Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Kapitel 10:
Die Bourgeoisie mißt ihre Kräfte mit der Demokratie

Am 28. August, als Angstfieber das Winterpalais schüttelte, meldete der Kommandeur der „wilden“ Division, Fürst Bagration, telegraphisch Kornilow, „die Einheimischen erfüllen ihre Pflicht vor der Heimat und werden auf Befehl ihres obersten Helden ... ihren letzten Tropfen Blut vergießen“. Schon wenige Stunden darauf kam der Vormarsch der „wilden“ Division zum Stehen, und am 31. August versicherte eine Sonderdeputation mit demselben Bagration an der Spitze Kerenski, die Division unterwerfe sich völlig der Provisorischen Regierung. All das geschah nicht nur ohne Kampf, sondern ohne einen einzigen Schuß. Es kam nicht nur nicht bis zum letzten, sondern auch nicht zum ersten Blutstropfen. Kornilows Soldaten machten nicht einmal den Versuch, sich mit Waffengewalt den Weg nach Petrograd zu bahnen. Die Kommandeure hatten nicht gewagt, es ihnen zu befehlen. Die Regierungstruppen waren nirgends gezwungen, Gewalt anzuwenden, um den Vorstoß der Kornilowschen Abteilungen aufzuhalten. Die Verschwörung verfiel, zerbröckelte, verdampfte.

Um dies zu erklären, genügt es, die Kräfte, die in den Kampf gegangen waren, näher zu betrachten. Wir werden dabei vor allem feststellen müssen – und diese Entdeckung wird für uns nicht überraschend sein –, daß der Stab der Verschwörung der alte zaristische Stab war, eine Kanzlei von Menschen ohne Köpfe, unfähig, in dem von ihnen begonnenen großen Spiel zwei, drei Züge im voraus zu überlegen. Obwohl Kornilow Wochen vorher den Tag der Umwälzung festgelegt hatte, war nichts vorausgesehen und gebührend berechnet. Die rein militärische Vorbereitung des Aufstandes war ungeschickt, unordentlich, leichtfertig durchgeführt. Komplizierte Änderungen in der Organisation und im Kommando wurden unmittelbar vor dem Ausmarsch, bereits im Gehen, getroffen. Die „wilde“ Division, die der Revolution den ersten Schlag versetzen sollte, zählte insgesamt 1.350 Kämpfer, denen 600 Gewehre, 1.000 Lanzen und 500 Säbel fehlten. Fünf Tage vor Eröffnung der Kampfoperationen erließ Kornilow einen Befehl, die Division in ein Korps umzuformieren. Diese Maßnahme, schon von den Schulbüchern verurteilt, hielt man offenbar für nötig, um die Offiziere durch höhere Gehälter zu verlocken. „Das Telegramm, wonach die fehlenden Waffen in Pskow geliefert werden würden“, schreibt Martynow, „erhielt Bagration erst am 31. August, nach dem endgültigen Scheitern des ganzen Unternehmens.“

Mit der Abkommandierung der Instrukteure von der Front nach Petrograd beschäftigte sich das Hauptquartier ebenfalls erst in allerletzter Minute. Die beauftragten Offiziere wurden ausgiebig mit Geld und Sonderwaggons ausgerüstet. Doch die patriotischen Herren beeilten sich vermutlich gar nicht sehr, das Vaterland zu retten. Nach zwei Tagen war die Eisenbahnverbindung zwischen Hauptquartier und Hauptstadt unterbrochen, und die Mehrzahl der Abkommandierten erreichte den Platz der beabsichtigten Heldentaten überhaupt nicht.

