Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 22:
Sowjetkongreß und Junidemonstration

Der erste Sowjetkongreß, der Kerenski die Sanktion zur Offensive erteilte, versammelte sich am 3. Juni im Gebäude des Kadettenkorps zu Petrograd. Insgesamt gab es auf dem Kongreß 820 Delegierte mit beschließender und 268 mit beratender Stimme. Sie vertraten 305 Ortssowjets, 53 Bezirks- und Distriktssowjets, ferner Frontorganisationen, Armeeinstitutionen des Hinterlandes und einige Bauernorganisationen. Beschließende Stimme hatten Sowjets, die mindestens 25.000 Menschen vertraten. Sowjets, die 10.000–25.000 vereinigten, hatten beratende Stimme. Auf Grund dieser Normen, die übrigens wohl kaum sehr streng gewahrt wurden, darf man folgern, daß hinter dem Kongreß über zwanzig Millionen Menschen standen. Von 777 Delegierten, die über ihre Parteizugehörigkeit Auskunft gaben, waren 285 Sozialrevolutionäre, 248 Menschewiki, l05 Bolschewiki; weiter folgten kleinere Gruppen. Der linke Flügel, das heißt Bolschewiki zusammen mit den ihnen eng angeschlossenen Internationalisten, bildete weniger als ein Fünftel der Delegierten. Der Kongreß bestand in seiner Mehrheit aus Personen, die sich im März als Sozialisten eingeschrieben hatten und im Juni bereits der Revolution müde waren. Petrograd mußte ihnen als eine Stadt von Besessenen erscheinen.

Der Kongreß begann mit der Billigung der Ausweisung Grimms, des kläglichen Schweizer Sozialisten, der versucht hatte, durch Kulissenverhandlungen mit der Hohenzollerndiplomatie die Russische Revolution und die deutsche Sozialdemokratie zu retten. Die Forderung des linken Flügels, unverzüglich die Frage der sich vorbereitenden Offensive zur Diskussion zu stellen, wurde mit erdrückender Mehrheit abgelehnt. Die Bolschewiki sahen wie ein kleines Häuflein aus. Aber am gleichen Tage und vielleicht zur gleichen Stunde nahm die Konferenz der Petrograder Betriebskomitees, ebenfalls mit erdrückender Mehrheit, eine Resolution an, wonach nur die Sowjetmacht das Land retten könne.

So kurzsichtig die Versöhnler auch waren, es konnte ihnen nicht verborgen bleiben, was sich täglich ringsherum abspielte. Der Bolschewikenhasser Liber brandmarkte, offenbar unter dem Einfluß der Provinzler, in der Sitzung vom 4. Juni die untauglichen Regierungskommissare, denen man im Lande die Macht nicht zugestehen wollte. „Eine Reihe von Funktionen der Regierungsorgane ging infolgedessen in die Hände der Sowjets über, auch dann, wenn diese es nicht verlangten.“ Die Versöhnler führten Beschwerde gegen sich selbst.

Einer der Delegierten, ein Pädagoge, erzählte auf dem Kongreß, daß auf dem Gebiete der Volksbildung in den vier Revolutionsmonaten nicht die geringsten Änderungen eingetreten seien. Alle alten Lehrer, Inspektoren, Direktoren, Kreisschulräte, nicht selten frühere Mitglieder der Schwarzhundertorganisationen, alle alten Schulpläne, reaktionären Lehrbücher, sogar die alten Ministergehilfen wären unbehelligt auf ihren Plätzen verblieben. Nur die Zarenporträts wären auf den Boden geschafft worden, könnten aber jeden Augenblick auf ihren früheren Platz zurückgebracht werden.

Der Kongreß konnte sich nicht entschließen, die Hand gegen Reichsduma und Staatsrat zu erheben. Seine Schüchternheit vor der Reaktion verhüllte der menschewistische Redner Bogdanow damit, daß Duma und Staatsrat „ohnehin tote, nicht existierende Institutionen sind“. Mit dem ihm eigenen polemischen Witz antwortete darauf Martow: „Bogdanow schlägt vor, die Duma als nicht existierend zu betrachten, aber ihre Existenz nicht anzutasten.“

Trotz der so kompakten Regierungsmehrheit verlief der Kongreß in einer Atmosphäre von Unruhe und Unsicherheit. Das patriotische Stroh war feucht geworden und flackerte nur träge auf. Es war klar, daß die Massen unzufrieden und die Bolschewiki im Lande, vor allem in der Hauptstadt, unermeßlich stärker waren als auf dem Kongreß. Auf seinen Ursprung zurückgeführt, drehte sich der Streit zwischen Bolschewiki und Versöhnlern unverändert um die Frage: mit wem hat die Demokratie zu gehen, mit den Imperialisten oder mit den Arbeitern? Der Schatten der Entente schwebte über dem Kongreß. Die Entscheidung über die Offensive war bereits vorausbestimmt, der Demokratie blieb nur übrig, sich zu beugen.

„In diesem kritischen Moment“, belehrte Zeretelli, „darf nicht eine einzige öffentliche Kraft, solange sie von der Volkssache auszunutzen ist, von der Waage hinuntergeworfen werden.“ Dies war die Begründung der Koalition mit der Bourgeoisie. Da Proletariat, Armee und Bauernschaft mit jedem Schritt die Pläne der Demokraten störten, sah man sich gezwungen, unter dem Schein des Krieges gegen die Bolschewiki einen Krieg gegen das Volk zu eröffnen. So verhängte Zeretelli den Bann über die Kronstädter Matrosen, um von seiner Waage nicht den Kadetten Pepelajew hinunterwerfen zu müssen. Die Koalition wurde mit einer Mehrheit von 543 gegen 126 Stimmen bei 52 Enthaltungen gutgeheißen.

Die Arbeit der großen und zähen Versammlung im Kadettenkorps-Gebäude war voller Schwung, was Deklarationen anbelangt, von konservativer Kargheit in Beziehung auf die praktischen Aufgaben. Das drückte allen Beschlüssen den Stempel der Hoffnungslosigkeit und Heuchelei auf. Der Kongreß erkannte allen Nationen Rußlands das Selbstbestimmungsrecht zu, den Schlüssel zu diesem problematischen Recht händigte er jedoch nicht den unterdrückten Nationen selbst, sondern der künftigen Konstituierenden Versammlung aus, in der die Versöhnler in der Mehrheit zu sein hofften und vor den Imperialisten genauso zu kapitulieren vorhatten, wie sie es jetzt in der Regierung taten.

