbesitzer gibt, eignen sich die Bauern Kirchen- und Klostergüter an. Übrigens ist die Geistlichkeit auch in anderen Landesteilen übel dran. Im frommen Gouvernement Smolensk setzt man, unter dem Einfluß von der Front zurückgekehrter Soldaten, die Popen und Mönche gefangen. Die örtlichen Organe sehen sich oft gezwungen, weiterzugehen, als sie es möchten, um der Anwendung radikalerer Maßnahmen seitens der Bauern vorzubeugen. Ein Kreisexekutivkomitee des Gouvernements Samara bestimmte Anfang Mai die öffentliche Vormundschaft über das Gut des Grafen Orlow-Dawydow, um diesen so gegen die Bauern zu schützen. Da das von Kerenski versprochene Dekret über das Verbot von Landverkäufen doch nicht herauskam, begannen die Bauern den Ausverkauf der Besitzungen auf eigene Faust zu verhindern, indem sie Landvermessungen nicht zuließen. Die Beschlagnahme von Waffen, sogar Jagdgewehren, bei den Gutsbesitzern greift immer mehr um sich. Die Bauern des Gouvernements Minsk, klagt der Kommissar, „betrachten die Resolutionen des Bauernkongresses als Gesetz“. Wie konnte man sie auch anders verstehen? Waren doch diese Kongresse die einzige reale Macht auf dem Lande. So enthüllt sich das große Mißverständnis zwischen der sozialrevolutionären Intelligenz, die sich an Worten verschluckt, und der Bauernschaft, die Taten fordert.

Ende Mai geriet die große asiatische Steppe in Bewegung. Die Kirgisen, denen die Zaren zugunsten ihrer Lakaien die besten Ländereien weggenommen hatten, erheben sich jetzt gegen die Gutsbesitzer, indem sie sie auffordern, ihre Diebesgüter schnellstens zu liquidieren. „Diese Ansicht festigt sich in der Steppe“, meldet der Kommissar von Akmolinsk.

Am anderen Ende des Landes, im Gouvernement Livland, entsandte das Kreis-Exekutivkomitee eine Untersuchungskommission in Sachen der Plünderung auf dem Gute des Barons Stahl von Holstein. Die Kommission fand die Unruhen unbedeutend, die Anwesenheit des Barons im Kreise die Ruhe gefährdend und verfügte: ihn mitsamt der Baronin zur Verfügung der Provisorischen Regierung nach Petrograd zu schaffen. So entstand einer der zahllosen Konflikte zwischen Ortsbehörde und Zentralmacht, zwischen Sozialrevolutionären unten und Sozialrevolutionären oben.

Der Bericht vom 27. Mai aus dem Pawlograder Kreise im Gouvernement Jekaterinoslaw schildert fast idyllische Zustände: die Mitglieder des Landkomitees klären die Bevölkerung über alle Mißverständnisse auf, womit sie „jeglichen Exzessen vorbeugen“. Aber ach, dieses Idyll wird nur kurze Wochen währen.

Der Vorsteher eines der Klöster in Kostroma beschwert sich Ende Mai bei der Provisorischen Regierung bitter über die Requisition eines Drittels des klösterlichen Hornviehs durch die Bauern. Der ehrwürdige Mönch sollte bescheidener sein: bald wird er auch von den übrigen zwei Dritteln Abschied nehmen müssen.

Im Gouvernement Kursk beginnen Verfolgungen gegen die Siedler, die sich weigerten, in die Dorfgemeinschaft zurückzukehren. Die Bauernschaft will vor der großen Agrarumwälzung, vor der schwarzen Neuverteilung als ein Ganzes auftreten. Innere Scheidungen könnten ein Hindernis werden. Der Mir [1] muß wie ein Mann auftreten. Der Kampf um das gutsherrliche Land wird deshalb von Gewaltakten gegen die Siedler, das heißt die Bodenindividualisten, begleitet.

Am letzten Maitag wird im Gouvernement Perm der Soldat Samojlow verhaftet, der zur Steuerverweigerung aufgefordert hatte. Bald wird der Soldat Samojlow andere verhaften. Bei der Kirchenprozession in einem Dorfe des Charkower Gouvernements zerhackte der Bauer Grizenko vor den Augen des ganzen Dorfes mit einem Beil das geweihte Bild des heiligen Nikolaus. So entstehen die verschiedenartigsten Formen des Protestes und verwandeln sich in Taten.