In der Hauptstadt bestand jedoch eine eigene Organisation von Kornilow-Anhängern, die etwa zweitausend Mitglieder zählte. Die Verschwörer wurden in Gruppen aufgeteilt mit speziellen Aufgaben: Erbeutung von Panzerautos, Verhaftung und Ermordung der angesehensten Sowjetmitglieder, Verhaftung der Provisorischen Regierung, Einnahme der wichtigsten Ämter. Nach den Worten des uns bereits bekannten Winberg, des Vorsitzenden des Verbandes der Kriegspflicht, „sollten beim Eintreffen der Truppen Krymows die wichtigsten Kräfte der Revolution bereits gebrochen, vernichtet oder unschädlich gemacht worden sein, so daß Krymow nur noch die Ordnung in der Stadt herzustellen hätte“. Allerdings hielt man in Mohilew dieses Aktionsprogramm für übertrieben und betraute mit der wesentlichsten Aufgabe Krymow, doch auch das Hauptquartier erwartete von den Abteilungen des republikanischen Zentrums sehr ernste Hilfe. Indes traten die Petrograder Verschwörer in keiner Weise in Erscheinung, sie muckten nicht, rühren keinen Finger, taten, als wären sie überhaupt nicht auf der Welt. Winberg erklärt dieses Rätsel ziemlich einfach. Es stellte sich heraus, daß der Leiter der Konterspionage, Oberst Heimann, die entscheidendsten Stunden in einem Vorstadtrestaurant verbrachte, während Oberst Sidorin, der in unmittelbarem Auftrage Kornilows die Tätigkeit der gesamten patriotischen Gesellschaften der Hauptstadt vereinigen sollte, und Oberst Ducimetière, Leiter der militärischen Abteilung, „spurlos verschwanden und nirgendwo aufzufinden waren“. Der Kosakenoberst Dutow, der „unter der Maske der Bolschewiki“ aufzutreten hatte, beschwerte sich später: „Ich lief herum ... auf die Straße zu rufen, aber niemand folgte mir“. Die für die Organisation bestimmten Geldbeträge wurden, nach den Worten Winbergs, von den höheren Mitgliedern entwendet oder verjubelt. Oberst Sidorin hatte sich, nach Denikins Behauptung, „in Finnland versteckt unter Mitnahme der letzten Reste der Organisationsgelder, etwa 150.000 Rubel“. Lwow, den wir verhaftet im Winterpalais verlassen haben, erzählte später von einem Spender hinter den Kulissen, der Offizieren eine beträchtliche Summe auszuhändigen hatte, aber, auf dem verabredeten Platz angelangt, die Verschwörer in einem dermaßen betrunkenen Zustande vorfand, daß er sich nicht entschließen konnte, ihnen das Geld zu übergeben. Winberg selbst meint, ohne diese wahrhaft ärgerlichen „Zufälle“ hätte der Plan durchaus von Erfolg gekrönt sein können. Doch bleibt die Frage: weshalb gruppierten sich um das patriotische Unternehmen vorwiegend Säufer, Defraudanten und Verräter? Vielleicht deshalb, weil jede historische Aufgabe die ihr adäquaten Kader mobilisiert?

Um die personelle Zusammensetzung der Verschwörer war es schlecht bestellt, beginnend mit der Spitze. „General Kornilow“ war nach den Worten des rechten Kadetten Isgojew „der populärste General ... bei der friedlichen Bevölkerung, aber nicht bei den Truppen, wenigstens nicht bei jenen des Hinterlandes, die ich beobachten konnte.“ Unter der friedlichen Bevölkerung versteht Isgojew das Publikum vom Newski-Prospekt. Den Volksmassen der Front wie des Hinterlandes war Kornilow fremd, feindlich, verhaßt.

Der zum Kommandeur des 3. Kavalleriekorps ernannte General Krassnow, Monarchist, der bald danach versuchte, als Vasall bei Wilhelm II. unterzukommen, wunderte sich, daß „Kornilow, der eine so große Sache vorhatte, selbst in Mohilew blieb, im Schlosse, umgeben von den Turkmenen und Stoßbrigadlern, als glaubte er selbst nicht an den Erfolg“. Auf die Frage des französischen Journalisten Claude Anet: weshalb Kornilow im entscheidenden Moment nicht selbst gegen Petrograd gezogen sei, – antwortete das Haupt der Verschwörung: „Ich war krank, ich hatte einen heftigen Malariaanfall, und mir fehlte die übliche Energie.“

Zuviel der unglücklichen Zufälle: so pflegt es stets zu gehen, wenn eine Sache von vornherein dem Untergang geweiht ist. In ihren Stimmungen schwankten die Verschwörer zwischen trunkenem Hochmut, dem das Meer bis zu den Knien reicht, und völligem Versagen vor dem ersten realen Hindernis. Es ging nicht um Kornilows Malaria, sondern um eine weitaus tiefere, fatalere, unheilbare Krankheit, die den Willen der besitzenden Klassen paralysierte.