Der Kongreß lehnte es ab, das Dekret über den Achtstundentag anzunehmen. Das Herumstampfen der Koalition auf einer Stelle erklärte Zeretelli mit der Schwierigkeit, die Interessen der verschiedenen Bevölkerungsschichten in Einklang zu bringen. Als sei auch nur eine einzige große Sache in der Geschichte durch „das in Einklangbringen der Interessen“ und nicht durch den Sieg der fortschrittlichen Interessen über die reaktionären geschehen!

Der Sowjetwirtschaftler Gromann brachte am Schluß seine unvermeidliche Resolution ein: über die heranrückende Wirtschaftskatastrophe und die Notwendigkeit staatlicher Regulierung. Der Kongreß nahm diese Ritualresolution an, jedoch nur zu dem Zwecke, um alles beim alten zu belassen.

„Grimm ist ausgewiesen worden“, schrieb Trotzki am 7. Juni, „der Kongreß ging zur Tagesordnung über. Der kapitalistische Profit aber bleibt für Skobeljew und dessen Kollegen in alter Weise unantastbar. Die Ernährungskrise verschärft sich mit jeder Stunde. Auf dem diplomatischen Gebiet erhält die Regierung einen Schlag nach dem anderen. Schließlich droht die so hysterisch verkündete Offensive allem Anschein nach bald als ungeheuerliches Abenteuer über das Volk zusammenzustürzen.

Wir sind geduldig und wären bereit, die sichtbare Tätigkeit des Ministeriums Lwow-Tereschtschenko-Zeretelli noch eine Reihe von Monaten ruhig weiter zu beobachten. Wir brauchen Zeit für unsere Vorbereitung. Doch der unterirdische Maulwurf wühlt gar schnell. Und unter Beihilfe der „sozialistischen“ Minister kann das Problem der Macht viel schneller über die Teilnehmer dieses Kongresses hereinbrechen, als wir alle es ahnen.“

Bestrebt, sich vor den Massen mit einer höheren Autorität zu decken, zogen die Führer den Kongreß in alle schwebenden Konflikte hinein, wodurch sie ihn vor den Augen der Petrograder Arbeiter und Soldaten schonungslos kompromittierten. Eine der lärmendsten Episoden dieser Art war die Geschichte mit der Villa Dumowos, eines alten zaristischen Würdenträgers, der in der Eigenschaft eines Innenministers durch die Niederschlagung der Revolution von 1905 berühmt geworden war. Die leerstehende Villa des verhaßten Bürokraten, dessen Hände obendrein nicht ganz sauber waren, hatten Arbeiterorganisationen des Wyborger Bezirkes besetzt, hauptsächlich des großen Gartens wegen, der ein beliebter Spielplatz der Kinder wurde. Die bürgerliche Presse schilderte die Villa als einen Schlupfwinkel von Pogromisten und Banditen, als ein Kronstadt des Wyborger Bezirks. Niemand unterzog sich der Mühe, nachzuprüfen, wie sich die Sache in Wirklichkeit verhielt. Die Regierung, die allen großen Fragen sorgsamst auswich, stürzte sich mit unverbrauchter Leidenschaft auf die Rettung der Villa. Vom Exekutivkomitee wurde eine Sanktion der heroischen Maßnahmen verlangt, die Zeretelli selbstverständlich nicht verweigerte. Der Staatsanwalt erließ einen Befehl, in 24 Stunden die Gruppe der Anarchisten aus der Villa hinauszusetzen. Die Arbeiter, die von den bevorstehenden Kriegsoperationen erfuhren, schlugen Alarm. Die Anarchisten ihrerseits drohten mit bewaffnetem Widerstand. 28 Werkstätten proklamierten einen Proteststreik. Das Exekutivkomitee erließ einen Aufruf, in dem es die Wyborger Arbeiter als Helfershelfer der Konterrevolution brandmarkte. Nach dieser Vorbereitung drangen die Vertreter von Justiz und Miliz in die Löwenhöhle ein. Es zeigte sich jedoch, daß in der Villa, die eine Reihe kultureller Arbeiterorganisationen beherbergte, völlige Ordnung herrschte. Man mußte, und zwar nicht ohne Schmach, den Rückzug antreten. Diese Geschichte hatte aber noch eine weitere Entwicklung.

Am 9. Juni platzte auf dem Kongreß eine Bombe: die Morgenausgabe der Prawda hatte einen Aufruf zur Demonstration für den nächsten Tag gebracht. Tschcheidse, der leicht zu erschrecken pflegte und deshalb andere zu erschrecken geneigt war, verkündete mit Grabesstimme: „Wenn der Kongreß keine Maßnahmen ergreift, wird der morgige Tag verhängnisvoll werden.“ Die Delegierten horchten unruhig auf.

Der Gedanke, die Petrograder Arbeiter und Soldaten mit dem Kongreß zu konfrontieren, hatte sich durch die ganze Situation von selbst aufgedrängt. Die Massen bestürmten die Bolschewiki. Besonders brodelte die Garnison, die befürchtete, man würde sie im Zusammenhang mit der Offensive zerstückeln und an die Fronten verstreuen. Dazu kam die starke Unzufriedenheit mit der Deklaration der Rechte des Soldaten, die im Vergleich mit dem Befehl Nr. 1 und dem Regime, das sich in der Armee faktisch durchgesetzt hatte, einen großen Schritt rückwärts bedeutete. Die Initiative zur Demonstration ging von der Militärischen Organisation der Bolschewiki aus. Ihre Leiter behaupteten, und wie die Ereignisse zeigen werden, durchaus mit Recht, daß die Soldaten von sich aus auf die Straße gehen würden, falls die Partei die Leitung nicht übernehme. Der schroffe Umschwung der Massenstimmungen war jedoch nicht ohne weiteres zu berechnen, und dies erzeugte ein gewisses Schwanken bei den Bolschewiki selbst. Wolodarski war nicht überzeugt, daß die Arbeiter auf die Straße gehen würden. Es herrschten auch Befürchtungen über den Charakter, den die Demonstration annehmen könnte. Die Vertreter der militärischen Organisation erklärten, daß die Soldaten, einen Überfall und eine Abrechnung befürchtend, nicht unbewaffnet auf die Straße gehen wollten. „Welche Formen wird die Demonstration annehmen?“ fragte der vorsichtige Tomski und verlangte eine ergänzende Besprechung. Stalin meinte: „Die Gärung unter den Soldaten ist Tatsache; bei den Arbeitern aber herrscht eine so klar ausgesprochene Stimmung nicht“, dennoch fand er, daß es notwendig sei, der Regierung Widerstand zu leisten. Der stets eher zum Ausweichen als zum Kampfe neigende Kalinin sprach sich entschieden gegen die Demonstration aus, wobei er sich auf das Fehlen eines zwingenden Vorwandes, besonders bei den Arbeitern, berief: „Die Demonstration wird nur eine erklügelte Sache sein.“ In der Beratung mit Vertretern der Bezirke erhoben sich am 8. Juni nach einer Reihe vorangegangener Abstimmungen schließlich 131 Hände für die Demonstration, 6 dagegen, 22 enthielten sich der Abstimmung. Die Demonstration wurde auf Sonntag, den 10. Juni, festgesetzt.

