Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Kapitel 7:
Die Staatsberatung in Moskau

Bedeutet Symbol ein konzentriertes Bild, so ist die Revolution die größte Meisterin der Symbole, denn sie bietet alle Erscheinungen und Beziehungen in konzentrierter Form dar. Nur ist die Symbolik der Revolution zu grandios und fügt sich schlecht in den Rahmen individueller Schöpfung. Daher die Armut an künstlerischer Wiedergabe der massivsten Dramen der Menschheit.

Die Moskauer Staatsberatung endete mit dem von vornherein sicheren Fiasko. Sie schuf nichts und löste nichts. Dafür aber hinterließ sie dem Historiker einen unschätzbaren, wenn auch negativen Abdruck der Revolution, auf dem Licht aussieht wie Schatten, Schwäche als Kraft paradiert, Gier – als Selbstlosigkeit, Treubruch – als höchste Tugend. Die mächtigste Partei der Revolution, die schon nach zehn Wochen zur Macht kommen sollte, wurde jenseits der Schwelle gelassen als eine nicht der Beachtung werte Größe. Dafür wurde ernst genommen die völlig unbekannte „Partei des evolutionären Sozialismus“. Kerenski trat auf als Verkörperung von Macht und Willen. Von der Koalition, die sich in der Vergangenheit restlos erschöpft hatte, sprach man wie von einem Rettungsmittel der Zukunft. Der von den Soldatenmillionen gehaßte Kornilow wurde begrüßt als der beliebte Armee- und Volksführer. Monarchisten und Schwarzhundert beteuerten ihre Liebe zur Konstituierenden Versammlung. Alle jene, denen bald bevorstand, aus der politischen Arena zu verschwinden, hatten sich gleichsam verabredet, zum letztenmal ihre besten Rollen auf den Theaterbrettern zu spielen. Mit aller Kraft drängte es sie, zu sagen: dies möchten wir sein, dies wären wir, wenn man uns nicht hindern würde. Aber man hinderte sie: Arbeiter, Soldaten, Bauern, unterdrückte Nationalitäten. Dutzende Millionen „meuternder Sklaven“ wehrten ihnen, ihre Treue zur Revolution zu bekunden. In Moskau, wo sie Zuflucht suchten, folgte ihnen der Streik auf den Fersen. Gehetzt von „Finsternis“, „Unbildung“, „Demagogie“, verpflichteten die zweieinhalbtausend Menschen, die das Theater füllten, einander stillschweigend, die Bühnenillusion nicht zu stören. Vom Streik wurde nicht gesprochen. Man war bemüht, die Bolschewiki nicht bei Namen zu nennen. Nur Plechanow gedachte so nebenbei „des Lenin traurigen Angedenkens“, als wäre die Rede von einem völlig erledigten Gegner. Der Charakter des Negativs war somit restlos durchgehalten: im Reiche der Schatten, die halb schon dem Jenseits angehörten, sich aber als die „lebendigen Kräfte des Landes“ ausgaben, konnte ein wirklicher Volksführer nicht anders figurieren denn als politische Leiche.

„Der glänzende Zuschauerraum“, schreibt Suchanow, „war ziemlich scharf in zwei Hälften geteilt, rechts Bourgeoisie, links Demokratie. Rechts, im Parterre und in den Logen, konnte man nicht wenig Generalsuniform sehen, links – Fähnriche und Gemeine. Der Bühne gegenüber, in der ehemaligen Zarenloge, saßen die höheren diplomatischen Vertreter der alliierten und befreundeten Mächte ... Unsere Gruppe, die äußerste Linke, nahm einen kleinen Winkel des Parterres ein.“ Die äußerste Linke bildeten, bei Abwesenheit der Bolschewiki, die Gesinnungsgenossen Martows.

Gegen vier Uhr erschien auf der offenen Bühne Kerenski in Begleitung zweier junger Offiziere, von Armee und Marine; Sinnbilder der Stärke der revolutionären Macht, standen sie die ganze Zeit wie festgewurzelt, hinter dem Rücken des Vorsitzenden. Um die Rechten durch das Wort Republik nicht zu reizen – so war es vorher verabredet worden –, begrüßte Kerenski die „Vertreter der russischen Erde“ im Namen der Regierung des „russischen Reiches“. „Der Grundton der Rede“, schreibt ein liberaler Historiker, „war statt des Tones der Würde und Sicherheit, unter dem Einfluß der letzten Tage ... der Ton schlecht verhüllter Angst, die der Redner gleichsam in seinem Innern durch hohe Töne der Drohung zu beschwichtigen suchte.“ Ohne die Bolschewiki direkt zu nennen, begann Kerenski mit einer Warnung an ihre Adresse: Neue Versuche, die Macht anzutasten, „werden mit Eisen und Stahl unterdrückt werden“. Im stürmischen Beifall verschmolzen beide Flügel der Beratung. Die ergänzende Drohung an die Adresse des noch nicht eingetroffenen Kornilow: „Welche Seite mir auch Ultimata stellen sollte, ich werde in der Lage sein, sie dem Willen der obersten Staatsgewalt und mir, ihrem Oberhaupt, unterzuordnen“, fand zwar ebenso begeisterten Beifall, doch jetzt ausschließlich bei der linken Hälfte der Beratung. Kerenski kommt immer wieder auf sich, als das „Oberhaupt“, zurück: er bedarf dieser Selbstbestätigung. „Euch da, die ihr von der Front gekommen seid, euch sage ich, euer Kriegsminister und Oberster Führer ..., es gibt in der Armee keine Macht und keinen Willen, die höher sind als Wille und Macht der Provisorischen Regierung.“ Die Demokratie ist begeistert über diese dräuenden Blindgänger, denn sie glaubt auf diese Weise der Notwendigkeit zu entgehen, zu Blei Zuflucht nehmen zu müssen.

„Alle besten Kräfte des Volkes und der Armee“, versichert das Regierungshaupt, „haben den Triumph der russischen Revolution mit unserem Triumph an der Front verknüpft. Aber unsere Hoffnungen wurden zertreten, und unser Glaube wurde bespien.“ Das ist das lyrische Fazit der Junioffensive. Er, Kerenski, beabsichtigt jedenfalls, bis zum Siege zu kämpfen. Angesichts der Gefahr eines Friedens auf Kosten der russischen Interessen – diesen Weg wies das Friedensangebot des Papstes vom 4. August – preist Kerenski die vornehme Treue der Alliierten. „Und ich kann im Namen des großen russischen Volkes nur das eine sagen: anderes haben wir nicht erwartet und nicht erwarten können.“ Die Ovation an die Adresse der Loge der alliierten Diplomaten stellt alle auf die Beine, außer einigen Internationalisten und jenen vereinzelten Bolschewiki, die als Vertreter der Gewerkschaften anwesend sind. Aus einer Offiziersloge erschallt der Ruf: „Martow aufstehen!“ Martow, zu seiner Ehre sei’s gesagt, blieb fest genug, vor der Selbstlosigkeit der Entente nicht in die Knie zu sinken.

An die Adresse der unterdrückten Völker Rußlands, die ihr Schicksal auf eine neue Weise einzurichten strebten, richtete Kerenski mit Drohungen gespickte Moralpredigten. „Schmachtend und zugrunde gehend in den Ketten des zaristischen Selbstherrschertums“, prahlte er mit fremden Ketten, „haben wir nicht mit unserem Blut gegeizt für das Wohl aller Völker.“ Den unterdrückten Nationalitäten wurde anempfohlen, aus Dankbarkeitsgefühl das Regime der Rechtlosigkeit zu erdulden.

Wo der Ausweg? „... Fühlt ihr das große Brennen in euch ... fühlt ihr Kraft und Willen zu Ordnung, zu Opfern und Arbeit? werdet ihr hier den Anblick einer geschlossenen großen nationalen Kraft bieten? ...“ Diese Worte wurden gesprochen am Tage des Moskauer Proteststreiks und in den Stunden der geheimnisvollen Verschiebung von Kornilows Reiterei. „Wir werden unsere Seele töten, aber den Staat retten.“ Mehr vermochte dem Volke die Regierung der Revolution nicht zu bieten.