Ein Seeoffizier und Gutsbesitzer gibt in den anonymen Aufzeichnungen eines Weißgardisten ein interessantes Bild der Evolution des Dorfes während der ersten Monate nach der Umwälzung. Auf alle Posten „wurden fast überall Menschen aus bürgerlichen Schichten gewählt. Alle waren nur um das eine bemüht, – die Ordnung aufrechtzuerhalten“. Zwar erhoben die Bauern die Forderung nach Land, aber in den ersten zwei, drei Monaten ohne Gewaltanwendung. Im Gegenteil, man konnte immer Worte hören wie „wir wollen nicht plündern, wir wünschen im Einvernehmen zu bekommen“ usw. In diesen beruhigenden Versicherungen vernahm jedoch das Ohr des Leutnants eine „versteckte Drohung“. In der Tat, wenn auch die Bauernschaft in der ersten Periode nicht zur Gewalt griff so begann sie doch, den Kräften der sogenannten Intelligenz „mit einem Male ihre Mißachtung zu bezeigen“. Die halbabwartende Stimmung dauerte, nach den Worten des Weißgardisten, bis Mai/Juni, „wonach sich bald eine schroffe Wendung bemerkbar machte, die Tendenz auftauchte, den Gouvernementsbestimmungen zu widersprechen, die Angelegenheiten nach eigenem Ermessen zu erledigen“ ... Mit anderen Worten, die Bauernschaft ließ der Februarrevolution eine Frist von ungefähr drei Monaten zur Begleichung der sozialrevolutionären Wechsel, um dann selbständig zur Eintreibung überzugehen.

Der Soldat Tschinenow, der sich den Bolschewiki angeschlossen hatte, reiste nach der Umwälzung zweimal von Moskau nach seinem Heimatort im Gouvernement Orel. Im Mai herrschten im Bezirk die Sozialrevolutionäre. An vielen Orten zahlten die Muschiks den Gutsbesitzern noch die Pacht. Tschinenow organisierte eine bolschewistische Zelle aus Soldaten, Landarbeitern und Landarmen. Die Zelle predigte Einstellung der Steuerzahlungen und Zuteilung von Boden an Landlose. Man machte sofort eine Aufstellung der gutsherrlichen Wiesen, verteilte sie unter den Dörfern und mähte sie ab. „Die Sozialrevolutionäre, die im Bezirkskomitee saßen, schrien über die Ungesetzlichkeit unserer Handlungen, verzichteten aber nicht auf ihren Teil Heu.“ Da die Bezirksvertreter aus Angst vor der Verantwortung ihre Vollmachten niederlegten, wählten die Bauern andere, entschlossenere. Das waren bei weitem nicht immer Bolschewiki. Durch ihren unmittelbaren Druck spalteten die Bauern die sozialrevolutionäre Partei, indem sie die revolutionären Elemente von den Bürokraten und Karrieremachern trennten. Nachdem sie das Gras der Gutsherren abgemäht hatten, machten sich die Muschiks an die Brachfelder und verteilten den Boden für die Wintersaat. Die bolschewistische Zelle faßte den Beschluß, die Speicher der Gutsbesitzer zu untersuchen und die Brotvorräte in das hungernde Zentrum zu senden. Die Verfügungen der Zelle wurden ausgeführt, da sie den Stimmungen der Bauern entsprachen. Tschinenow brachte bolschewistische Literatur nach Hause, von der dort bisher niemand eine Ahnung gehabt hatte. „Die Ortsintelligenz und die Sozialrevolutionäre verbreiteten das Gerücht, ich brächte viel deutsches Gold mit und besteche die Bauern.“ In verschiedenen Maßstäben entwickeln sich überall die gleichen Prozesse. Jeder Bezirk hatte seine Miljukows, seine Kerenskis und – seine Lenins.

Im Gouvernement Smolensk verstärkte sich der Einfluß der Sozialrevolutionäre nach dem Gouvemementskongreß der Bauerndeputierten, der sich, wie üblich, für den Übergang des Bodens in die Hände des Volkes ausgesprochen hatte. Die Bauern nahmen diesen Beschluß restlos an, aber, zum Unterschiede von den Führern, ernsthaft. Nunmehr wächst die Zahl der Sozialrevolutionäre im Dorfe ununterbrochen. „Wer bei irgendeinem Kongreß in der Fraktion der Sozialrevolutionäre gewesen war“, berichtet ein Politiker jener Gegend, „hielt sich für einen Sozialrevolutionär oder ähnliches“ ... In der Kreisstadt standen zwei Regimenter, die sich gleichfalls unter dem Einfluß der Sozialrevolutionäre befanden. Die Bezirkskomitees begannen, den gutsherrlichen Acker zu bestellen und die Wiesen abzumähen. Der Gouvernementskommissar, der Sozialrevolutionär Jefimow, schickte Drohbefehle. Das Dorf stutzte: der gleiche Kommissar hatte doch auf dem Gouvernementskongreß gesagt, die Bauern seien jetzt selbst die Macht, und Nutznießer des Bodens dürfe nur der sein, der ihn bearbeite. Aber man mußte den Tatsachen Rechnung tragen. Auf Anordnung des sozialrevolutionären Kommissars Jefimow wurden in den nächsten Monaten allein im Jelninski-Kreis von 17 Bezirkskomitees 16 wegen Aneignung gutsherrlicher Länder vor Gericht gestellt. Auf diese eigenartige Weise ging der Roman der Volkstümler-Intelligenz mit dem Volke seiner Lösung entgegen. Im ganzen Kreise gab es drei, vier Bolschewiki, nicht mehr. Ihr Einfluß war jedoch im schnellen Wachsen und verdrängte oder spaltete die Sozialrevolutionäre.