Die Vorbereitungsarbeit war bis zum letzten Moment geheim geführt worden, um den Sozialrevolutionären und Menschewiki nicht die Möglichkeit zu verschaffen, eine Gegenagitation zu entfalten. Diese berechtigte Vorsichtsmaßnahme wurde später als Beweis für eine militärische Verschwörung gedeutet. Der Zentralsowjet der Betriebskomitees stimmte dem Beschluß, die Demonstration zu organisieren, zu. „Unter dem Druck Trotzkis und gegen den opponierenden Lunatscharski“, schreibt Jugow, „beschloß das Komitee der „Interrayonisten“ („Meschrayonzy“ [1]), an der Demonstration teilzunehmen.“ Die Vorbereitung wurde mit glühendem Eifer durchgeführt.

Die Kundgebung sollte das Banner der Sowjetmacht erheben. Die Kampflosung lautete: „Nieder mit den zehn Minister-Kapitalisten.“ Das war der einfachste Ausdruck für die Forderung des Bruches der Koalition mit der Bourgeoisie. Der Zug sollte zum Kadettenkorps, wo der Kongreß tagte, marschieren. Damit wollte man unterstreichen, daß es nicht um den Sturz der Regierung, sondern um einen Druck auf die Sowjetführer gehe.

Freilich wurden bei den Vorberatungen der Bolschewiki auch andere Stimmen laut. So beantragte Smilga, damals ein junges Mitglied des Zentralkomitees, „auf die Besetzung von Post, Telegraphenamt und Waffenlager nicht zu verzichten, falls sich die Ereignisse zu einem Zusammenstoß entwickeln“. Ein anderer Teilnehmer der Beratung, Lazis, Mitglied des Petrograder Komitees, trug über die Ablehnung des Antrages Smilga in sein Tagebuch ein „Ich kann mich nicht damit abfinden ... werde mich mit den Genossen Semaschko und Rachja verständigen, um nötigenfalls, gestützt auf das Maschinengewehrregiment, gerüstet zu sein, Bahnhöfe, Waffenlager, Banken, Post- und Telegraphenamt zu besetzen.“ Semaschko war Offizier des Maschinengewehrregiments, Rachja ein Arbeiter und wahrer bolschewistischer Kämpfer.

Daß solche Stimmungen vorhanden waren, ist selbstverständlich. Der gesamte Parteikurs ging auf die Machteroberung, die Frage bestand nur in der Einschätzung der Situation. In Petrograd vollzog sich ein offensichtlicher Umschwung zugunsten der Bolschewiki; in der Provinz entwickelte sich der gleiche Prozeß, nur langsamer; schließlich brauchte die Front noch die Lehre der Offensive, um das Mißtrauen gegen die Bolschewiki abzuschütteln. Lenin beharrte deshalb auf seiner Aprilposition: „Geduldig aufklären.“

In seinen Aufzeichnungen schildert Suchanow den Demonstrationsplan vom 10. Juni als direkte Absicht Lenins, „unter günstigen Umständen“ die Macht zu ergreifen. In Wirklichkeit hatten nur einzelne Bolschewiki, die, nach der ironischen Bemerkung Lenins, „ein bißchen linker“ als notwendig steuerten, die Frage so zu stellen versucht. Merkwürdigerweise bemüht Suchanow sich nicht einmal, seine willkürlichen Vermutungen mit der politischen Linie Lenins, die in zahlreichen Reden und Artikeln festgelegt war, zu vergleichen. [2]

Das Büro des Exekutivkomitees verlangte sofort von den Bolschewiki, die Demonstration abzusagen. Mit welchem Recht? Formell konnte die Demonstration offenbar nur durch die Staatsmacht verboten werden. Die aber wagte nicht, auch nur daran zu denken. Wie aber konnte der Sowjet, eine vom Block zweier politischer Parteien geleitete „Privatorganisation“, die Demonstration einer dritten Partei verbieten? Das Zentralkomitee der Bolschewiki weigerte sich, das Verlangen zu erfüllen, beschloß aber, den friedlichen Charakter der Demonstration noch schärfer zu betonen. Am 9. Juni wurde in den Arbeitervierteln eine Proklamation der Bolschewiki angeschlagen: „Wir sind freie Bürger, wir haben das Recht zu protestieren, und wir müssen dieses Recht ausnutzen, solange es nicht zu spät ist. Das Recht der friedlichen Demonstration bleibt uns erhalten.“

Die Versöhnler brachten die Frage vor den Kongreß. In diesem Augenblick sprach Tschcheidse die Worte vom verhängnisvollen Ausgang und betonte, daß es nötig sein werde1 die ganze Nacht zu tagen. Das Präsidiumsmitglied Gegetschkori, ebenfalls ein Sohn der Gironde, schloß seine Rede gegen die Bolschewiki mit dem plumpen Schrei; „Fort mit euren schmutzigen Händen von der großen Sache!“ Trotz ihres Verlangens ließ man den Bolschewiki keine Zeit, in dieser Frage eine fraktionelle Beratung abzuhalten. Der Kongreß nahm einen Beschluß an, wonach für die Dauer von drei Tagen jegliche Demonstration verboten sei. Dieser Gewaltakt gegen die Bolschewiki war gleichzeitig ein Usurpationsakt gegen die Regierung: die Sowjets fuhren fort, sich selbst die Macht unter dem Kissen hervorzustehlen.