„Viele Provinzler in diesem Saale“, schreibt Miljukow, „sahen Kerenski zum erstenmal, – und sie gingen teils enttäuscht, teils empört fort. Vor ihnen stand ein junger Mensch mit zerquältern, blassem Gesicht in einer angelernten Schauspielerpose ... Dieser Mensch wollte gleichsam jemand einschüchtern und bei allen den Eindruck von Kraft und Macht im alten Stile erwecken. In Wirklichkeit erregte er nur Mitleid.“

Das Auftreten der übrigen Regierungsmitglieder offenbarte weniger deren persönliche Unzulänglichkeit als den Bankrott des Versöhnlersystems. Die große Idee, die Innenminister Awksentjew vor das Forum des Landes stellte, war die Institution umherfahrender Kommissare. Der Minister für Industrie redete den Unternehmern zu, sich auf bescheidene Gewinne zu beschränken. Der Finanzminister versprach Herabsetzung der direkten Besteuerung der besitzenden Klassen bei Erhöhung der indirekten Abgaben. Der rechte Flügel hatte die Unvorsichtigkeit, diese Worte mit stürmischem Applaus zu bedenken, den Zeretelli nicht ohne Verlegenheit als Mangel an Opfersinn enthüllte. Dem Ackerbauminister Tschernow war befohlen worden, überhaupt zu schweigen, um die Verbündeten von rechts nicht mit dem Gespenst der Bodenenteignung zu reizen. Im Interesse der nationalen Einheit hatte man beschlossen, zu tun, als existiere keine Agrarfrage. Die Versöhnler störten nicht. Die wahre Stimme des Muschiks wurde von der Tribüne herab nicht laut. Indes kam gerade in diesen Augustwochen die Agrarbewegung im ganzen Lande in Schwung, um sich im Herbst in einen unüberwindlichen Bauernkrieg zu verwandeln.

Nach eintägiger Pause, die von beiden Seiten mit Auskundschaftung und Mobilisierung der Kräfte ausgefüllt war, wurde die Sitzung vom 14. in einer Atmosphäre äußerster Spannung eröffnet. Beim Erscheinen Kornilows in einer Loge bereitet ihm der rechte Teil der Beratung stürmischen Empfang. Der linke Teil bleibt fast vollzählig sitzen. Rufe „Aufstehen“ werden durch rohe Schimpfworte aus der Offiziersloge ergänzt. Beim Erscheinen der Regierung bereitet die Linke Kerenski eine lange Ovation, an der sich, wie Miljukow bezeugt, „diesmal die Rechte, die sitzenblieb, demonstrativ nicht beteiligt“. In diesen feindlich zusammenstoßenden Beifallswellen konnte man die nahen Zusammenstöße des Bürgerkrieges vernehmen. Auf der Bühne aber saßen auch weiterhin unter dem Namen Regierung Vertreter beider Hälften des gespaltenen Saales, indes der Vorsitzende, der insgeheim Kriegsmaßnahmen gegen den Höchstkommandierenden traf, nicht für einen Augenblick vergaß, in seiner Figur „die Einheit des russischen Volkes“ zu verkörpern. Im Stil dieser Rolle verkündete Kerenski: „Ich schlage allen vor, in der Person des hier anwesenden Höchstkommandierenden die für Freiheit und Heimat mutig sich opfernde Armee zu begrüßen.“ An die Adresse der gleichen Armee war in der ersten Sitzung gesagt worden: „Unsere Hoffnungen wurden zertreten, und unser Glaube wurde bespien.“ Aber gleich, wie, die rettende Phrase ist gefunden: der Saal erhebt sich und klatscht stürmisch Beifall, – Kornilow wie Kerenski. Die Einheit der Nation ist wieder einmal gerettet!

Von der historischen Ausweglosigkeit an der Gurgel gepackt, entschlossen sich die herrschenden Klassen, zu den Mitteln der historischen Maskerade zu greifen. Sie glaubten offenbar, wenn sie noch einmal in allen ihren Verwandlungen vor dem Volke erscheinen, dadurch bedeutender und stärker zu werden. Als Sachverständige für nationales Gewissen wurden die Vertreter aller vier Reichsdumas auf die Bühne gebracht. Die ehemals so scharfen inneren Differenzen waren verschwunden, alle Parteien der Bourgeoisie vereinigten sich mühelos auf dem „über Parteien und Klassen stehenden Programm“ der im öffentlichen Leben tätigen Männer, die einige Tage zuvor ein Begrüßungstelegramm Kornilow gesandt hatten. Im Namen der ersten Duma – 1906! – wies der Kadett Nabokow „schon den Gedanken an die Möglichkeit eines Separatfriedens“ weit von sich. Das hinderte den liberalen Politiker nicht, in seinen Erinnerungen zu erzählen, daß er und mit ihm viele führende Kadetten im Separatfrieden den einzigen Rettungsweg gesehen hatten. Ebenso forderten auch die Vertreter der übrigen Zaren-Dumas von der Revolution in erster Linie den Bluttribut.

„Ihr Wort, General!“ Die Sitzung nähert sich dem kritischen Moment. Was wird der Höchstkommandierende sagen, dem Kerenski beharrlich, aber vergeblich zuredet, sich lediglich auf eine Skizzierung der Kriegslage zu beschränken? Miljukow berichtet als Augenzeuge: „Die kleine, untersetzte, aber gedrunger Gestalt des Mannes mit der Kalmückenphysiognomie, dem scharfen, durchdringenden Blick der kleinen, schwarzen Augen, denen böse Feuerchen aufflammten, erschien auf der Rampe. Der Saal erbebt von Applaus. Alle stehen, mit Ausnahme ... der Soldaten.“ An die Adresse der sitzengebliebenen Delegierte erschallen von rechts mit Schimpfworten vermischte Entrüstungsschreie. „Knoten! ... Aufstehen!“ Von den Bänken, wo man nicht aufsteht, antworten Stimmen: „Knechte!“ Der Lärm geht in Sturm über. Kerenski beantragt, „den Ersten Soldaten der Provisorischen Regierung“ ruhig anzuhören. Scharf, kurz, befehlend, wie es sich für einen General geziemt, der im Begriff ist, ein Land zu retten, verliest Kornilow einen Zettel, den der Abenteurer Sawojko unter dem Diktat des Abenteurers Filonenko für ihn niedergeschrieben hat. Nach dem aufgestellten Programm war der Zettel jedoch viel gemäßigter als jener Plan, zu dem er den Auftakt bilden sollte. Den Zustand der Armee und die Lage an der Front genierte Kornilow sich nicht in den düstersten Farben zu schildern mit der durchsichtigen Berechnung, zu schrecken. Den Kernpunkt der Rede bildete die Kriegsprognose: „... Der Feind klopft bereits an Rigas Tore, und wenn nicht die Standhaftigkeit unserer Armee die Möglichkeit schafft, uns an der Rigaer Küste zu halten, wird der Weg nach Petrograd offen sein.“ Kornilow versetzt hier der Regierung einen wuchtigen Hieb. „Durch eine ganze Reihe gesetzgebender Maßnahmen, nach der Umwälzung durchgeführt von Menschen, denen der Geist der Armee und das Verständnis für sie fremd, ist diese Armee in einen Haufen Wahnsinniger verwandelt worden, dem ausschließlich sein Leben wertvoll ist.“ Es ist klar: für Riga gibt’s keine Rettung, und der Höchstkommandierende sagt es offen, herausfordernd, vor der ganzen Welt, gleichsam die Deutschen einladend, die schutzlose Stadt zu nehmen. Und Petrograd? Kornilows Gedanke ist der: Erhalte ich die Möglichkeit, mein Programm durchzuführen, so ist Petrograd vielleicht noch zu retten; aber sputet euch! Die Moskauer Zeitung der Bolschewiki schrieb: „Was ist das – Warnung oder Drohung? Die Tarnopoler Niederlage hatte Kornilow zum Höchstkommandierenden gemacht. Die Preisgabe Rigas kann ihn zum Diktator machen.“ Dieser Gedanke deckt sich mit der Absicht der Verschwörer vollständiger, als es der argwöhnischste Bolschewik ahnen konnte.