Anfang Mai wurde ein allrussischer Bauernkongreß nach Petrograd einberufen. Die Vertretung trug einen repräsentativen und in vielen Fällen rein zufälligen Charakter. Blieben schon die Arbeiter- und Soldatenkongresse hinter den Ereignissen und der politischen Evolution der Massen ständig zurück, so braucht nicht erst gesagt zu werden, wie weit die Vertretung der zersplitterten Bauernschaft hinter den wirklichen Stimmungen der Dörfer zurück war. Als Delegierte fungierten einerseits Narodniki-Intelligenzler rechtester Spielart, Menschen, die mit der Bauernschaft hauptsächlich durch Handelskooperation oder Jugenderinnerungen verbunden waren. Das echte „Volk“ war durch die wohlhabenderen Spitzen des Dorfes, Kulaken, Krämer, Bauerngenossenschaftler, vertreten. Die Sozialrevolutionäre herrschten auf diesem Kongreß uneingeschränkt, und zwar in Gestalt ihres rechtesten Flügels. Mitunter jedoch hielten auch sie inne, erschreckt durch die verblüffende Mischung von Landgier und politischem Schwarzhunderttum der anderen Deputierten. In bezug auf den gutsherrlichen Landbesitz war die allgemeine Position des Kongresses sehr radikal: „Übergang des gesamten Bodens in den Besitz des Volkes zur ausgleichenden werktätigen Benutzung ohne jegliche Ablösung.“ Natürlich verstanden die Kulaken unter Ausgleichung nur ihre Gleichstellung mit den Gutsbesitzern, keinesfalls aber mit den Landarbeitern. Dieses kleine Mißverständnis zwischen dem fiktiven Narodniki-Sozialismus der Narodniki und dem agrarischen Muschik-Demokratismus aufzudecken, war der Zukunft vorbehalten.

Ackerbauminister Tschernow, der vor Verlangen brannte, dem Bauernkongreß ein Osterei zu schenken, trug sich vergeblich mit einem Dekretentwurf über das Verbot von Landverkäufen. Der Justizminister Perewersew, der ebenfalls für eine Art Sozialrevolutionär galt, hatte gerade in den Tagen des Kongresses verfügt, daß die Ortsbehörden den Landverkäufen keine Hindernisse in den Weg legen dürften. Die Bauerndeputierten brummten deshalb ein wenig darüber. Die Sache kam aber keinen Schritt vorwärts. Die Provisorische Regierung des Fürsten Lwow war nicht gewillt, auf die gutsherrlichen Länder Hand zu legen. Die Sozialisten wollten nicht auf die Provisorische Regierung Hand legen Die Zusammensetzung des Kongresses war indes am allerwenigsten fähig, aus den Widersprüchen zwischen ihrem Appetit auf Land und ihrem Reaktionarismus einen Ausweg zu finden.

Am 20. Mai sprach auf dem Bauernkongreß Lenin. Es konnte scheinen, sagt Suchanow, daß Lenin in ein Lager von Krokodilen geraten sei. „Aber die Muschiks hörten aufmerksam und wohl nicht ohne Sympathie zu. Nur wagten sie sie nicht zu zeigen.“ Das gleiche wiederholte sich in der den Bolschewiki äußerst feindlichen Soldatensektion. Nach den Sozialrevolutionären und Menschewiki versucht auch Suchanow, der Leninschen Taktik in der Agrarfrage eine anarchistische Färbung zu geben. Das ist gar nicht so fern vom Fürsten Lwow, der geneigt war, die Attentate auf die gutsherrlichen Rechte als anarchistische Handlungen anzusehen. Nach dieser Logik ist die Revolution in ihrer Gesamtheit gleichbedeutend mit Anarchie. In Wirklichkeit war die Leninsche Fragestellung viel tiefer, als sie seinen Kritikern erschien. Organe der Agrarrevolution, in erster Linie zur Liquidierung des gutsherrlichen Bodenbesitzes, sollten die Sowjets der Bauerndeputierte mit den ihnen unterstellten Landkomitees werden. Lenin erblickte in den Sowjets Organe der morgigen Staatsmacht, und zwar der allerkonzentriertesten, nämlich der revolutionären Diktatur. Das ist jedenfalls von Anarchismus, das heißt von Theorie und Praxis der Herrschaftslosigkeit, weit entfernt. „Wir sind“, sagte Lenin am 23. April, „für die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern bei maximalster Organisiertheit. Wir sind absolut gegen anarchische Aneignungen.“ Weshalb wir nicht auf die Konstituante warten wollen? „Für uns ist die revolutionäre Initiative wichtig, das Gesetz aber muß deren Resultat sein. Wen ihr warten werdet, bis das Gesetz geschrieben wird, selbst aber keine revolutionäre Energie entfaltet, werdet ihr weder Gesetz noch Boden haben.“ Ist in diesen einfachen Worten nicht die Stimme aller Revolutionen?