In den gleichen Stunden sprach Miljukow auf dem Kosakenkongreß und nannte die Bolschewiki „Hauptfeinde der Russischen Revolution“. Ihr Hauptfreund wurde nach der Logik der Dinge Miljukow selbst; der am Vorabend der Februarrevolution bereit gewesen war, eher eine Niederlage von den Deutschen als die Revolution vom russischen Volke hinzunehmen. Auf die Frage der Kosaken, wie man sich den Leninisten gegenüber zu verhalten habe, antwortete Miljukow: „Es ist Zeit, mit diesen Herren Schluß zu machen.“ Der Führer der Bourgeoisie hatte es sehr eilig. Allerdings blieb ihm tatsächlich nicht viel Zeit zu verlieren.

Unterdes fanden in den Fabriken und bei den Regimentern Meetings statt, auf denen beschlossen wurde, morgen unter der Losung „Alle Macht den Sowjets“ auf die Straße zu gehen. Im Lärm des Sowjet- und des Kosakenkongresses blieb die Tatsache unbeachtet, daß in die Wyborger Bezirksduma von den Bolschewiki 37, vom Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki 22 und von den Kadetten 4 Vertreter gewählt worden waren.

Vor den kategorischen Beschluß des Kongresses gestellt und noch dazu mit dem geheimnisvollen Hinweis auf den drohenden Schlag von rechts, beschlossen die Bolschewiki, die Frage erneut zu prüfen. Sie hatten eine friedliche Demonstration, nicht aber einen Aufstand beabsichtigt und keine Veranlassung, die verbotene Demonstration in einen halben Aufstand zu verwandeln. Das Kongreßpräsidium seinerseits entschied, Vorkehrungen zu treffen. Einige hundert Delegierte wurden in Zehnergruppen verteilt und in die Arbeiterviertel und Kasernen geschickt, um die Demonstration abzuwenden; gegen Morgen hatten sie im Taurischen Palais zu erscheinen und das Ergebnis zu prüfen. Dieser Expedition schloß sich das Exekutivkomitee der Bauerndeputierten an und stellte seinerseits 70 Mann.

Wenn auch auf unerwartete Weise, so hatten die Bolschewiki doch das, was sie wollten, erreicht: die Kongreßdelegierten waren gezwungen, mit den Arbeitern und Soldaten der Hauptstadt Bekanntschaft zu machen. Man ließ den Berg nicht zu den Propheten kommen, also mußten die Propheten zum Berge gehen. Die Begegnung erwies sich als höchst lehrreich. In der Iswestja, der Zeitung des Moskauer Sowjets, gibt ein menschewistischer Korrespondent folgendes Bild: „Die Mehrheit des Kongresses, über 500 seiner Mitglieder, hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen, in Zehnergruppen zerschlagen besuchte sie die Petrograder Fabriken und Truppenteile mit der Aufforderung, von der Demonstration abzusehen. Der Kongreß besitzt in einem großen Teil der Fabriken und Werkstätten und auch bei gewissen Teilen der Garnison keine Autorität ... Die Kongreßmitglieder wurden durchaus nicht immer freundlich, mitunter sogar feindselig empfangen und nicht selten im bösen verabschiedet.“ Das offizielle Sowjetorgan übertreibt keinesfalls; im Gegenteil, es gibt ein sehr gemildertes Bild der nächtlichen Begegnung zweier Welten.

Die Petrograder Massen ließen jedenfalls die Delegierten nicht im Zweifel darüber, wer von nun an Demonstrationen ansetzen und absagen konnte. Die Arbeiter des Putilow-Werkes erklärten sich erst dann bereit, den Aufruf des Kongresses gegen die Demonstration anzuschlagen, nachdem sie sich aus der Prawda überzeugt haben würden, daß er dem Beschluß der Bolschewiki nicht widersprach. Das 1. Maschinengewehrregiment das, wie das Putilow-Werk bei den Arbeitern, in der Garnison die erste Geige spielte, nahm nach den Referaten Tschcheidses und Awksentjews, der Vorsitzenden zweier Exekutivkomitees, folgende Resolution an: „Im Einverständnis mit dem Zentralkomitee der Bolschewiki und der Militärischen Organisation vertagt das Regiment sein Hervortreten ...“

Die Zähmungsbrigaden kamen nach einer schlaflosen Nacht im Zustande völliger Demoralisierung im Taurischen Palais an. Sie hatten damit gerechnet, daß die Autorität des Kongresses unbestreitbar sei, waren aber auf eine Mauer von Mißtrauen und Feindseligkeit gestoßen. „Die Massen sind in der Gewalt der Bolschewiki.“ „Gegen Menschewiki und Sozialrevolutionäre verhält man sich feindselig.“ „Man glaubt nur der Prawda.“ Irgendwo hatte man gerufen: „Wir sind für euch keine Genossen.“ So berichteten die Delegierten einer nach dem andern, wie sie, obwohl die Schlacht abgesagt worden war, die schwerste Niederlage erlitten hatten.

Die Massen unterwarfen sich dem Beschluß der Bolschewiki. Doch vollzog sich die Unterwerfung keinesfalls ohne Proteste und sogar Empörung. In einigen Betrieben wurden Resolutionen angenommen, die dem Zentralkomitee eine Mißbilligung aussprachen. Die hitzigsten Parteimitglieder in den Bezirken zerrissen ihre Mitgliedskarten. Das war eine ernste Warnung.

Die Versöhnler hatten das dreitägige Demonstrationsverbot mit dem Hinweis auf eine monarchistische Verschwörung motiviert, die an die Kundgebung der Bolschewiki anzuhaken beabsichtigte; man sprach davon, daß ein Teil des Kosakenkongresses in die Sache verwickelt sei und daß konterrevolutionäre Truppen sich Petrograd näherten. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß die Bolschewiki nach der Absage der Demonstration Aufklärungen über die Verschwörung verlangten. Statt einer Antwort beschuldigten die Kongreßführer die Bolschewiki selbst der Verschwörung. So fand man einen glücklichen Ausweg aus der Lage.

Es sei zugegeben, daß in der Nacht zum 10. Juni die Versöhnler tatsächlich eine Verschwörung entdeckt hatten, die sie stark erschütterte: die Verschwörung der Massen mit den Bolschewiki gegen die Versöhnler. Jedoch die Unterwerfung der Bolschewiki unter den Kongreßbeschluß ermutigte die Versöhnler und erlaubte ihnen, ihre Panik in Raserei umzuwandeln. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre beschlossen nun, eiserne Energie zu entfalten. Am 10. Juni schrieb die menschewistische Zeitung: „Es ist Zeit, die Leninisten als Abtrünnige und Verräter der Revolution zu brandmarken.“ Ein Vertreter des Exekutivkomitees trat auf dem Kosakenkongreß auf und bat die Kosaken, den Sowjet gegen die Bolschewiki zu unterstützen. Der Vorsitzende, der Uraler Ataman Dutow, antwortete ihm: „Wir Kosaken werden niemals gegen den Sowjet gehen.“ Die Reaktionäre waren bereit, gegen die Bolschewiki sogar mit dem Sowjet zusammenzugehen, um ihn später um so sicherer erdrosseln zu können.