Die Kirchenversammlung entsandte jetzt eines ihrer reaktionärsten Mitglieder, den Erzbischof Platon, dem Höchstkommandierenden zu Hilfe. „Ihr habt soeben ein mörderisches Bild von der Armee gesehen“, sagte dieser Vertreter der „lebendigen Kräfte“, „und ich bin hier heraufgekommen, um von dieser Stelle aus Rußland zuzurufen: Gerate nicht in Verwirrung, Teures, fürchte dich nicht, Geliebtes. Sollte für Rußlands Rettung ein Wunder nötig sein, dann wird auf die Gebete der Kirche hin Gott ein Wunder tun.“ Zum Schutze der Kirchengüter bevorzugten die rechtgläubigen Herrscher Kosakenkommandos. Der Kern der Rede bestand jedoch nicht darin. Der Erzbischof beklagte sich darüber, „er habe in den Referaten der Regierungsmitglieder nicht ein einziges Mal, auch nicht versehentlich, das Wort Gott vernommen“. Wie Kornilow die Revolutionsregierung der Zersetzung der Armee beschuldigte, so überführte Platon „jene, die heute unser gottliebendes Volk verkörpern“, des verbrecherischen Unglaubens. Die Kirchenmänner, die sich vor Rasputin im Staube gekrümmt hatten, wagten es jetzt öffentlich, der Regierung der Revolution Gott zu predigen.

Eine Deklaration von zwölf Kosakenarmeen verlas General Kaledin, dessen Name in jener Periode beharrlich unter den gewichtigsten Namen der Militärpartei genannt wurde. Kaledin, der, nach den Worten eines seiner Panegyriker, „nicht mochte und nicht verstand, der Menge nach dem Mund zu reden“, „entzweite sich deshalb mit General Brussilow und wurde als dem Geiste der Zeit nicht entsprechend seines Armeekommandos enthoben“. Anfang Mai nach dem Don zurückgekehrt, war der Kosakengeneral bald danach zum Ataman der Dontruppen gewählt worden. Er hatte als Haupt des ältesten und stärksten der Kosakenheere den Auftrag, das Programm der privilegierten Kosakenspitzen zu präsentieren. Den Verdacht, konterrevolutionär zu sein, zurückweisend, erinnerte die Deklaration unsere Minister-Sozialisten unhöflich daran, daß sie in der Minute der Gefahr zu den Kosaken gekommen waren, Hilfe zu suchen gegen die Bolschewiki. Der barsche General bestach unerwartet die Herzen der Demokraten, indem er weit vernehmbar das Wort aussprach, das laut zu nennen Kerenski nicht gewagt hatte: Republik. Die Mehrheit des Saales und besonders eifrig Minister Tschernow applaudierte dem Kosakengeneral, der ganz ernstlich von der Republik das forderte, was zu geben das Selbstherrschertum nicht mehr die Kraft gehabt hatte. Einst prophezeite Napoleon, Europa werde kosakisch oder republikanisch sein. Kaledin war willens, Rußland republikanisch zu sehen unter der Bedingung, daß es nicht aufhöre, kosakisch zu sein. Nachdem er die Worte verlesen: „Für Defätisten darf es keinen Platz in der Regierung geben“, wandte sich der undankbare General dreist dem unglückseligen Tschernow zu. Der Bericht einer liberalen Zeitung vermerkt: „Alle Blicke sind auf den tief über den Tisch gebeugten Tschernow gerichtet.“ Durch keinerlei offizielle Stellung gebunden, entwickelte Kaledin das Kriegsprogramm der Reaktion restlos: Komitees abschaffen, Macht der Vorgesetzten wiederherstellen, Hinterland der Front angleichen, Soldatenrechte revidieren, das heißt zunichte machen. Beifall von rechts vermischt sich mit Protesten und sogar Pfeifen von links. Die Konstituierende Versammlung müsse „im Interesse ruhiger und planmäßiger Arbeit“ nach Moskau einberufen werden. Die vor der Beratung ausgearbeitete Rede hielt Kaledin einen Tag nach dem Generalstreik, so daß der Satz von der „ruhigen Arbeit“ in Moskau wie Hohn klang. Das Auftreten des Kosakenrepublikaners brachte schließlich die Temperatur im Saale zur Siedehitze und bewog Kerenski, Autorität zu entwickeln: „Es steht in dieser Versammlung niemand zu, sich mit Forderungen an die Regierung zu wenden.“ Weshalb aber war dann die Beratung einberufen worden? Purischkewitsch, ein populärer Schwarzhundertler, schrie von seinem Platze aus: „Wir spielen die Rolle von Regierungsassistenten!“ Zwei Monate zuvor hatte dieser Pogromheld noch nicht gewagt, den Kopf vorzustecken.

Die offizielle Deklaration der Demokratie, ein endloses Dokument, das auf alle Fragen Antwort zu geben suchte, ohne auch nur eine einzige zu beantworten, verlas Tschcheidse, der von links mit heißem Beifall begrüßt wurde. Rufe: „Es lebe der Führer der russischen Revolution!“ mußten den bescheidenen Kaukasier verlegen machen, der sich am wenigsten als Führer fühlte. Im Tone einer Selbstverteidigung verkündete die Demokratie, daß sie „die Macht nicht angestrebt, kein Monopol für sich gewollt“ habe. Sie sei bereit, jede Regierung zu unterstützen, die fähig wäre, die Interessen des Landes und der Revolution zu schützen. Doch man dürfe die Sowjets nicht abschaffen: nur sie hätten das Land vor Anarchie bewahrt. Man dürfe die Armeekomitees nicht abschaffen: nur sie wären fähig, die Fortsetzung des Krieges zu sichern, Die privilegierten Klassen müßten auf manches verzichten im Interesse der Gesamtheit. Jedoch seien die Interessen der Gutsbesitzer vor Expropriationen zu schützen. Die Lösung nationaler Fragen müsse man bis zur Konstituierenden Versammlung vertagen. Die unaufschiebbarsten Reformen indes müsse man durchführen. Von aktiver Friedenspolitik sagte die Deklaration kein Wort. Überhaupt war das Dokument gleichsam speziell darauf berechnet, ohne die Bourgeoisie zufriedenzustellen, die Empörung der Massen hervorzurufen.

In einer ausweichenden und farblosen Rede erinnerte der Vertreter des Bauern-Exekutivkomitees an die Parole „Land und Freiheit“, unter der „unsere besten Streiter umgekommen sind“. Der Bericht einer Moskauer Zeitung vermerkt eine Episode, die aus dem offiziellen Stenogramm herausgeblieben ist: „Der ganze Saal erhebt sich und bringt eine stürmische Ovation den in einer Loge sitzenden Schlüsselburgern dar.“ Eine merkwürdige Grimasse der Revolution! „Der ganze Saal“ ehrt jene ehemaligen politischen Katorgasträflinge, die Alexejews, Kornilows, Kaledins, die des Bischofs Platon, Rodsjankos, Gutschkows und im Grunde auch Miljukows Monarchie in ihren Gefängnissen zu erdrosseln noch nicht Zeit gefunden hatte. Die Henker oder deren Komplicen möchten sich mit der Märtyreraureole der eigenen Opfer schmücken.