Nach einem Monat Verhandlungen wählte der Bauernkongreß ein Exekutivkomitee als ständige Institution, bestehend aus zweihundert robusten dörfischen Kleinbourgeois und Narodniki vom Professoren- oder Krämertyp und stellte vor diese Gesellschaft die dekorativen Gestalten der Breschkowskaja, Tschajkowski, Wera Figner und Kerenski. Zum Vorsitzenden wurde Awksentjew gewählt, geschaffen für Gouvernementsbankette, aber nicht für den Bauernkrieg.

Von nun an wurden die wichtigsten Fragen in gemeinsamen Sitzungen zweier Exekutiven: der der Arbeiter und Soldaten und der der Bauern behandelt. Diese Verbindung bedeutete eine außerordentliche Stärkung des rechten Flügels, der sich unmittelbar an die Kadetten anlehnte. In allen Fällen, wo man einen Druck auf die Arbeiter ausüben, über die Bolschewiki herfallen, der „unabhängigen Kronstädter Republik“ mit Peitschen und Skorpionen drohen wollte, erhoben sich wie eine Mauer die zweihundert Hände oder richtiger Fäuste der Bauernexekutive. Diese Menschen stimmten mit Miljukow darin völlig überein, daß man mit den Bolschewiki „Schluß machen“ müsse. Aber in Beziehung auf das gutsherrliche Land hatten sie Muschikansichten und nicht liberale Theorien, und dies brachte sie in einen Gegensatz zur Bourgeoisie und zur Provisorischen Regierung.

Kaum hatte der Bauernkongreß Zeit gehabt auseinanderzugehen, als auch schon Beschwerden zu hageln begannen, man nehme auf dem Lande seine Resolutionen ernst, was zur Wegnahme von Boden und Inventar bei den Gutsbesitzern führe. Es war absolut unmöglich, den starrsinnigen Muschikschädeln den Unterschied zwischen Wort und Tat einzuhämmern.

Die Sozialrevolutionäre gaben erschrocken Rückzugssignale. Auf ihrem Kongreß Anfang Mai in Moskau verurteilten sie feierlichst jede eigenmächtige Landaneignung: man müsse auf die Konstituierende Versammlung warten. Doch war diese Resolution außerstande, die Agrarbewegung aufzuhalten oder auch nur abzuschwächen. Die Sache wurde noch dadurch außerordentlich verzwickt, daß es in der sozialrevolutionären Partei nicht wenig Elemente gab, die tatsächlich bereit waren, bis zu Ende mit dem Muschik gegen den Gutsbesitzer zu gehen, wobei diese linken Sozialrevolutionäre, die sich noch nicht entschließen konnten, offiziell mit der Partei zu brechen, den Muschiks halfen, die Gesetze zu umgehen oder auf eigene Art zu deuten.

Im Gouvernement Kasan, wo die Bauernbewegung einen besonders stürmischen Schwung erhielt, machten sich die linken Sozialrevolutionäre früher als anderswo unabhängig. An ihrer Spitze stand Kalegajew, der spätere Volkskommissar für Ackerbau in der Sowjetregierung während der Periode des Blockes der Bolschewiki mit den linken Sozialrevolutionären. Seit Mitte Mai beginnt im Gouvernement Kasan die systematische Übergabe des Bodens an die Bezirkskomitees. Am kühnsten wurde diese Maßnahme im Kreise Spassk durchgeführt, wo an der Spitze der Bauernorganisationen ein Bolschewik stand. Die Gouvernementsbehörden führen bei der Zentralbehörde Beschwerde über die Agraragitation, die von den aus Kronstadt zugereisten Bolschewiki betrieben werde, wobei diese die fromme Nonne Tamara angeblich „wegen Widerrede“ verhaftet hatten.