Am 11. Juni versammelt sich ein dräuendes Tribunal: das Exekutivkomitee, die Mitglieder des Kongreßpräsidiums, die Fraktionsführer, insgesamt etwa 100 Mann. Als Staatsanwalt tritt wie stets Zeretelli auf. Keuchend vor Wut fordert er strenges Gericht und wehrt Dan verächtlich ab, der, zur Hetze gegen die Bolschewiki stets bereit, sich noch nicht entschließen kann, gegen sie loszuschlagen. „Was die Bolschewiki jetzt treiben, ist nicht geistige Propaganda, sondern Verschwörung ... Die Bolschewiki mögen es uns nicht verübeln. Jetzt werden wir zu anderen Kampfmethoden greifen ... Man muß die Bolschewiki entwaffnen. Man darf jene großen technischen Mittel, über die sie bis jetzt verfügten, nicht länger in ihren Händen belassen. Man darf Maschinengewehre und Waffen nicht mehr in ihren Händen belassen. Wir werden Verschwörungen nicht dulden.“ Das sind neue Töne. Was bedeutet das eigentlich, die Bolschewiki entwaffnen? Suchanow schreibt darüber: „Die Bolschewiki besitzen ja keine besonderen Waffenlager. Die gesamten Waffen sind ja bei den Soldaten und Arbeitern, die in ungeheurer Zahl mit den Bolschewiki gehen. Entwaffnung der Bolschewiki kann nur Entwaffnung des Proletariats bedeuten. Mehr noch – das ist die Entwaffnung der Truppen.“

Mit anderen Worten, es rückte jener klassische Moment der Revolution heran, wo die bürgerliche Demokratie auf Geheiß der Reaktion die Arbeiter entwaffnen möchte, die den Sieg der Umwälzung gesichert hatten. Stets sind die Sympathien der Herren Demokraten, unter denen es auch belesene Leute gibt, mit den Entwaffneten und nicht mit den Entwaffnern, – sofern die Sache in alten Büchern spielt. Wenn aber die gleiche Frage in der Wirklichkeit vor ihnen steht, erkennen sie sie nicht wieder. Doch schon die bloße Tatsache, daß Zeretelli, ein Revolutionär, der viele Jahre in der Katorga verbracht hatte, ein gestriger Zimmerwalder, sich anschickte, die Arbeiter zu entwaffnen, wollte nicht so ohne weiteres in die Köpfe hinein. Der Saal erstarrte. Die Provinzdelegierten überkam wohl doch die Ahnung, daß man sie in einen Abgrund stürzte. Ein Offizier bekam einen hysterischen Anfall.

Nicht weniger bleich als Zeretelli, erhebt sich Kamenjew von seinem Platz und ruft voll Würde, deren Kraft das ganze Auditorium fühlt: „Herr Minister, wenn Sie Ihre Worte nicht in den Wind streuen, haben Sie nicht das Recht, sich auf eine Rede zu beschränken. Verhaften Sie mich und lassen Sie mich aburteilen wegen Verschwörung gegen die Revolution.“ Unter Protest verlassen die Bolschewiki die Sitzung und weigern sich, an der Verhöhnung ihrer eigenen Partei teilzunehmen. Die Spannung im Saal wird unerträglich.

Liber eilt Zeretelli zu Hilfe. Die verhaltene Wut wird auf der Tribüne von hysterischer Raserei abgelöst. Liber fordert erbarmungslose Maßnahmen. „Wollt ihr die Masse bekommen, die zu den Bolschewiki geht, dann brecht mit dem Bolschewismus.“ Doch man hört ihn ohne Sympathie an, sogar halb feindselig.

Der wie immer empfindsame Lunatscharski versucht sofort mit der Mehrheit eine gemeinsame Sprache zu finden: obwohl die Bolschewiki ihm versichert hätten, nur eine friedliche Demonstration geplant zu haben, habe ihn die eigene Erfahrung überzeugt, daß es „ein Fehler war, die Demonstration zu veranstalten“. Man dürfe jedoch die Konflikte nicht überspitzen. Ohne die Gegner zu beruhigen, reizt Lunatscharski die Freunde.

„Wir kämpfen nicht gegen die linke Strömung“, versichert jesuitisch Dan, der erfahrenste, aber auch unfruchtbarste Führer des Sumpfes, „wir kämpfen gegen die Konterrevolution. Es ist nicht unsere Schuld, wenn hinter eurem Rücken die Handlanger Deutschlands stehen.“ Der Hinweis auf die Deutschen löste einfach jegliche Argumentation ab. Diese Herren konnten selbstverständlich keine Handlanger Deutschlands aufzeigen.

Zeretellis Absicht war, einen Hieb zu versetzen. Dan riet, nur zum Schlage auszuholen. Das Exekutivkomitee in seiner Hilflosigkeit schloß sich Dan an. Die Resolution, die am nächsten Tag auf dem Kongreß eingebracht wurde, trug den Charakter eines Ausnahmegesetzes gegen die Bolschewiki, jedoch ohne unmittelbare praktische Folgerungen.

„Nach dem Besuch der Fabriken und Regimenter durch eure Delegierten“, lautete die schriftliche Erklärung der Bolschewiki an den Kongreß, „könnt ihr darüber nicht im Zweifel sein, daß, wenn die Demonstration unterblieb, so nicht infolge eures Verbotes, sondern weil unsere Partei sie abgesagt hat ... Die Fiktion einer militärischen Verschwörung ist von dem Mitglied der Provisorischen Regierung nur vorgeschoben worden, um die Entwaffnung des Petrograder Proletariats und die Auflösung der Petrograder Garnison durchzuführen ... Auch wenn die Staatsmacht bereits restlos in die Hände des Sowjets übergegangen wäre – was wir anstreben – und der Sowjet versuchen würde, unserer Agitation Ketten anzulegen, so könnte das uns nicht zu passiver Unterwerfung zwingen, sondern dazu, Gefängnis und anderen Strafen entgegenzugehen im Namen der Ideen des internationalen Sozialismus, die uns von euch trennen.“

Sowjetmehrheit und Sowjetminderheit standen in diesen Tagen Brust an Brust, wie zum entscheidenden Kampfe. Aber beide Parteien machten im letzten Moment einen Schritt zurück. Die Bolschewiki verzichteten auf die Demonstration; die Versöhnler auf die Entwaffnung der Arbeiter.