Fünfzehn Jahre zuvor hatten die Führer der rechten Saalhälfte das zweihundertjährige Jubiläum der Eroberung der Festung Schlüsselburg durch Peter I. gefeiert. Die Iskra, das Blatt des revolutionären Flügels der Sozialdemokratie, schrieb in jenen Tagen: „Wieviel Empörung weckt in der Brust diese patriotische Feier auf der verfluchten Insel, die der Hinrichtungsplatz von Minakow, Myschkin, Rogatschew, Stromberg, Uljanow, Generalow, Ossipanow, Andrjuschkin und Schewyrew gewesen ist; angesichts der steinernen Särge, in denen Klimenko sich mit einem Strick erdrosselte, Gratschewski sich mit Petroleum begoß und verbrannte, Sofia Ginsburg sich mit einer Schere erstach; unter den Mauern, hinter denen Schtschedrin, Juwatschew Konaschewitsch, Pochitinow, Ignatij Iwanow, Arontschik und Tichonowitsch in die endlose Nacht des Wahnsinns versanken und Dutzende anderer vor Erschöpfung, Skorbut und Schwindsucht umkamen. Gebt euch patriotischen Bacchanalen hin, denn heute seid ihr noch die Herren in Schlüsselburg!“ Das Motto der Iskra waren Worte aus einem Briefe der Katorga-Dekabristen an Puschkin: „Aus dem Funken wird die Flamme auflodern.“ Sie ist aufgelodert. Sie hat die Monarchie und ihr Schlüsselburger Zuchthaus in Asche verwandelt. Und heute bereiten im Saale der Staatsberatung die gestrigen Zuchthauswärter eine Ovation den durch die Revolution ihren Krallen entrissenen Opfern. Doch das Paradoxeste war immerhin, daß Gefängniswärter und Arrestanten sich vereinen im Gefühl gemeinsamen Hasses gegen die Bolschewiki, gegen Lenin, den einstigen Inspirator der Iskra, gegen Trotzki, den Autor der oben zitierten Zeilen, gegen die rebellischen Arbeiter und ungehorsamen Soldaten, die die Gefängnisse der Republik füllten.

Der Nationalliberale Gutschkow, Vorsitzender der dritter Duma, der seinerzeit die Zulassung der linken Deputierten zur Kommission der Landesverteidigung verhindert hatte und dafür von den Versöhnlern zum ersten Kriegsminister der Revolution ernannt worden war, hielt die interessanteste Rede, in der Ironie allerdings erfolglos, mit Verzweiflung rang. „Weshalb aber ... weshalb“, sagte er, auf Kerenskis Worte anspielend, „kamen zu uns die Vertreter der Macht in „tödlicher Bangigkeit“ und im „tödlichen Entsetzen“, mit krankhaften, ich würde sagen hysterischen Verzweiflungsschreien, weshalb finden diese Unruhe, dieses Entsetzen und diese Schreie, ja weshalb finden sie auch in unserer Seele den gleichen beklemmenden Schmerz der Todesangst?“ Im Namen jener, die früher geherrscht, kommandiert, Gnade geübt und gestraft, beichtete der Moskauer Großkaufmann öffentlich Gefühle der „Todesangst“. „Diese Macht“, rief er, „ist der Schatten einer Macht.“ Gutschkow hatte recht. Auch er selbst, ehemaliger Partner Stolypins, war nur noch ein Schatten seiner selbst.

Just am Eröffnungstage der Beratung erschien in Gorkis Zeitung eine Darstellung, wie Rodsjanko sich an der Lieferung unbrauchbarer Kolben für Gewehrschäfte bereichert hatte. Die unzeitgemäße Enthüllung, die von Karachan, dem damals noch ganz unbekannten späteren Sowjetdiplomaten, stammte, hinderte den Kammerherrn nicht, in der Beratung würdevoll zur Verteidigung des patriotischen Programms der Kriegslieferanten aufzutreten. Das ganze Unglück sei daher gekommen, weil die Provisorische Regierung nicht Hand in Hand mit der Reichsduma, „der einzigen in Rußland völlig rechtmäßigen Volksvertretung“, gearbeitet hatte. Das schien zu viel. Auf den linken Bänken lachte man. Es ertönten Rufe: „Dritter Juni!“ Einstmals brannte dieses Datum – der 3. Juni 1907, wo die oktroyierte Konstitution zertrümmert wurde – wie ein Zuchthausmal an der Stirn der Monarchie und der sie stützenden Parteien. Jetzt hatte es sich in eine blasse Erinnerung verwandelt. Aber auch der mit seinem Baß polternde Rodsjanko, riesig und imposant, schien auf der Tribüne eher ein lebendes Monument der Vergangenheit zu sein als eine politische Figur.

Den Attacken von innen stellt die Regierung die gerade zur rechten Zeit eingetroffene Ermunterung von außen entgegen. Kerenski verliest das Begrüßungstelegramm des amerikanischen Präsidenten Wilson, welcher verspricht, „jegliche materielle und moralische Unterstützung der Regierung Rußlands für den Erfolg der beide Völker vereinigenden, gemeinsamen Sache, mit der sie keine egoistischen Ziele verfolgen“. Der neue Beifall vor der diplomatischen Loge kann die Sorge nicht verscheuchen, die das Washingtoner Telegramm in der rechten Saalhälfte hervorruft: das Loblied auf die Selbstlosigkeit bedeutete für die russischen Imperialisten nur zu klar das Rezept der Hungerdiät.

Im Namen der Versöhnlerdemokratie verteidigte Zeretelli, ihr anerkannter Führer, die Sowjets und die Armeekomitees, wie man ehrenhalber eine im voraus verlorene Sache verteidigt. „Man darf dieses Gerüst noch nicht entfernen, solange das Gebäude des freien revolutionären Rußland noch nicht fertiggebaut ist.“ Nach der Umwälzung hätten „die Volksmassen eigentlich niemand außer sich selbst vertraut“: nur die Bemühungen der Versöhnlersowjets hätten den besitzenden Klassen ermöglicht, sich oben zu halten, wenn auch in der ersten Zeit ohne den gewohnten Komfort. Zeretelli rechnete den Sowjets die „Übergabe sämtlicher Staatsfunktionen an die Koalitionsregierung“ als besonderes Verdienst an: war etwa dieses Opfer „der Demokratie mit Gewalt entrissen“? Der Redner ähnelte einem Festungskommandanten, der sich öffentlich rühmt, die ihm anvertraute Festung kampflos ausgeliefert zu haben ... Und in den Julitagen – „wer hat damals mit seiner Brust das Land gegen Anarchie verteidigt?“ Von rechts ertönte eine Stimme: „Kosaken und Junker.“ Wie ein Peitschenhieb durchschnitten diese zwei Worte den demokratischen Strom von Gemeinplätzen. Der bürgerliche Flügel der Beratung begriff sehr wohl den von den Versöhnlern erwiesenen rettenden Dienst. Doch Dankbarkeit ist kein politisches Gefühl. Die Bourgeoisie beeilte sich, ihre Schlußfolgerungen aus den von der Demokratie ihr erwiesenen Diensten zu ziehen: das Kapitel der Sozialrevolutionäre und Menschewiki war abgeschlossen; auf die Tagesordnung kam das Kapitel der Kosaken und Junker.

Mit besonderer Behutsamkeit ging Zeretelli an das Problem der Macht heran. In den letzten Monaten hatten auf der Basis des allgemeinen Wahlrechts Wahlen zu Stadtdumas und teilweise auch zu Semstwos stattgefunden. Und nun? Die Vertreter der demokratischen Selbstverwaltungen standen in der Staatsberatung bei der linken Gruppe, gemeinsam mit den Sowjets und unter Leitung der gleichen Parteien, der Sozialrevolutionäre und Menschewiki. Beabsichtigen die Kadetten auf der Forderung zu bestehen: jegliche Abhängigkeit der Regierung von der Demokratie zu liquidieren, wozu dann die Konstituierende Versammlung? Zeretelli entwarf hier nur die Konturen dieser Erwägung; denn, zu Ende geführt, verurteilte sie die Politik der Koalition mit den Kadetten als sogar der formalen Demokratie widersprechend. Die Revolution wird des Mißbrauchs von Reden über den Frieden beschuldigt? Aber haben denn die besitzenden Klassen nicht begriffen, daß die Friedensparole gegenwärtig das einzige Mittel des Kriegführens ist? Die Bourgeoisie begriff es; sie wollte nur, zusammen mit der Macht, auch dieses Mittel in die eigene Hand nehmen. Zeretelli schloß nur einem Hymnus zu Ehren der Koalition. In der zerspaltenen Versammlung, die keinen Ausweg sah, ertönten die versöhnlerischen Gemeinplätze noch ein letztes Mal als Hoffnungsmotiv. Aber auch Zeretelli war im Grunde genommen bereits sein eigenes Gespenst.