Die Kadetten bestritten ernstlich Kornilows konterrevolutionäre Absichten, worunter sie die Restauration der Romanowschen Monarchie verstanden. Als handelte es sich darum! Der „Republikanismus“ Kornilows hinderte in keiner Weise den Monarchisten Lukomski, mit ihm Hand in Hand zu gehen, und ebensowenig den Vorsitzenden des Verbandes Echtrussischer Leute, Rimskij-Korssakow, Kornilow am Tage des Aufstandes zu telegraphieren: „Ich bete heiß zu Gott, er möge Ihnen helfen, Rußland zu retten; stelle mich zu Ihrer vollen Verfügung.“ Die Schwarzhundertanhänger des Zarismus schreckte das billige republikanische Fähnchen nicht ab. Sie begriffen, daß das Programm Kornilows in ihm selbst lag, in seiner Vergangenheit, seinen Kosakenabzeichen, seinen Verbindungen und Finanzquellen und hauptsächlich seiner aufrichtigen Bereitschaft, der Revolution die Kehle zu durchschneiden.

Kornilow, der in seinen Aufrufen sich „Sohn eines Bauern“ nannte, baute seinen Umwälzungsplan völlig auf Kosakentum und Bergtruppe. Unter den gegen Petrograd geworfenen Soldaten war nicht ein einziger Infanterietruppenteil. Zum Muschik hatte Kornilow keinerlei Wege, und er versuchte auch nicht, sie zu erschließen. Im Hauptquartier fand sich allerdings in der Person irgendeines „Professors“ ein Agrarreformator, der jedem Soldaten eine phantastische Zahl Deßjatinen zu versprechen bereit war. Doch der zu diesem Thema entworfene Aufruf wurde nicht einmal veröffentlicht: von Agrardemagogie hielt die Generale die nicht unbegründete Angst zurück, die Gutsbesitzer zu schrecken und abzustoßen.

Der Mohilewer Bauer Tadäusch, der in jenen Tagen die Umgebung des Hauptquartiers aus der Nähe beobachten konnte, erzählt, daß unter den Soldaten und in den Dörfern niemand den Manifesten des Generals Glauben schenkte: „die Macht will er, aber von Land kein Wort, von Beendigung des Krieges kein Wort“. Die Massen hatten in den sechs Monaten Revolution einigermaßen gelernt, sich in den lebenswichtigsten Fragen zurechtzufinden. Kornilow brachte dem Volk nur Krieg, Schutz der Generalsprivilegien und des gutsherrlichen Besitzes. Nichts anderes konnte er ihm geben, und nichts anderes erwartete es von ihm. In dieser für die Verschwörer im voraus offenkundigen Unmöglichkeit, sich auf die Bauerninfanterie, geschweige denn auf die Arbeiter stützen zu können, äußerte sich eben die soziale Verdammnis der Kornilowschen Clique.

Das Bild der politischen Kräfte, das der Diplomat des Hauptquartiers, Fürst Trubetzkoi, ausmalte, war in vielem richtig, aber falsch in einem: von jener Gleichgültigkeit, die bereit ist, „sich jedem Peitschenhieb zu unterwerfen“, war im Volke nicht die Spur; im Gegenteil, die Massen warteten gleichsam nur auf die Drohung mit der Peitsche, um zu zeigen, welche Quellen an Energie und Selbstlosigkeit sich in ihren Tiefen verbergen. Der Fehler in der Beurteilung der Massenstimmung verwandelte alle übrigen Berechnungen in Staub.