Zeretelli blieb unter den Seinen in der Minderheit. Indes hatte er auf seine Art recht. Die Bündnispolitik mit der Bourgeoisie hatte sich jenem Punkt genähert, wo es notwendig wurde, die Massen, die sich mit der Koalition nicht abfinden wollten, zu entkräften. Die Versöhnlerpolitik zum glücklichen Ende, das heißt zur Errichtung der parlamentarischen Herrschaft der Bourgeoisie zu führen, war nicht anders möglich als durch Entwaffnung der Arbeiter und Soldaten. Zeretelli hatte also recht. Darüber hinaus war er machtlos. Weder die Arbeiter noch die Soldaten hätten die Waffen abgegeben. Folglich hätte man Gewalt gegen sie anwenden müssen. Zeretelli besaß jedoch keine Macht mehr. Er konnte sie, wenn überhaupt, nur aus den Händen der Reaktion erhalten, die im Falle einer erfolgreichen Niederschlagung der Bolschewiki unverzüglich zur Niederschlagung der Versöhnlersowjets geschritten wäre und nicht versäumt hätte, Zeretelli daran zu erinnern, daß er nur ein ehemaliger Zuchthäusler sei und nichts mehr. Der weitere Verlauf der Dinge wird jedoch zeigen, daß auch die Reaktion eine solche Macht nicht besaß.

Die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bolschewiki begründete Zeretelli politisch damit, daß sie das Proletariat von der Bauernschaft trennten. Martow erwiderte ihm: „Nicht aus den Tiefen der Bauernschaft“ schöpfte Zeretelli seine Leitgedanken, „die Gruppe rechter Kadetten, die Kapitalistengruppe, die Gutsbesitzergruppe, die Gruppe der Imperialisten, die Bourgeoisie des Westens“, sie sind es, die die Entwaffnung der Arbeiter und Soldaten fordern. Martow hatte recht: die besitzenden Klassen hatten mehr als einmal in der Geschichte ihre Ansprüche hinter dem Rücken der Bauernschaft verborgen.

Seit der Veröffentlichung der Aprilthesen Lenins wurde die Berufung auf die Gefahr der Isolierung des Proletariats von der Bauernschaft das Hauptargument aller jener, die die Revolution zurückzerren wollten. Nicht zufällig hatte Lenin Zeretelli mit den „alten Bolschewiki“ auf eine Stufe gestellt.

In einer im Jahre 1917 veröffentlichten Arbeit schrieb Trotzki zu diesem Thema: „Die Isolierung unserer Partei von den Sozialrevolutionären und Menschewiki, selbst die äußerste, selbst auf dem Wege über Einzelzellen, bedeutet noch keinesfalls die Isolierung des Proletariats von den unterdrückten Bauern- und Stadtmassen. Im Gegenteil, nur die scharfe Gegenüberstellung der Politik des revolutionären Proletariats und der treubrüchigen Abtrünnigkeit der heutigen Sowjetführer ist imstande, die rettende politische Differenzierung in die Bauernmillionen hineinzutragen, die Dorfarmut der verräterischen Leitung der gesicherten sozialrevolutionären Bäuerlein zu entreißen und das sozialistische Proletariat in den wahren Führer der plebejischen, der Volksrevolution zu verwandeln.“

Aber das durch und durch falsche Argument Zeretellis hatte ein zähes Leben. Es erstand am Vorabend der Oktoberrevolution mit verdoppelter Kraft wieder als Argument vieler „alter Bolschewiki“ gegen die Umwälzung. Einige Jahre später, als die geistige Reaktion gegen den Oktober einsetzte, wurde Zeretellis Formel zur wichtigsten theoretischen Waffe der Epigonenschule.

In der gleichen Kongreßsitzung, die über die Bolschewiki in deren Abwesenheit Gericht hielt, beantragte der Vertreter der Menschewiki völlig überraschend, am nächsten Sonntag, dem 18. Juni, in Petrograd und den wichtigsten Städten eine Kundgebung der Arbeiter und Soldaten zu veranstalten, um den Feinden die Einheit und Macht der Demokratie zu zeigen. Der Antrag wurde, wenn auch nicht ohne Staunen, angenommen. Nach mehr als einem Monat erklärte Miljukow ziemlich eingehend die unerwartete Wendung der Versöhnler: „Während sie auf dem Sowjetkongreß kadettische Reden hielten und die bewaffnete Demonstration am 10. Juni zum Scheitern brachte ... fühlten die Minister-Sozialisten, daß sie in der Annäherung an uns zu weit gegangen waren und daß der Boden unter ihren Füßen zu schwinden begann. Sie bekamen Angst und machten schroff kehrt in die Richtung der Bolschewiki.“ Der Beschluß zur Demonstration vom 18. Juni war selbstverständlich keine Wendung zu den Bolschewiki hin, sondern der Versuch einer Wendung zu den Aufrüttelung der Sowjetspitzen geführt: so wurde, im Gegensatz zu dem, was beim Beginn des Kongresses geplant war, im Namen der Regierung eiligst eine Verfügung über die Auflösung der Reichsduma und die Einberufung der Konstituierenden Versammlung für den 30. September erlassen. Die Parolen für die Demonstration wurden mit der Berechnung gewählt, die Massen nicht zu reizen: „Allgemeiner Friede“, „Schnellste Einberufung der Konstituierenden Versammlung“, „Demokratische Republik“. Sowohl über Offensive wie Koalition kein Wort. In der Prawda fragte Lenin: „Und wo bleibt das volle Vertrauen zur Provisorischen Regierung, ihr Herren? ... Weshalb bleibt euch die Zunge am Gaumen kleben?“ Diese Ironie traf das Ziel: die Versöhnler hatten es nicht gewagt, von den Massen Vertrauen für jene Regierung zu fordern, der sie angehörten.