Im Namen der rechten Saalhälfte antwortete der Demokratie Miljukow, der hoffnungslos nüchterne Vertreter der Klassen, denen die Geschichte den Weg der nüchternen Politik abgeschnitten hatte. In seiner Geschichte gibt der Führer des Liberalismus genügend ausdrucksvoll die eigene Rede in der Staatsberatung wieder. „Miljukow gab ... eine gedrängte, auf Tatsachen gestützte Übersicht der Fehler der „revolutionären Demokratie“ und zog das Fazit: ... Kapitulation in der Frage der „Demokratisierung der Armee“, begleitet von Gutschkows Rücktritt; Kapitulation in der Frage der „Zimmerwalder“ Außenpolitik, begleitet vom Rücktritt des Ministers des Auswärtigen (Miljukow); Kapitulation vor den utopischen Forderungen der Arbeiterklasse, begleitet vom Rücktritt Konowalows (Minister für Handel und Industrie); Kapitulation vor den radikalen Forderungen der Nationalitäten, begleitet vom Rücktritt der übrigen Kadetten. Die fünfte Kapitulation, vor den Expropriationsbestrebungen der Massen in der Agrarfrage ... führte zum Rücktritt des ersten Vorsitzenden der Provisorischen Regierung, Fürsten Lwow.“ Das ist keine üble Krankheitsgeschichte. Was die Kur betrifft, ging Miljukow über Polizeimaßnahmen nicht hinaus: man muß die Bolschewiki erdrosseln. „Angesichts der augenscheinlichen Tatsachen“, entlarvte er die Versöhnler, „waren diese gemäßigteren Gruppen gezwungen, zuzugeben, daß es unter den Bolschewiki Verbrecher und Verräter gibt. Doch wollen sie bis jetzt noch immer nicht zugeben, daß der Grundgedanke, der diese Anhänger anarcho-syndikalistischer Kampfhandlungen verbindet, an sich verbrecherisch ist.“ (Beifall.)

Der allerdemütigste Tschernow erschien noch immer als ein Bindeglied, das die Koalition mit der Revolution zusammenhielt. Fast sämtliche Redner des rechten Flügels: Kaledin, die Kadetten Maklakow und Astrow, versetzten Tschernow Schläge, dem im voraus befohlen worden war, zu schweigen, und den niemand unter seinen Schutz nahm. Miljukow seinerseits erinnerte daran, daß der Ackerbauminister „selbst in Zimmerwald und in Kienthal gewesen und dort die schärfsten Resolutionen befürwortete“. Das traf nicht die Augenbraue, sondern das Auge: bevor er Minister des imperialistischen Krieges ward, hatte Tschernow tatsächlich seine Unterschrift unter einige Dokumente der Zimmerwalder Linken, das heißt der Fraktion Lenins, gesetzt.

Miljukow verheimlichte der Beratung nicht, daß er von Anfang an Gegner der Koalition gewesen, weil er der Ansicht war, sie „werde nicht stärker, sondern schwächer sein als die aus der Revolution hervorgegangene Regierung“, das heißt die Regierung Gutschkow-Miljukow. Und auch jetzt befürchte er „sehr, daß die gegenwärtige Zusammensetzung der Exekutoren ... keine Garantie für die Sicherheit der Person und des Eigentums bietet“. Wie dem auch sei, er, Miljukow, verspreche der Regierung Unterstützung „freiwillig und ohne Streit“. Die Treubrüchigkeit dieses großmütigen Versprechens wird sich nach zwei Wochen vollends enthüllen. Im Augenblick rief die Rede bei niemand Begeisterung hervor, gab aber auch keine Veranlassung zu stürmischen Protesten. Der Redner wurde mit recht trockenem Beifall empfangen und entlassen.

Die zweite Rede Zeretellis lief hinaus auf Versicherungen, Schwüre, Wehklagen: das alles ist doch für euch: Sowjets, Komitees, demokratische Programme, pazifistische Parolen – all das schützt euch: „Wem war es leichter, die Truppen des russischen revolutionären Staates in Bewegung zu setzen – dem Kriegsminister Gutschkow oder dem Kriegsminister Kerenski?“ Zeretelli wiederholte fast wörtlich Lenin, nur sah der Führer des Versöhnlertums dort Verdienst, wo der Führer der Revolution Verrat brandmarkte. Der Redner entschuldigte sich ferner wegen der übermäßigen Milde in bezug auf die Bolschewiki: „Ich sage euch: die Revolution war unerfahren im Kampfe mit der Anarchie, die von links kam.“ (Stürmischer Beifall rechts.) Aber nachdem „die ersten Lehren empfangen wurden“, hat die Revolution ihren Fehler korrigiert: „das Ausnahmegesetz ist bereits durchgeführt“. In den gleichen Stunden wurde Moskau insgeheim vom Sechser-Komitee geleitet – zwei Menschewiki, zwei Sozialrevolutionäre, zwei Bolschewiki –, das die Stadt vor der Gefahr der Umwälzung seitens jener schützte, denen gegenüber die Versöhnler sich verpflichteten, die Bolschewiki niederzuschlagen.

Den Clou des letzten Tages bildete das Auftreten des Generals Alexejew, dessen Autorität die Unfähigkeit der alten Militärkanzlei verkörperte. Unter maßlosem Beifall von rechts sprach der ehemalige Stabschef Nikolaus’ II. und Organisator der Niederlagen der russischen Armee von jenen Zerstörern, „in deren Taschen melodisch die deutsche Mark klingt“. Für die Wiederherstellung der Armee sei Disziplin nötig, für die Disziplin die Autorität der Vorgesetzten, wofür wiederum Disziplin nötig sei. „Nennen Sie die Disziplin die eiserne, nennen Sie sie die zielbewußte, nennen Sie sie die wahre ... die Fundamente dieser Disziplin sind die gleichen.“ Für Alexejew endete die Geschichte mit dem Reglement des Innendienstes. „Ist es, meine Herren, tatsächlich so schwer, irgendein illusorisches Vorrecht – die Existenz von Organisationen [Lachen links] – für eine gewisse Zeit zu opfern.“ (Lärm und Rufe links.) Der General redete gut zu, ihm die entwaffnete Revolution zur Benutzung auszuliefern, aber nicht für immer, Gott bewahre, nur „für eine gewisse Zeit“: nach Beendigung des Krieges wollte er den Gegenstand guterhalten zurückgeben. Doch Alexejew schloß mit einem nicht üblen Aphorismus: „Maßnahmen tun not, nicht halbe Maßnahmen.“ Diese Worte trafen Tschcheidses Deklaration, die Provisorische Regierung, die Koalition, das gesamte Februarregime. Maßnahmen, nicht halbe Maßnahmen! – damit waren auch die Bolschewiki einverstanden.