Die Verschwörung wurde von jenen Kreisen geleitet, die nicht gewohnt und außerstande waren, ohne die unteren Schichten etwas zu tun, ohne Arbeitskraft, ohne Kanonenfutter, ohne Offiziersburschen, Dienstboten, Schreiber, Chauffeure, Gepäckträger, Köchinnen, Waschfrauen, Weichensteller, Telegraphisten, Pferdeknechte, Kutscher. Indes, alle diese kleinen menschlichen Schrauben, diese unmerklichen, zahllosen, unentbehrlichen, waren für die Sowjets und gegen Kornilow. Die Revolution war allgegenwärtig. Sie drang überall hin, die Verschwörung überziehend. Sie hatte überall ihr Auge, ihr Ohr, ihren Arm.

Das Ideal der militärischen Erziehung besteht darin, daß der Soldat hinter dem Rücken des Vorgesetzten so handele wie vor dessen Augen. Indes erfaßten die russischen Soldaten und Matrosen im Jahre 1917, während sie die offiziellen Befehle auch unter den Augen der Kommandeure unausgeführt ließen, gierig im Fluge die Befehle der Revolution und erfüllten sie noch häufiger aus eigener Initiative, ehe sie sie erreichten. Die zahllosen Diener der Revolution, deren Agenten, Kundschafter, Kämpfer, brauchten weder Antreibung noch Aufsicht.

Formell lag die Liquidierung der Verschwörung in den Händen der Regierung. Das Exekutivkomitee leistete Beistand. In Wirklichkeit ging der Kampf durch ganz andere Kanäle. Während Kerenski, gebeugt unter der Last der „übermenschlichen Verantwortung“, einsam das Parkett des Winterpalais durchmaß, entfaltete das Komitee der Verteidigung, das auch Militärisches Revolutionskomitee hieß, eine umfassende Tätigkeit. Seit dem Morgen ergingen telegraphische Instruktionen an die Eisenbahn-, Post- und Telegraphenangestellten sowie an die Soldaten. „Alle Truppenbewegungen erfolgen“, berichtete am selben Tage Dan, „auf Befehl der Provisorischen Regierung, gegengezeichnet vom Komitee der Volksverteidigung“. Wirft man das Konventionelle beiseite, so bedeutet das: das Komitee der Volksverteidigung disponierte über die Truppen unter der Firma der Provisorischen Regierung. Gleichzeitig ging man an die Vernichtung der Kornilowschen Nester in Petrograd selbst, wo Haussuchungen und Verhaftungen in Militärschulen und Offiziersorganisationen durchgeführt wurden. Man fühlte die Hand des Komitees überall. Für den Generalgouverneur interessierte sich kaum jemand.

Die unteren Sowjetorganisationen ihrerseits warteten nicht erst auf Weisungen von oben. Die Hauptarbeit war in den Bezirken konzentriert. In den Stunden der größten Schwankungen der Regierung und der quälenden Verhandlungen des Exekutivkomitees mit Kerenski fanden sich die Bezirkssowjets enger zusammen und beschlossen: die Beratung der Bezirke in Permanenz zu erklären; eigene Vertreter dem vom Exekutivkomitee gebildeten Stab anzugliedern; eine Arbeitermiliz zu schaffen; die Regierungskommissare unter Kontrolle der Bezirkssowjets zu stellen; fliegende Abteilungen zu organisieren zwecks Festnahme konterrevolutionärer Agitatoren. In ihrer Gesamtheit bedeuteten diese Maßnahmen nicht nur Aneignung von bedeutenden Funktionen der Regierung, sondern auch von Funktionen des Petrograder Sowjets. Die Logik der Situation zwang die höheren Sowjetorgane, sich stark zusammenzudrängen, um den unteren Platz zu machen. Das Eintreten der Petrograder Bezirke in die Arena des Kampfes veränderte jäh dessen Richtung und Schwung. Wieder bewies die Erfahrung die unerschöpfliche Lebensfähigkeit der Sowjetorganisation: von oben durch die Leitung der Versöhnler paralysiert, erwachte sie im kritischen Moment unter dem Vorstoß der Massen von unten zu neuem Leben.