Sowjetdelegierte, die zum zweitenmal die Arbeiterviertel und Kasernen besuchten, erstatteten dem Exekutivkomitee am Vorabend der Demonstration zuversichtliche Berichte. Zeretelli, dem diese Berichte das Gleichgewicht und die Vorliebe für selbstzufriedene Belehrungen wiedergegeben hatten, wandte sich an die Bolschewiki: „Nunmehr stehen wir vor der offenen und ehrlichen Heeresschau der revolutionären Kräfte ... Jetzt werden wir alle sehen, mit wem die Mehrheit geht, mit uns oder mit euch.“ Die Bolschewiki hatten die Herausforderung angenommen, noch ehe sie so unvorsichtig formuliert worden war. „Wir werden am 18. zur Demonstration gehen“, schrieb die Prawda, „um für die gleichen Ziele zu kämpfen, für die wir am 10. demonstrieren wollten.“

Offenbar in Erinnerung an die Beerdigungsprozession vom März, die wenigstens äußerlich die größte Kundgebung für die Einheit der Demokratie gewesen war, führte die Marschroute auch diesmal zum Marsfeld, zu den Gräbern der Februaropfer. Außer der Marschroute erinnerte aber nichts mehr an die fernen Märztage. Am Zuge beteiligten sich etwa 400.000 Menschen, das heißt bedeutend weniger als an der Beerdigung: bei dieser Sowjetdemonstration fehlte nicht nur die Bourgeoisie, mit der die Sowjets in einer Koalition waren, sondern auch die radikale Intelligenz, die an den früheren Paraden der Demokratie so hervorragend beteiligt gewesen war. Es marschierten fast ausschließlich Betriebe und Kasernen.

Die auf dem Marsfeld versammelten Sowjetdelegierten lasen und zählten die Plakate. Die ersten bolschewistischen Parolen wurden halb ironisch aufgenommen. Hatte doch Zeretelli am Vorabend seine Herausforderung so zuversichtlich hingeworfen. Doch die gleichen Parolen wiederholten sich fortwährend. „Nieder mit den zehn Minister-Kapitalisten“, „Nieder mit der Offensive“, „Alle Macht den Sowjets“, das ironische Lächeln erstarrte auf den Gesichtern, um später völlig zu verschwinden. Die bolschewistischen Banner nahmen kein Ende. Die Delegierten gaben das undankbare Zählen auf Der Sieg der Bolschewiki war zu offensichtlich. „Ab und zu“, schreibt Suchanow, „wurde die Kette der bolschewistischen Banner und Kolonnen durch spezifisch sozialrevolutionäre oder offizielle Sowjetparolen unterbrochen. Sie gingen aber in der Masse unter.“ Der Sowjetoffiziosus berichtete am nächsten Tag, mit welcher „Wut man hie und da Banner mit den Parolen des Vertrauens für die Provisorische Regierung in Stücke zerriß“. Diese Worte enthalten ein unverkennbares Element der Übertreibung. Plakate zu Ehren der Provisorischen Regierung wurden nur von drei kleineren Gruppen getragen: dem Kreis Plechanows, einer Kosakenabteilung und einem Häuflein jüdischer Intelligenz, das zum „Bund“ gehörte. Dieses kombinierte Trio, das durch seine Zusammensetzung den Eindruck einer politischen Kuriosität machte, stellte sich gleichsam die Aufgabe, die Ohnmacht des Regimes zur Schau zu stellen. Die Plechanow-Leute und der „Bund“ waren unter den feindlichen Rufen der Menge gezwungen, ihre Banner einzurollen. Den standhaft gebliebenen Kosaken hatten die Demonstranten das Banner tatsächlich entrissen und es vernichtet.

„Der dahingleitende Fluß“, so schildert es die Iswestja, „verwandelte sich in einen schwellenden, breiten Strom, der aus seinen Ufern zu treten drohte.“ Das war der Wyborger Bezirk – ganz unter bolschewistischen Bannern: „Nieder mit den zehn Minister-Kapitalisten.“ Ein Betrieb trug das Plakat: „Das Recht auf Leben steht über dem Recht auf Privatbesitz.“ Diese Losung war von keiner Partei diktiert worden.

Die Augen der verängstigten Provinzler suchten die Führer. Diese hielten ihre Blicke gesenkt oder versteckten sich. Die Bolschewiki bedrängten die Provinzler. Ist denn das einem Häuflein Verschwörer ähnlich? Die Delegierten mußten zugeben: Nein, es sei nicht ähnlich. „In Petrograd seid ihr die Macht“, gestanden sie in einem von den offiziellen Sitzungen ganz verschiedenen Ton, „aber nicht in der Provinz und nicht an der Front. Petrograd kann nicht gegen das ganze Land gehen.“ „Wartet ab“, antworteten ihnen die Bolschewiki, „bald kommt auch ihr an die Reihe, auch bei euch wird man die gleichen Plakate hochheben.“

„Während dieser Demonstration“, schrieb der Greis Plechanow, „stand ich neben Tschcheidse auf dem Marsfeld. Ich las auf seinem Gesicht, daß er sich über die Bedeutung der verblüffend großen Zahl der Plakate, die die Absetzung der kapitalistischen Minister forderten, keinen Illusionen hingab. Der befehlshaberische Ton, in dem sich einige Vertreter der Leninisten, wie wahrhafte Geburtstagskinder vorbeigehend, an ihn wandten, unterstrich diese Bedeutung.“

Die Bolschewiki hatten jedenfalls Grund für solch ein Selbstbewußtsein. „Nach den Plakaten und Parolen der Kundgebung zu urteilen“, schrieb Gorkis Zeitung, „erwies die Sonntagsdemonstration den völligen Triumph des Bolschewismus beim Petrograder Proletariat.“ Das war ein großer Sieg, und dabei in jener Arena und mit jenen Waffen errungen, die vom Gegner gewählt worden waren. Nachdem er die Offensive gutgeheißen, die Koalition anerkannt und die Bolschewiki verurteilt hatte, berief der Sowjetkongreß die Massen auf die Straße. Sie erklärten ihm: Wir wollen weder die Offensive noch die Koalition, wir sind für die Bolschewiki. Das war das politische Ergebnis der Demonstration. Ist es da verwunderlich, wenn die Zeitung der Menschewiki, der Initiatoren der Demonstration, am nächsten Tag melancholisch fragte: wem ist dieser unglückselige Gedanke in den Sinn gekommen?

Gewiß hatten nicht alle Arbeiter und Soldaten der Hauptstadt an der Demonstration teilgenommen, und nicht alle Demonstranten waren Bolschewiki. Aber schon wollte keiner von ihnen die Koalition. Jene Arbeiter, die dem Bolschewismus noch feindlich gegenüberstanden, wußten ihm nichts entgegenzustellen. Das allein verwandelte ihre Feindseligkeit in abwartende Neutralität. Unter bolschewistischen Parolen marschierten nicht wenige Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die mit ihren Parteien noch nicht gebrochen, aber den Glauben an deren Parolen bereits verloren hatten.