General Alexejew wurden sogleich Delegierte der Petrograder und der Moskauer linken Offiziere entgegengestellt, die „unseren höchsten Vorgesetzten, den Kriegsminister“, unterstützten. Nach ihnen sprach Leutnant Kutschin, ein alter Menschewik, als Redner „der Frontgruppe der Staatsberatung“ im Namen der Soldatenmillionen, die sich jedoch wohl kaum im Spiegel des Versöhnlertums wiedererkannt haben dürften. „Wir alle haben das Interview des Generals Lukomski in den Zeitungen gelesen, wo es heißt: Wenn die Alliierten nicht helfen, wird Riga preisgegeben werden ...“ Weshalb hat das höhere Kommando, das Mißerfolge und Niederlagen stets verheimlichte, plötzlich das Bedürfnis verspürt, die Farben so düster aufzutragen? Die Zwischenrufe „Schande!“ von links zielten auf General Kornilow, der am Vorabend in der Beratung den gleichen Gedanken entwickelt hatte. Kutschin berührte hier die empfindlichste Stelle der besitzenden Klassen: die Spitzen der Bourgeoisie, der Kommandobestand, die gesamte rechte Saalhälfte waren durch und durch von defätistischen Tendenzen durchdrungen, auf ökonomischem, politischem und militärischem Gebiet. Die Devise dieser soliden, ausgeglichenen Patrioten war geworden: je schlimmer je besser! Doch der Versöhnlerredner beeilte sich an dem Thema vorbeizugehen, das ihm selbst den Boden unter den Füßen entzog. „Ob wir die Armee retten werden, wissen wir nicht“, sagte Kutschin, „aber wenn wir sie nicht retten, wird auch das Kommando sie nicht retten ...“ – „Es wird retten !“ ruft man von den Offiziersbänken. Kutschin: „Nein, es wird nicht retten!“ Beifallsausbruch bei der Linken. So tauschten Kommandeure und Komitees, auf deren Scheinsolidarität das Programm der Gesundung der Armee aufgebaut war, Feindseligkeiten aus. So tauschten die zwei Hälften der Beratung, die das Fundament der „ehrlichen Koalition“ bildeten, gegeneinander Rufe aus. Diese Zusammenstöße waren nur das schwache, unterdrückte, parlamentarisierte Echo jener Gegensätze, unter denen das Land erbebte.

Der bonapartistischen Inszenierung gehorchend, wechselten Redner von rechts und links sich ab, nach Möglichkeit einander ausgleichend. Wenn die Hierarchen der rechtgläubigen Kirchenversammlung Kornilow unterstützten, dann stellten sich die Vertreter der evangelischen Christen auf seiten der Provisorischen Regierung. Die Delegierten der Semstwos und der Stadtdumas traten paarweise auf: der eine, von der Mehrheit, schloß sich Tschcheidses Deklaration an, der von der Minderheit der Deklaration der Reichsduma.

Die Wortführer der unterdrückten Nationalitäten beteuerten nacheinander der Regierung ihren Patriotismus, flehten jedoch, sie nicht länger zu betrügen: allerorts herrschen die gleichen Beamten, die gleichen Gesetze und die gleiche Bedrückung. „Zögern ist unmöglich. Von bloßen Versprechungen kann kein Volk leben.“ Das revolutionäre Rußland müsse zeigen, daß es „Mutter“, nicht „Stiefmutter aller Völker“ sei. Die erschütternden Vorwürfe und demütigen Beschwörungen fanden fast keinen mitfühlenden Widerhall, auch nicht bei der linken Saalhälfte. Der Geist des imperialistischen Krieges ist am wenigsten vereinbar mit einer ehrlichen Politik in der Nationalitätenfrage.

„Bisher haben die Nationalitäten Transkaukasiens keinen einzigen Schritt zum Separatismus unternommen“, erklärte der Menschewik Tschenkeli im Namen der Georgier, „und sie werden es auch fernerhin nicht tun.“ Diese mit Beifall aufgenommene Verpflichtung wird sich bald als unhaltbar erweisen: mit dem Moment der Oktoberumwälzung wird Tschenkeli einer der Führer des Separatismus werden. Ein Widerspruch ist hier jedoch nicht enthalten: der Patriotismus der Demokratie geht nicht über den Rahmen des bürgerlichen Regimes hinaus.

Unterdes betreten neue, tragischste Gespenster des Vergangenen die Bühne. Die Kriegskrüppel erheben ihre Stimme. Auch die sind nicht einig. Armlose, Beinlose, Blinde besitzen ihre Aristokratie und ihren Plebs. Im Namen des „gewaltigen“ und mächtigen Verbandes der Georgsritter, seiner 128 Zweigverbände an allen Orten Rußlands, unterstützt ein in seinem Patriotismus beleidigter Offizier den General Kornilow (Zustimmung rechts). Der Allrussische Kriegsinvalidenverband schließt sich durch seinen Delegierten Tschcheidses Deklaration an (Zustimmung links).

Das Exekutivkomitee des soeben gegründeten Eisenbahnerverbandes, dem es (unter dem abgekürzten Namen „Wikschel“) beschieden sein wird, in den nächsten Monaten eine bedeutende Rolle zu spielen, gibt seine Stimme der Versöhnlerdeklaration. Der Vorsitzende des Verbandes, gemäßigter Demokrat und äußerster Patriot, entwarf ein grelles Bild der konterrevolutionären Ränke bei der Eisenbahn: böswillige Angriffe auf Arbeiter, Massenentlassungen, willkürliche Abschaffung des Acht-Stunden-Tages, gerichtliche Verfolgungen. Geheime Mächte, geleitet aus verborgenen, aber einflußreichen Zentren, sind offensichtlich bestrebt, die hungrigen Eisenbahner zum Kampfe herauszufordern. Der Feind ist unfaßbar. „Die Konterspionage schlummert, die Staatsanwaltschaft schläft.“ Und dieser Gemäßigte der Gemäßigten schloß mit der Drohung: „Wenn die Hydra der Konterrevolution ihr Haupt erheben sollte, werden wir aufstehen und sie mit unseren Händen erwürgen.“

Unverzüglich tritt eine gewichtige Eisenbahnerleuchte mit Gegenbeschuldigungen auf: „Die reine Quelle der Revolution ist vergiftet worden.“ Weshalb? „Weil die idealistischen Ziele der Revolution durch materielle ersetzt wurden.“ (Beifall rechts.) Im gleichen Geiste entlarvt der Kadett und Gutsbesitzer Roditschew die Arbeiter, welche sich die aus Frankreich gekommene „beschämende Parole: bereichert euch!“ zu eigen gemacht hätten. Die Bolschewiki werden der Formel Roditschews bald einen außergewöhnlichen Erfolg bereiten, wenn auch einen anderen als den, auf den der Redner hoffte. Professor Oserow, ein Mann der reinen Wissenschaft und Delegierter der Bodenbanken, ruft aus: „Der Soldat im Schützengraben hat an den Krieg zu denken und nicht an Landaufteilung.“ Nicht verwunderlich: die Konfiskation des Privatbodens würde die Konfiskation des Bankkapitals bedeuten: am 1. Januar 1915 betrug die Verschuldung des privaten Bodenbesitzes über dreieinviertel Milliarden Rubel!