Aus dem Gouvernement Woronesch meldete der Kommissar am 2. Juni: „Fälle von Rechtsbeugungen und ungesetzlichen Akten häufen sich im Gouvernement mit jedem Tage mehr, besonders auf dem Agrargebiete.“ Landaneignungen im Gouvernement Pensa mehrten sich. Ein Dorfkomitee im Gouvernement Kaluga nahm einem Kloster die Hälfte der Heuernte; auf Beschwerde des Vorstehers hin entschied das Kreiskomitee: die ganze Heuernte sei wegzunehmen. Das ist kein Sonderfall, daß die obere Instanz radikaler ist als die untere. Die Äbtissin Maria aus dem Gouvernement Pensa klagte über Enteignung klösterlichen Besitzes. „Die Lokalbehörden sind ohnmächtig.“ Im Gouvernement Wjatka belegten die Bauern das Gut der Skoropadskis, der Familie des späteren ukrainischen Hetmans, mit Beschlag und verfügten, „bis zur Lösung der Frage über den Bodenbesitz“: den Wald nicht anzutasten und die Einkünfte aus dem Gut an die Staatskasse abzuführen. An vielen anderen Orten setzen die Landkomitees nicht nur den Pachtzins um das Fünf- bis Sechsfache herab, sondern verfügten außerdem, ihn nicht an die Gutsbesitzer, sondern bis zur Lösung der Frage durch die Konstituierende Versammlung an die Komitees abzuführen. Das war keine Advokaten–, sondern eine Muschik–, das heißt ernste Antwort zur Frage des Nichtvorgreifens der Bodenreform bis zur Konstituierenden Versammlung. Im Gouvernement Saratow begannen die Bauern, die noch gestern den Gutsbesitzern Wald zu fällen verboten hatten, ihn selbst abzuholzen. Immer häufiger eignen sich die Bauern dort, wo es wenig gutsherrlichen Boden gibt, kirchliche und klösterliche Ländereien an. Gemeinsam mit den Soldaten des lettischen Bataillons griffen die lettischen Landarbeiter in Livland zur planmäßigen Aneignung der Güter der Barone.

Im Gouvernement Witebsk jammern die Waldhändler, daß die Maßnahmen der Landkomitees den Waldhandel ruinieren und die Versorgung der Front gefährden. Nicht minder uneigennützige Patrioten, die Gutsbesitzer des Gouvernements Poltawa, trauern, daß die Agrarunruhen sie hindern, die Armee mit Proviant zu beliefern. Schließlich warnt der Kongreß der Pferdezüchter in Moskau, daß die Aneignungen der Bauern die vaterländische Pferdezüchterei unheilvoll bedrohen. Gleichzeitig beschwert sich der Oberprokureur des Synods, der nämliche, der die Mitglieder der heiligen Institution als „Idioten und Schufte“ bezeichnet hatte, bei der Regierung darüber, daß im Gouvernement Kasan die Bauern den Mönchen nicht nur Land und Vieh wegnehmen, sondern auch das für die Hostie nötige Mehl. Im Petrograder Gouvernement, zwei Schritt von der Hauptstadt entfernt, verjagten die Bauern den Pächter von einem Gut und übernahmen die Bewirtschaftung selbst. Der wachsame Fürst Urussow telegraphiert am 2. Juni wieder an alle Enden des Landes: „Trotz meinen Forderungen ...“ usw., usw. „Ich ersuche erneut, entschiedenste Maßnahmen zu treffen.“ Der Fürst vergaß nur anzugeben, welche.

Während sich im ganzen Lande die gigantische Arbeit der Ausrodung der tiefsten Wurzeln von Mittelalter und Leibeigenschaft vollzog, sammelte Ackerbauminister Tschernow in seinen Kanzleien Material für die Konstituierende Versammlung. Er hatte sich vorgenommen, die Reform nicht anders als auf Grund genauester Angaben über die Bodenverhältnisse und allerhand anderer Statistiken durchzuführen, und redete deshalb den Bauern mit süßester Stimme zu, das Ende seiner Exerzitien abzuwarten. Das hinderte übrigens die Gutsbesitzer nicht, den Bauernminister von seinem Posten zu stürzen, lange bevor er mit seinen sakramentalen Tabellen fertig war.

 

 

Auf Grund der Archive der Provisorischen Regierung haben junge Forscher berechnet, daß die Agrarbewegung, die im Monat März mit größerer oder geringerer Heftigkeit nur in 34 Kreisen einsetzte, im April bereits 174, im Mai 236. im Juni 280, im Juli 325 Kreise erfaßt hatte. Diese Zahlen geben jedoch kein vollständiges Bild von dem wirklichen Wachsen der Bewegung, da der Kampf in jedem Kreise von Monat zu Monat einen breiteren und hartnäckigeren Massencharakter annimmt.