Die Demonstration vom 18. Juni übte einen gewaltigen Eindruck auf ihre Teilnehmer aus. Die Massen erkannten, daß der Bolschewismus eine Macht geworden war, und die Schwankenden fühlten sich von ihm angezogen. In Moskau, Kiew, Charkow, Jekaterinoslaw und vielen anderen Provinzstädten enthüllten die Demonstrationen das ungeheure Anwachsen des Einflusses der Bolschewiki. Überall wurden die gleichen Losungen aufgestellt, und sie trafen das Februarregime mitten ins Herz. Man mußte Schlußfolgerungen ziehen. Es schien, daß die Versöhnler keinen Ausweg hatten. Aber im letzten Augenblick half die Offensive.

Am 19. Juni fand auf dem Newskij-Prospekt unter Leitung von Kadetten und mit Bildern von Kerenski eine patriotische Kundgebung statt. Nach Miljukows Worten „sah das dem, was auf den gleichen Straßen am Tage zuvor geschehen war, so unähnlich, daß sich unwillkürlich dem Gefühl des Triumphes ein Gefühl des Mißtrauens zugesellte“. Ein berechtigtes Gefühl! Die Versöhnler aber atmeten erleichtert auf. Ihr Gedanke erhob sich sogleich als demokratische Synthese über beide Demonstrationen. Diese Menschen waren verurteilt, den Kelch der Illusionen und Erniedrigungen bis zur Neige zu leeren.

Im April waren zwei Demonstrationen, die revolutionäre und die patriotische, einander entgegengegangen, und ihr Zusammenstoß hatte an Ort und Stelle zu Opfern geführt. Die feindlichen Demonstrationen vom 18. und 19. Juni lösten einander ab. Zum unmittelbaren Zusammenstoß kam es diesmal nicht. Doch war es bereits nicht mehr möglich, ihn zu vermeiden. Er wurde um zwei Wochen verschoben.

Die Anarchisten, die nicht wußten, wie sie ihre Selbständigkeit beweisen sollten, benutzten die Demonstration vom 18. Juni zu einem Überfall auf das Wyborger Gefängnis. Die Sträflinge, in der Mehrzahl Kriminelle, wurden ohne Kampf und Opfer, und zwar gleichzeitig aus mehreren Gefängnissen, befreit. Offenbar hatte der Überfall die Administration nicht überrascht, denn sie zeigte sich den wirklichen und angeblichen Anarchisten gleich willig. Diese ganze rätselhafte Episode hatte zur Demonstration nicht die geringste Beziehung. Die patriotische Presse jedoch verband beides miteinander. Die Bolschewiki beantragten auf dem Sowjetkongreß strenge Untersuchung, auf welche Weise die 460 Kriminellen aus den verschiedenen Gefängnissen entlassen worden waren. Doch die Versöhnler konnten sich einen solchen Luxus nicht leisten, denn sie mußten befürchten, auf Vertreter der höheren Administration oder ihrer Blockverbündeten zu stoßen. Überdies verspürten sie nicht den geringsten Wunsch, die von ihnen veranstaltete Demonstration gegen böswillige Verleumdungen zu schützen.

Justizminister Perewersew, der sich einige Tage zuvor die Blamage mit der Villa Durnowos zugezogen hatte, beschloß, Rache zu nehmen und machte unter dem Vorwand, nach flüchtigen Sträflingen zu fahnden, einen neuen Überfall auf die Villa. Die Anarchisten leisteten Widerstand; im Feuergeplänkel wurde einer von ihnen getötet, die Villa demoliert. Die Arbeiter des Wyborger Bezirkes, die die Villa als ihr Eigentum betrachteten, wurden unruhig. Einige Betriebe stellten die Arbeit ein. Die Unruhe übertrug sich auf andere Bezirke und auch auf die Kasernen.

Die letzten Junitage verlaufen in ununterbrochener Siedestimmung. Das Maschinengewehrregiment steht zum sofortigen Angriff auf die Provisorische Regierung bereit. Die Arbeiter der streikenden Betriebe besuchen die Regimenter mit der Forderung, auf die Straße zu gehen. Bärtige, darunter viele schon ergraute Bauern in Soldatenuniformen durchziehen in protestierenden Prozessionen die Straßen: die 4ojährigen fordern ihre Entlassung zur Feldarbeit. Die Bolschewiki agitieren gegen das Hervortreten: die Demonstration vom 18. Juni hat alles gesagt, was zu sagen möglich war, um Änderungen zu erreichen, genügt eine Demonstration nicht mehr, und die Stunde des Umsturzes hat noch nicht geschlagen. Am 22. Juni wenden sich die Bolschewiki schriftlich an die Garnison: „Folgt keinen Aufforderungen, die euch im Namen der militärischen Organisation auf die Straße rufen.“ Von der Front treffen Delegierte mit Beschwerden über Gewaltakte und Strafen ein. Die Drohungen, ungehorsame Truppenteile aufzulösen, gießen Öl ins Feuer. „In vielen Regimentern schlafen die Soldaten mit der Waffe in der Hand“, lautet die Erklärung der Bolschewiki an das Exekutivkomitee. Patriotische Kundgebungen, häufig bewaffnete, führen zu Straßenzusammenstößen. Das sind kleine Entladungen der angehäuften Elektrizität. Keine der Parteien plant offen anzugreifen: die Reaktion ist zu schwach; die Revolution ihrer Kräfte noch nicht ganz sicher Doch die Straßen der Stadt scheinen mit Sprengstoff gepflastert zu sein. Der Zusammenstoß hängt in der Luft. Die bolschewistische Presse klärt auf und bremst. Die patriotische Presse verrät ihre Unruhe in ungezähmter Bolschewikenhetze. Am 25. Juni schreibt Lenin: „Das allgemeine wilde Geheul der Wut und Raserei gegen die Bolschewiki ist die gemeinsame Klage der Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki über die eigene Zerfahrenheit. Sie sind die Mehrheit. Sie sind an der Macht. Sie bilden alle miteinander einen Block. Und sie sehen, daß nichts dabei herauskommt!! Wie soll man da nicht gegen die Bolschewiki wüten?“


Fußnote von Trotzki

1. Siehe Fußnote 1 zu Anhang 3.

2. Ausführlicher über diese Frage in Anhang 3.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008