Für die die Bezirke inspirierenden Bolschewiki kam Kornilows Aufstand am wenigsten überraschend. Sie hatten ihn vorausgesehen, hatten gewarnt und waren als erste auf dem Posten. Schon in der Vereinigten Sitzung der Exekutiven vom 27. August teilte Sokolnikow mit, daß die bolschewistische Partei alle ihr möglichen Maßnahmen zur Informierung des Volkes über die Gefahr und zur Vorbereitung der Verteidigung getroffen habe; die Bolschewiki erklärten sich bereit, ihre Kampfarbeit mit den Organen des Exekutivkomitees in Übereinstimmung zu bringen. In der Nachtsitzung der Militärischen Organisation der Bolschewiki, unter Beteiligung von Delegierten zahlreicher Truppenteile, wurde beschlossen, die Verhaftung aller Verschwörer zu fordern, die Arbeiter zu bewaffnen und für sie Instrukteure aus den Soldaten heranzuziehen, die Verteidigung der Hauptstadt von unten her zu sichern und gleichzeitig sich auf die Schaffung einer revolutionären Macht aus Arbeitern und Soldaten vorzubereiten. Die Militärische Organisation veranstaltete in der ganzen Garnison Meetings. Die Soldaten wurden aufgerufen, unter Gewehr zu stehen, um beim ersten Alarm auszumarschieren.

„Ungeachtet dessen, daß sie in der Minderheit waren“, schreibt Suchanow, „war es ganz klar: im Militärischen Revolutionskomitee gehörte die Hegemonie den Bolschewiki.“ Er erklärt die Gründe dafür: „Wollte das Komitee ernstlich handeln, dann mußte es revolutionär handeln“, für revolutionäre Handlungen jedoch. „besaßen nur die Bolschewiki reale Mittel“, denn die Massen gingen mit ihnen. Die Gespanntheit des Kampfes rückte überall die aktivsten und kühnsten Elemente in den Vordergrund. Diese automatische Auslese hob die Bolschewiki unvermeidlich empor, festigte ihren Einfluß, konzentrierte die Initiative in ihren Händen und übertrug ihnen die faktische Leitung sogar in jenen Organisationen, wo sie in der Minderheit waren. Je näher zum Bezirk, Betrieb, zur Kaserne, um so unbestrittener und vollständiger die Herrschaft der Bolschewiki. Alle Parteizellen sind auf die Beine gebracht. Bei den Fachgruppen der Großbetriebe ist ununterbrochener Wachdienst der Bolschewiki organisiert. Im Bezirkskomitee der Partei halten Vertreter kleinerer Betriebe Wache. Die Verbindung erstreckt sich von unten, von der Werkstatt, über die Bezirke bis zum Zentralkomitee der Partei.

Unter dem unmittelbaren Druck der Bolschewiki und der von ihnen geleiteten Organisationen erklärte das Komitee der Verteidigung es für wünschenswert, einzelne Arbeitergruppen zu bewaffnen zum Schutze der Arbeiterviertel, Fabriken und Werkstätten. Diese Sanktion hatten die Massen nur gebraucht. In den Bezirken bildeten sich nach den Worten der Arbeiterpresse „lange Schlangen, die darauf harrten, in die Rote Garde einzutreten“. Es setzte die Ausbildung in Waffenhandhabung und Schießen ein. Als Instrukteure wurden erfahrene Soldaten hinzugezogen. Bereits am 29. entstanden in fast allen Bezirken Kampfmannschaften. Die Rote Garde meldete ihre Bereitschaft, unverzüglich eine Abteilung von vierzigtausend Mann unter Gewehr zu stellen. Die unbewaffneten Arbeiter formierten Mannschaften zum Auswerfen von Schützengräben, Errichtung von Unterständen und Stacheldrahtverhauen. Der neue Generalgouverneur, Paltschinski, der Sawinkow abgelöst hatte – Kerenski war es nicht gelungen, seinen Komplicen länger als drei Tage zu halten –, mußte in einer besonderen Erklärung zugeben, daß, als Not an Pionierarbeitern für die Verteidigung der Hauptstadt eintrat, „tausende Arbeiter ... durch persönliche unentgeltliche Arbeit während weniger Stunden eine Riesenleistung vollbrachten, die ohne ihre Hilfe einige Tage erfordert haben würde“. Das hinderte Paltschinski nicht, nach Sawinkows Beispiel die bolschewistische Zeitung zu verbieten, die einzige, die die Arbeiter als ihre Zeitung betrachteten.