In dieser ersten Periode, von März bis Juli, enthalten sich die Bauern in ihrer überwiegenden Mehrheit noch der Gewaltanwendung gegen die Gutsbesitzer und offener Landaneignungen. Jakowlew, der die erwähnten Forschungen leitete, erklärt die verhältnismäßig friedliche Taktik der Bauern mit ihrer Vertrauensseligkeit zur Bourgeoisie. Diese Erklärung muß man als unzulänglich bezeichnen. Die Regierung Fürst Lwows konnte aber den Bauern keinesfalls Vertrauen einflößen, selbst wenn man von dem ständigen Argwohn der Muschiks gegen Stadt, Behörde, gebildete Gesellschaft absieht. Daß die Bauern in der ersten Periode noch keine Zuflucht in offenen Gewaltmaßnahmen suchen, sondern bestrebt sind, ihren Handlungen die Form des legalen oder fast legalen Druckes zu geben, läßt sich eben mit dem Mißtrauen gegen die Regierung bei mangelndem Vertrauen auf die eigenen Kräfte erklären. Die Bauern beginnen erst sich zu rühren, tasten den Boden ab, messen den Widerstand des Feindes, und während sie den Gutsbesitzer auf der ganzen Linie bedrängen, sagen sie: „Wir wollen nicht plündern, wir wollen alles gütlich ordnen.“ Sie eignen sich die Wiesen nicht an, sie mähen nur ab. Sie nehmen den Boden zwangsweise in Pacht, bestimmen selbst den Pachtzins, oder „kaufen“ ebenso zwangsweise, Boden zu gleichfalls von ihnen festgesetzten Preisen. Alle diese legalen Verschleierungen sind für den Gutsbesitzer wie für den liberalen Juristen wenig überzeugend und in Wirklichkeit von tiefem aber verstecktem Mißtrauen gegen die Regierung diktiert: im Guten erhältst du es nicht, denkt sich der Muschik, mit Gewalt ist es gefährlich, also muß man es mit List versuchen. Er hätte vorgezogen, den Gutsbesitzer mit dessen Zustimmung zu expropriieren.

„In allen diesen Monaten“, schlußfolgerte Jakowlew, „überwogen ganz eigenartige, in der Geschichte nicht dagewesene Mittel des „friedlichen“ Kampfes gegen den Gutsbesitzer, die sich aus dem bäuerlichen Vertrauen zur Bourgeoisie und zur Regierung der Bourgeoisie ergaben.“ Die Mittel, die hier als in der Geschichte noch nicht dagewesen proklamiert werden, sind in Wirklichkeit ganz typisch, unvermeidlich und geschichtlich allgemein gültig für das Anfangsstadium des Bauernkrieges unter allen Breitengraden. Das Bestreben, die ersten aufrührerischen Schritte durch Gesetzlichkeit, kirchliche oder weltliche, zu decken, charakterisiert seit alters her den Kampf jeder revolutionären Klasse, bevor sie genügend Kraft und Zuversicht gesammelt hat, um die Nabelschnur, die sie mit der alten Gesellschaft verbindet, zu zerreißen. Das bezieht sich auf die Bauernschaft in noch höherem Maße als auf jede andere Klasse, denn selbst in ihren besten Perioden bewegt sie sich im Halbdunkel vorwärts und betrachtet ihre städtischen Freunde mit mißtrauischen Augen. Sie hat dafür Gründe genug. Bei den ersten Schritten der Agrarbewegung sind deren Freunde Agenten der liberalen und radikalen Bourgeoisie. Während sie Teile der Bauernansprüche fördern, sind diese Freunde jedoch uni das Schicksal des bürgerlichen Besitztums besorgt und deshalb aus allen Kräften bemüht, den Bauernaufstand in das Bett bürgerlicher Legalität zu lenken.

In gleicher Richtung wirkten lange vor der Revolution noch andere Faktoren. Aus der Mitte des Adels selbst erstehen Prediger der Versöhnung. Leo Tolstoi hat tiefer als sonst einer in die Seele des Muschiks geblickt. Seine Philosophie des dem Übel Nichtwiderstrebens war die Verallgemeinerung der ersten Etappe der Muschik-Revolution. Tolstoi träumte davon, daß alles „ohne Raub, in beiderseitigem Einvernehmen“ geschehen möge. Diese Taktik unterbaute er mit einem religiösen Fundament, in der Form eines geläuterten Christentums. Mahatma Gandhi erfüllte in Indien die gleiche Mission, nur in einer praktischeren Form. Gehen wir weit in die Vergangenheit zurück, dann finden wir mühelos eben diese angeblich in der Geschichte „nie dagewesenen“ Erscheinungen unter den verschiedensten religiösen, nationalen, philosophischen und politischen Hüllen, angefangen mit der biblischen Zeit und vor ihr.

Die Eigenart des Bauernaufstandes von 1917 bestand höchstens darin, daß als Agenten der bürgerlichen Gesetzlichkeit Menschen auftraten, die sich Sozialisten, ja sogar Revolutionäre nannten.