Rechts marschierten auf: die Vertreter von hohen Stäben, Industrieverbänden, Handelskammern und Banken, von dem Bund der Gestütbesitzer und anderen Organisationen, die Hunderte namhafter Persönlichkeiten umfaßten. Links Vertreter von Sowjets, Armeekomitees, Gewerkschaften, demokratischen Munizipalitäten, Kooperativen, hinter denen auf dem weiten Fond namenlose Millionen und Abermillionen sichtbar wurden. Zu normaler Zeit war das Übergewicht ständig auf seiten des kurzen Armes vom Hebel. „Man kann“, besonders in einem solchen Moment, belehrte Zeretelli, „das spezifische Gewicht und die Bedeutung jener, die durch das Gewicht ihres Besitzes stark sind, nicht bestreiten.“ Ja, es handelte sich aber darum, daß dies Gewicht immer ... unwägbarer wurde. Wie die Schwere nicht eine innere Eigenschaft der einzelnen Gegenstände ist, sondern nur das gegenseitige Verhältnis zwischen ihnen, so ist das soziale Gewicht keine angeborene Eigenschaft einer Person, sondern nur jene Klasseneigenschaft, die andere Klassen ihr zuzuerkennen gezwungen sind. Die Revolution war jedoch dicht an die Grenze herangekommen, wo die Aberkennung der „grundlegendsten“ Eigenschaften der herrschenden Klassen beginnt. Darum wurde die Lage der namhaften Minderheit auf dem kurzen Hebelarm so unbequem. Die Versöhnler waren aus allen Kräften bestrebt, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Aber auch sie hatten nicht mehr die Kraft: zu ungestüm drückten die Massen auf den langen Hebelarm. Wie behutsam verteidigten die Großagrarier, Bankiers und Industriellen ihre Interessen. Ja, verteidigten sie sie überhaupt noch? Fast nicht mehr. Sie schützten die Rechte des Idealismus, die Interessen der Kultur, die Vorrechte der zukünftigen Konstituierenden Versammlung. Ein Führer der Schwerindustrie, von Ditmar, schloß sogar mit einem Hymnus auf „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Wo waren sie hin, die metallischen Baritone des Profits, die heiseren Bässe der Bodenrente? Von der Bühne flossen nur noch die süßesten Tenöre der Selbstlosigkeit. Aber Achtung: wieviel Galle und Essig unter dem Honigseim! Wie unerwartet schlagen die lyrischen Rouladen in wütendes Falsett um. Der Vertreter der Allrussischen Landwirtschaftskammer, Kapazinski, aus ganzer Seele für eine spätere Agrarreform, vergißt nicht, „unserem reinen Zeretelli“ für das Zirkular zu danken, welches das Recht verteidigt gegen die Anarchie. Aber Landkomitees? Die doch die Macht unmittelbar den Bauern geben? Ihm, „dem Finsteren, kaum des Schreibens und Lesens Kundigen, der vor Glück darüber, daß er endlich ... Boden erhält, den Verstand verliert, diesem Menschen wird die Rechtsausübung im Lande übertragen“? Wenn die Gutsbesitzer im Kampf mit dein finsteren Bauern das Eigentum verteidigen, so nicht aus Selbstsucht, bewahre, nur um es später auf den Altar der Freiheit zu legen.

Es sollte nun scheinen, die soziale Symbolik hätte sich fast erschöpft. Doch hier überkommt Kerenski eine glückliche Inspiration. Er schlägt vor, noch einer Gruppe das Wort zu erteilen, „der Gruppe der russischen Geschichte, und zwar: Breschko-Breschkowskaja, Kropotkin und Plechanow“. Die russische sozialrevolutionäre Bewegung, der russische Anarchismus und die russische Sozialdemokratie treten in Person der alten Generation auf; Anarchismus und Marxismus in Person ihrer angesehensten Begründer.

Kropotkin bittet, seine Stimme „anzuschließen jenen Stimmen, die das gesamte russische Volk aufriefen, ein für allemal mit dem Zimmerwaldismus zu brechen“. Der Apostel der Gewaltlosigkeit verbindet sich sogleich mit dem rechten Flügel der Beratung. Die Niederlage droht nicht nur mit dem Verlust großer Territorien und mit Kontributionen: „Wißt, Genossen, es gibt etwas noch Schlimmeres als all dies: das ist die Psychologie des besiegten Landes.“ Der alte Internationalist zieht die Psychologie des besiegten Landes ... jenseits der Grenze vor. Daran erinnernd, wie das besiegte Frankreich sich vor dem russischen Zaren erniedrigte – er sieht nicht voraus, wie sich das siegreiche Frankreich vor den amerikanischen Bankiers erniedrigen wird –, ruft Kropotkin aus: „Sollen auch wir das durchmachen? Um keinen Preis!“ Es antwortet ihm Beifall des ganzen Saales. Welch rosige Perspektiven eröffnet dagegen der Krieg: „Alle beginnen zu begreifen, daß der Aufbau eines neuen Lebens, auf neuen sozialistischen Grundlagen, nottut ... Lloyd George hält vom sozialistischen Geist durchdrungene Reden ... – In England, in Frankreich, in Italien entsteht ein neues Verständnis für das Dasein, durchdrungen vom Sozialismus, leider vom Staatssozialismus.“ Wenn auch Lloyd George und Poincaré sich „leider“ vom Staatsprinzip noch nicht losgesagt haben, so hat sich Kropotkin ihnen ziemlich offen genähert. „Ich glaube“, sagt er, „daß wir den Rechten der Konstituierenden Versammlung nichts vorwegnehmen – ich anerkenne vollauf, daß in dieser Frage der souveräne Beschluß ihr gehören muß –, wenn wir, die Versammlung der russischen Erde, laut unseren Wunsch aussprechen, daß Rußland als Republik proklamiert werden möge.“ Kropotkin besteht auf einer föderativen Republik: „Wir brauchen eine Föderation, wie wir sie in den Vereinigten Staaten sehen.“ Derart hat sich die bakuninsche „Föderation freier Gemeinden“ verwandelt! „Versprechen wir nun einander“, beschwört Kropotkin zum Schluß, „daß wir uns nicht mehr in eine linke Hälfte dieses Theaters und in eine rechte teilen wollen ... Wir alle haben doch die gleiche Heimat, und zu ihr müssen wir stehen und, wenn notwendig, für sie fallen, wir alle, Rechte und Linke.“ Gutsbesitzer, Industrielle, Generale, Georgsritter, alle, die Zimmerwald nicht anerkennen, bereiten dem Apostel des Anarchismus die verdiente Ovation.

Die Prinzipien des Liberalismus existieren in der Wirklichkeit nicht anders als in Verbindung mit dem Polizeigeist. Der Anarchismus ist der Versuch, den Liberalismus von Polizeigeist zu säubern. Aber wie Sauerstoff im reinen Zustande für die Atmung unerträglich ist, so bedeuten die vom Polizeigeist gereinigten Prinzipien des Liberalismus den Tod der Gesellschaft. Als karikaturenhafter Schatten des Liberalismus teilt der Anarchismus im allgemeinen dessen Schicksal. Die Entwicklung der Klassengegensätze, die den Liberalismus tötet, tötet auch den Anarchismus. Wie jede Sekte, die ihre Lehre nicht auf die wirkliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft stützt, sondern auf die ad-adsurdum-Führung einer ihrer Eigenschaften, verflüchtigt sich der Anarchismus wie eine Seifenblase in dem Augenblick in die Luft, wo die sozialen Gegensätze zu Krieg oder Revolution führen. Der von Kropotkin verkörperte Anarchismus war vielleicht das gespensterhafteste von allen Gespenstern der Staatsberatung.

In Spanien, dem klassischen Lande des Bakunismus, wiederholen die Anarchosyndikalisten und die sogenannten „spezifischen“ oder reinen Anarchisten, während sie auf Politik verzichten, in Wirklichkeit die Politik der russischen Menschewiki. Die pathetischen Verneiner des Staates verbeugen sich ehrfurchtsvoll vor ihm, sobald er ein wenig seine Haut erneuert. Während sie das Proletariat vor den Versuchungen der Macht warnen, unterstützen sie selbstlos die Macht der „linken“ Bourgeoisie. Während sie die Gangräne des Parlamentarismus verfluchen, spielen sie insgeheim ihren Anhängern die Wahlflugblätter der Vulgärrepublikaner in die Hand. Welche Lösung die spanische Revolution auch bringen wird, den Anarchismus wird sie jedenfalls ein für allemal erledigen.

Durch den Mund des vom ganzen Saal stürmisch begrüßten Plechanow – die Linken ehrten den alten Lehrer, die Rechten den neuen Verbündeten sprach der frühe russische Marxismus, dessen Perspektive jahrzehntelang in der politischen Freiheit mündete. Wo für die Bolschewiki die Revolution erst begann, war sie für Plechanow abgeschlossen. Während er den Industriellen empfahl, „Annäherung an die Arbeiterklasse zu suchen“, suggerierte Plechanow den Demokraten: „Ihr müßt euch unbedingt mit den Vertretern der Handels- und Industrieklasse verständigen.“ Als abschreckendes Beispiel führte Plechanow „Lenin traurigen Angedenkens“ an, der so tief gesunken sei, daß er das Proletariat aufrufe, „die politische Macht sofort zu ergreifen“. Eben um vor dem Machtkampf zu warnen, brauchte die Beratung Plechanow, der auch das letzte Rüstzeug des Revolutionärs an der Schwelle der Revolution abgelegt hatte.