Der Putilower Gigant wird das Zentrum des Widerstandes im Petershofer Bezirk. In aller Eile werden Kampfmannschaften gebildet. Die Arbeit in den Betrieben geht Tag und Nacht: es werden neue Kanonen montiert zur Formierung proletarischer Artilleriedivisionen. Der Arbeiter Minitschew erzählt: „In jenen Tagen wurde sechzehn Stunden täglich gearbeitet ... Es wurden ungefähr hundert Kanonen montiert.“

Das kürzlich geschaffene Exekutivkomitee der Eisenbahner sollte sehr bald seine Kampftaufe empfangen. Die Eisenbahner hatten ihre besonderen Gründe, sich vor einem Sieg Kornilows zu fürchten, der in sein Programm die Militarisierung der Eisenbahnen aufgenommen hatte. Die unteren Schichten überholten auch hier ihre Spitzen bei weitem. Die Eisenbahner nahmen die Schienen auseinander und sperrten die Wege, um die Kornilowschen Truppen aufzuhalten: die Kriegserfahrung kam ihnen zugute. Sie trafen auch Maßnahmen, den Herd der Verschwörung, Mohilew, zu isolieren durch Einstellung des Verkehrs nach und aus dem Hauptquartier. Die Post- und Telegraphenangestellten fingen Telegramme und Befehle aus dem Hauptquartier auf und sandten sie, oder Kopien davon, an das Komitee. Die Generale hatten sich in den Kriegsjahren daran gewöhnt, daß Eisenbahn und Post Fragen der Technik seien. Jetzt konnten sie sich überzeugen, daß es Fragen der Politik waren.

Die Gewerkschaften, am allerwenigsten zu politischer Neutralität neigend, warteten nicht auf besondere Einladungen, um Kampfstellungen zu beziehen. Der Verband der Eisenbahnarbeiter bewaffnete seine Mitglieder, entsandte sie auf die Strecken, die Wege zu beobachten, die Schienen auseinanderzunehmen, die Brücken zu bewachen, und so weiter; mit ihrem Eifer und ihrer Entschlossenheit trieben die Arbeiter die mehr bürokratische und gemäßigte Exekutive der Eisenbahner vorwärts. Der Metallarbeiterverband stellte dem Komitee der Verteidigung seine zahlreichen Angestellten zur Verfügung und wies ihm einen großen Geldbetrag für seine Ausgaben an. Der Chauffeurverband stellte dein Komitee seine Transport- und technischen Mittel zur Verfügung. Der Verband graphischer Arbeiter hatte in wenigen Stunden das Erscheinen der Zeitungen für den Montag gesichert, um die Bevölkerung über die Ereignisse auf dem laufenden zu halten, und führte gleichzeitig die wirksamste aller Kontrollen über die Presse aus. Der rebellische General hatte mit dem Fuß gestampft, – aus der Erde waren Legionen aufgetaucht: doch es waren Legionen des Feindes.

Rings um Petrograd, m den Nachbargarnisonen, auf den großen Stationen, in der Flotte arbeitete man Tag und Nacht: die eigenen Reihen wurden überprüft, Arbeiter bewaffnet, an den Wegen entlang Wachabteilungen aufgestellt, Verbindungen mit den Nachbarpunkten und dem Smolny angeknüpft. Das Komitee der Verteidigung mußte weniger wecken und appellieren als registrieren und lenken. Seine Pläne wurden stets übertroffen. Der Widerstand gegen die Rebellion der Generale verwandelte sich in eine Volkstreibjagd auf die Verschwörer.