Doch nicht sie bestimmten den Charakter der Bauernbewegung und ihren Rhythmus. Die Bauern gingen mit den Sozialrevolutionären nur insofern, als sie von diesen fertige Formeln für die Abrechnung mit dem Gutsbesitzer entlehnten. Gleichzeitig dienten ihnen die Sozialrevolutionäre als juristische Deckung. War es doch die Partei Kerenskis, des Justiz- und dann Kriegsministers, und Tschernows, des Ackerbauministers. Die Verzögerung des Erlasses notwendiger Dekrete erklärten die Sozialrevolutionäre der Bezirks- und Kreiskomitees mit dem Widerstand der Gutsbesitzer und Liberalen und versicherten den Bauern, daß „Unsere“ in der Regierung sich alle Mühe gäben. Dagegen vermochte der Muschik natürlich nichts einzuwenden. Da er aber keinesfalls an rührender Vertrauensseligkeit litt, hielt er es für nötig, den „Unseren“ von unten nachzuhelfen, und er tat das so gründlich, daß „Unseren“ oben bald alle Gelenke krachten.

Die Schwäche der Bolschewiki in Beziehung zur Bauernschaft war vorübergehend und dadurch hervorgerufen, daß sie die Illusionen der Bauern nicht teilten. Das Dorf konnte nur durch Erfahrung und Enttäuschungen zum Bolschewismus kommen. Die Stärke der Bolschewiki bestand darin, daß bei ihnen in der Agrarfrage, wie auch in den anderen, kein Widerspruch zwischen Wort und Tat herrschte.

Allgemeine soziologische Erwägungen erlaubten nicht, a priori zu entscheiden, ob die Bauernschaft als Ganzes fähig sei, sich gegen die Gutsbesitzer zu erheben. Das Anwachsen der kapitalistischen Tendenzen in der Landwirtschaft in der Periode zwischen den zwei Revolutionen; die Aussonderung einer festen Farmerschicht aus der Urgemeinschaft; die außerordentliche Zunahme der von wohlhabenden und reichen Bauern geleiteten Dorfkooperationen, all das erlaubte nicht, von vornherein mit Bestimmtheit zu sagen, welche der zwei Tendenzen in der Revolution überwiegen werde: der ständisch-ländliche Antagonismus zwischen Bauernschaft und Adel oder der Klassenantagonismus innerhalb der Bauernschaft selbst.

Lenin nahm nach seiner Ankunft eine äußerst vorsichtige Position in dieser Frage ein. „Die Agrarbewegung“, sagte er am 14. April, „ist nur Prognose, aber keine Tatsache ... Man muß aber mit der Möglichkeit rechnen, daß die Bauernschaft sich mit der Bourgeoisie verbündet.“ Das ist kein zufällig hingeworfener Gedanke. Im Gegenteil, Lenin wiederholt ihn beharrlich, bei verschiedenen Anlässen: auf der Parteikonferenz äußert er sich am 24. April in seiner Rede gegen die „alten Bolschewiki“, die ihn der Unterschätzung der Bauernschaft beschuldigten: „Es ist einer proletarischen Partei nicht erlaubt, jetzt Hoffnungen auf die Gemeinsamkeit der Interessen mit der Bauernschaft zu setzen. Wir kämpfen dafür, daß die Bauernschaft auf unsere Seite trete, sie steht aber, bis zu einem gewissen Grade bewußt, auf seiten der Kapitalisten.“ Das zeigt übrigens, wie weit Lenin entfernt war von der Theorie der ewigen Interessenharmonie zwischen Proletariat und Bauernschaft, die die Epigonen ihm später zuschrieben. Indem er mit der Möglichkeit rechnete, daß die Bauernschaft „als Stand“ noch als revolutionärer Faktor auftreten werde, bereitete sich Lenin jedoch im April auf die schlimmere Variante, den stabilen Block der Gutsbesitzer, Bourgeoisie und breiten Bauernschichten vor. „Den Muschik jetzt gewinnen wollen“, sagte er, „heißt, sich der Gnade Miljukows ausliefern.“ Daraus die Schlußfolgerung: „Das Schwergewicht auf die Sowjets der Landarbeiterdeputierten verlegen.“

Doch es hat sich die bessere Variante verwirklicht. Die Agrarbewegung wurde aus einer Prognose Tatsache und zeigte für einen kurzen Augenblick, dafür aber mit außerordentlicher Schärfe, das Übergewicht der ständisch-bäuerlichen Beziehungen über den kapitalistischen Antagonismus. Die Sowjets der Landarbeiterdeputierten gewannen nur an wenigen Orten Bedeutung, hauptsächlich in den baltischen Provinzen. Dagegen wurden die Landkomitees zu Organen der gesamten Bauernschaft, die sie durch den Druck ihres Schwergewichts aus Friedenskammern in Werkzeuge der Agrarrevolution umwandelten.