Am Abend des Tages, an dem die Delegierten im Namen „der russischen Geschichte“ gesprochen hatten, erteilte Kerenski das Wort dem Vertreter der Landwirtschaftskammern und des Verbandes der Pferdezüchter, gleichfalls einem Kropotkin, einem anderen Mitglied der alten fürstlichen Familie, die, wenn man den Stammbaumlisten Glauben schenken soll, mehr Anrecht auf den russischen Thron besaß als die Romanows. „Ich bin kein Sozialist“, sagte der feudale Aristokrat, „doch ich achte den wahren Sozialismus. Wenn ich aber Expropriationen, Plünderungen, Gewaltanmaßung sehe, dann muß ich sagen, daß die Regierung Menschen, die sich an den Sozialismus herangemacht haben, zwingen muß, der Sache des Aufbaus des Landes fernzubleiben.“ Dieser zweite Kropotkin, der offen einen Pfeil gegen Tschernow abschoß, hatte gegen solche Sozialisten wie Lloyd George oder Poincaré nichts einzuwenden. Gemeinsam mit dem Antipoden aus seiner Familie, dem Anarchisten, verurteilte der Monarchist Kropotkin Zimmerwald, Klassenkampf, Landexpropriationen – ach, er war gewohnt, dies „Anarchie“ zu nennen –, und er forderte gleichfalls Einigkeit und Sieg. Die Protokolle stellen leider nicht fest, ob die Kropotkins einander applaudierten.

In der durch Haß zerspaltenen Beratung war so viel von Einigkeit gesprochen worden, daß sie sich, wenn auch für einen Augenblick, in dem unvermeidlichen symbolischen Händedruck verkörpern mußte. Über dieses Ereignis berichtete in beseelten Worten die Zeitung der Menschewiki: „Während des Auftretens Bublikows spielt sich ein Vorfall ab, der einen tiefen Eindruck auf alle Teilnehmer der Beratung macht ... „Wenn gestern“, erklärte Bublikow, „der edle Führer der Revolution, Zeretelli, seine Hand der Industriewelt entgegengestreckt hat, so mag er wissen, daß diese Hand nicht in der Luft hängenbleiben wird ...“ Als Bublikow schließt, geht Zeretelli an ihn heran und drückt ihm die Hand. Stürmische Ovationen.“

Wieviel Ovationen! Zuviel Ovationen. Acht Tage vor der geschilderten Szene hatte der gleiche Bublikow, eine gewichtige Gestalt im Eisenbahnwesen, auf dem Industriellenkongreß an die Adresse der Sowjetführer geschrien: „Weg ihr Unehrlichen, Unwissenden, alle jene, die ... in den Abgrund gestoßen haben!“, und seine Worte waren in der Moskauer Atmosphäre noch nicht verklungen. Der alte Marxist Rjasanow, der als Mitglied einer Gewerkschaftsdelegation an der Beratung teilnahm, erinnerte sehr zur rechten Zeit an den Kuß des Lyoner Bischofs Lamourette: „an jenen Kuß, den zwei Teile der Nationalversammlung austauschten – nicht Arbeiter und Bourgeoisie, sondern zwei Teile der Bourgeoisie –, und ihr wißt, daß der Kampf niemals so wild entbrannte als nach diesem Kuß“. Mit ungewöhnlicher Offenheit gesteht Miljukow, die „Einigkeit war seitens der Industriellen unaufrichtig – aber praktisch notwendig für die Klasse, die soviel zu verlieren hatte. Eine solche Versöhnung mit Hintergedanken war auch der berühmt gewordene Händedruck Bublikows.“

Hat die Mehrheit der Teilnehmer an die Kraft von Händedruck und politischen Küssen geglaubt? Hat sie an sich selbst geglaubt? Ihre Gefühle waren widersprechend wie ihre Pläne. Zwar verspürte man in den einzelnen Reden, besonders bei Sprechern der Randgebiete, noch das Zittern der ersten Begeisterungen, Hoffnungen und Illusionen. Jedoch ballten in der Versammlung, wo die linke Hälfte enttäuscht und demoralisiert, die rechte erbittert war, die Nachklänge der Märztage wie ein beim Scheidungsprozeß verlesener Briefwechsel von Verlobten. Die ins Reich der Gespenster entschwindenden Politiker versuchten mit gespensterhaften Mitteln ein gespenstisches Regime zu retten. Eine Todeskühle der Hoffnungslosigkeit wehte über der Versammlung der „Lebendigen Kräfte“, über der Parade der Gezeichneten.

Ganz am Schluß der Beratung ereignete sich ein Zwischenfall, der die tiefe Kluft auch in der Gruppe zeigte, die als Muster staatlicher Geschlossenheit galt: im Kosakentum. Nagajew, ein junger Kosakenoffizier, der der Sowjetdelegation angehörte, erklärte, das werktätige Kosakentum gehe nicht mit Kaledin: die Frontkämpfer hätten kein Vertrauen zu den Kosakenspitzen. Das war richtig und traf die empfindlichste Stelle. Der Zeitungsbericht schildert weiter die stürmischste aller Szenen der Beratung. Die Linke klatscht Nagajew begeistert Beifall. Es werden Stimmen laut: „Ehre dem revolutionären Kosakentum.“ Entrüstete Proteste von rechts: „Ihr werdet dafür Rede stehen!“ Eine Stimme aus der Offiziersloge: „Die deutsche Mark.“ Unvermeidlich als letztes patriotisches Argument haben diese Worte die Wirkung einer geplatzten Bombe. Im Saal entsteht höllischer Lärm. Die Sowjetdelegierten springen von ihren Plätzen auf und drohen mit den Fäusten gegen die Offiziersloge. Rufe: „Provokateure!“ ... Unaufhörlich tönt die Glocke des Vorsitzenden. „Es scheint – noch ein Augenblick, und ein Handgemenge beginnt.“

Nach all dem Vorgefallenen versicherte Kerenski in seiner Schlußrede: „Ich glaube und weiß sogar ... es ist ein großes Verständnis füreinander erreicht worden, es ist eine große Achtung füreinander erreicht worden ...“ Noch nie zuvor hatte sich das Doppelwesen des Februarregimes zu solch widerlicher und zweckloser Verlogenheit erhoben. Die Stimme des Redners, der selbst nicht imstande ist, diesen Ton durchzuhalten, schlägt plötzlich bei den letzten Sätzen um in einen Schrei der Verzweiflung und Drohung. „Mit versagender Stimme, die vom hysterischen Schrei bis zum tragischen Flüstern sinkt, droht Kerenski“, nach Miljukows Schilderung, „dem eingebildeten Gegner, den er mit flackerndem Blick im Saale sucht ...“ In Wahrheit wußte Miljukow besser als sonst jemand, daß der Gegner kein eingebildeter war. „Heute, Bürger der russischen Erde, will ich nicht mehr träumen ... Mag das Herz steinern werden ...“, raste Kerenski, „mögen alle jene Blumen und Träume vom Menschen verdorren (eine Frauenstimme von oben: „Nicht doch!“), die man heute, von diesem Katheder hinab, mit Füßen trat. So werde ich selbst zu treten beginnen. Sie sollen nicht mehr sein. (Eine Frauenstimme von oben: „Sie dürfen das nicht tun, Ihr Herz wird es Ihnen nicht erlauben!“) Ich werde die Schlüssel zum Herzen, das die Menschen liebt, weit wegwerfen, ich werde nur an den Staat denken.“

Im Saal stand ein Schauder, der diesmal beide Hälften erfaßt hatte. Die soziale Symbolik der Staatsberatung endete mit einem unerträglichen Monolog aus einem Melodrama. Die Frauenstimme, die sich zur Verteidigung der Blumen des Herzens erhob, erklang wie ein Notschrei, wie SOS-Rufe der friedlichen, sonnigen, unblutigen Februarrevolution. Über die Staatsberatung fiel endlich der Theatervorhang.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003