Die Tatsache, daß die Bauernschaft in ihrer Gesamtheit noch einmal, zum letztenmal in ihrer Geschichte, die Möglichkeit erhielt, als revolutionärer Faktor aufzutreten, beweist gleichzeitig sowohl die Schwäche der kapitalistischen Beziehungen im Dorfe, wie auch deren Stärke. Die bürgerliche Ökonomik hatte bei weitem noch nicht Zeit gefunden, die mittelalterlich-knechtischen Bodenbeziehungen aufzusaugen. Gleichzeitig aber schritt die kapitalistische Entwicklung so weit vorwärts, daß sie die alten Formen des Bodenbesitzes für alle Schichten des Dorfes gleichermaßen unerträglich gestaltete. Die Verflechtung der gutsherrlichen Besitztümer mit den bäuerlichen, nicht selten mit Vorbedacht so konstruiert, daß die gutsherrlichen Rechte zu einer Falle für die ganze Gemeinde wurden, die erschreckende Zerrissenheit des Ackerlandes, schließlich der neue Antagonismus zwischen Bodengemeinschaft und Individualsiedlern, das alles zusammen schuf den unerträglichen Wirrwarr der Bodenbeziehungen, aus dem es auf dem Wege gesetzlicher Teilmaßnahmen kein Entrinnen gab. Die Bauern fühlten das besser als alle Agrartheoretiker. Die Lebenserfahrung, sich wandelnd in der Reihe der Generationen, führte sie alle zum gleichen Schluß: man muß die ererbten und erworbenen Rechte auf Land austilgen, alle Marksteine umwerfen und diesen von historischen Überlieferungen gereinigten Boden jenen übergeben, die ihn bearbeiten. Dies war der Sinn der Muschik-Aphorismen: das Land gehört niemand, das Land ist Gott, – und im gleichen Sinne deutete die Bauernschaft das sozialrevolutionäre Programm der Sozialisierung des Bodens. Den Theorien der Narodniki zuwider gab es hier keine Spur von Sozialismus. Die kühnste Agrarrevolution ging an und für sich über den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung nicht hinaus. Die Sozialisierung, die angeblich jedem Werktätigen „Recht auf Land“ sichern sollte, bildete bei Aufrechterhaltung uneingeschränkter Marktbeziehungen eine offensichtliche Utopie. Der Menschewismus kritisierte diese Utopie unter bürgerlich-liberalem Gesichtswinkel. Der Bolschewismus dagegen deckte jene progressiv-demokratische Tendenz auf, die in der Theorie der Sozialrevolutionäre einen utopischen Ausdruck fand. Die Aufdeckung des wahren historischen Sinnes des russischen Agrarproblems bildet eines der größten Verdienste Lenins.

Miljukow schrieb, daß für ihn, als „Soziologen und Forscher der russischen historischen Evolution“, das heißt als Menschen, der die Geschehnisse von großen Höhen herab betrachtet, „Lenin und Trotzki eine Bewegung verkörpern, die Pugatschew, Rasin und Bolotnikow – dem 17. und 18. Jahrhundert unserer Geschichte – viel näher steht als den letzten Worten des europäischen Anarchosyndikalismus“. Jenes Körnchen Wahrheit, das in dieser Behauptung des liberalen Soziologen enthalten ist – läßt man den unbekannt wozu herangezogenen „Anarchosyndikalismus“ beiseite –, richtet sich nicht gegen die Bolschewiki, sondern eher schon gegen die russische Bourgeoisie, ihr Zuspätkommen, ihre politische Bedeutungslosigkeit. Es ist nicht Schuld der Bolschewiki, daß die grandiosen Bauernbewegungen der vergangenen Jahrhunderte nicht zur Demokratisierung der sozialen Verhältnisse in Rußland geführt hatten – ohne die Führung der Städte konnte dies nicht verwirklicht werden! –, wie es nicht Schuld der Bolschewiki ist, daß die sogenannte Bauernbefreiung im Jahre 1861 durch Diebstahl von Gemeindeboden, Versklavung der Bauern an den Staat und völlige Aufrechterhaltung der Ständeordnung vollzogen wurde. Eines ist richtig: die Bolschewiki waren gezwungen, im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts das zu. Ende zu führen, was im 17., 18. und 19. Jahrhundert nicht zu Ende geführt oder überhaupt nicht unternommen worden war. Bevor die Bolschewiki an ihre eigene große Aufgabe herangehen konnten, mußten sie den Boden vom historischen Schutt der alten herrschenden Klassen und alten Jahrhunderte säubern, wobei sie sich dieser dringenden Aufgabe jedenfalls sehr gewissenhaft entledigten. Dies wird wohl auch Miljukow jetzt kaum zu bestreiten wagen.


Fußnote von Trotzki

1. „Mir“ bedeutet Russisch sowohl die „Dorfgemeinschaft“ wie die „Welt“.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008