In Helsingfors schuf eine Generalversammlung sämtlicher Sowjetorganisationen ein Revolutionskomitee, das in das Generalgouvernement, die Kommandantur, Konterspionage und in andere wichtige Institutionen seine Kommissare entsandte. Von nun an hatte kein Befehl ohne deren Unterschrift Gültigkeit. Telegraph und Telephon werden unter Kontrolle gestellt. Die offiziellen Vertreter des in Helsingfors liegenden Kosakenregiments, hauptsächlich Offiziere, versuchen ihre Neutralität zu proklamieren: es sind geheime Kornilow-Anhänger. Am nächsten Tage erscheinen im Komitee gemeine Kosaken mit der Erklärung, das gesamte Regiment sei gegen Kornilow. Kosakenvertreter werden zum erstenmal in den Sowjet eingeführt. Wie stets, so auch jetzt, verschiebt der scharfe Zusammenstoß der Klassen die Offiziere nach rechts, die Gemeinen nach links.

Der Kronstädter Sowjet, der Zeit gefunden hatte, seine Juliwunden restlos zu heilen, sandte eine telegraphische Erklärung, daß „die Kronstädter Garnison wie ein Mann bereit ist, auf den ersten Ruf des Exekutivkomitees sich zur Verteidigung der Revolution zu erheben“. Die Kronstädter wußten in jenen Tagen noch nicht, in welchem Maße die Verteidigung der Revolution Verteidigung ihrer selbst vor Vernichtung bedeutete: sie konnten es nur ahnen.

Schon bald nach den Julitagen war von der Provisorischen Regierung beschlossen worden, die Kronstädter Festung als ein bolschewistisches Nest aufzuheben. Die Maßnahme erklärte man in Übereinstimmung mit Kornilow offiziell mit „strategischen Gründen“. Böses ahnend, widersetzten sich die Seeleute. „Die Legende vom Verrat im Hauptquartier“, schrieb Kerenski, nachdem er bereits selbst Kornilow des Verrats beschuldigt hatte, „faßte in Kronstadt so tiefe Wurzeln, daß jeder Versuch, die Artillerie zu entfernen, dort direkt die Wut der Menge entfesselte.“ Mit der Aufgabe, ein Mittel zur Liquidierung Kronstadts zu finden, betraute die Regierung Kornilow. Er hatte dieses Mittel gefunden: Sogleich nach der Zertrümmerung der Hauptstadt sollte Krymow eine Brigade mit Artillerie gegen Oranienbaum richten und unter der Mündung der Küstengeschütze von der Kronstädter Garnison Entwaffnung der Festung und Abzug auf das Festland fordern, wo man mit den Seeleuten eine Massenabrechnung vorzunehmen plante. Aber zur gleichen Zeit, als Krymow an die Ausführung der ihm von der Regierung übertragenen Aufgabe gehen wollte, sah sich die Regierung gezwungen, die Kronstädter um Rettung vor Krymow zu bitten.

Das Exekutivkomitee ersuchte Kronstadt und Wyborg telephonisch, größere Truppenteile nach Petrograd zu schicken. Am Morgen des 29. begannen die Truppen einzutreffen. Das waren vorwiegend bolschewistische Abteilungen: damit der Aufruf des Exekutivkomitees Wirksamkeit erhalte, war die Bestätigung des Zentralkomitees der Bolschewiki erforderlich. Etwas früher, um die Tagesmitte des 28., übernahmen, auf Kerenskis Befehl, der stark einer demütigen Bitte glich, die Verteidigung des Winterpalais Matrosen vom Kreuzer Aurora, von dessen Kommando ein Teil noch immer im „Kresty“ saß wegen Teilnahme an der Julidemonstration. In den vom Wachdienst freien Stunden besuchten die Seeleute die im Gefängnis sitzenden Kronstädter sowie Trotzki, Raskolnikow und andere. „Ist es nicht Zeit, die Regierung zu verhaften?“ fragten die Besucher. „Nein, es ist noch nicht Zeit“, vernehmen sie als Antwort, „legt das Gewehr auf Kerenskis Schulter und schießt auf Kornilow. Danach werden wir unsere Rechnung mit Kerenski machen.“ Im Juni und im Juli waren diese Matrosen nicht besonders geneigt gewesen, den Argumenten der revolutionären Strategie zu lauschen. In diesen nicht ganz vollen zwei Monaten haben sie vieles gelernt. Die Frage nach der Verhaftung der Regierung stellen sie eher, um sich selbst zu überprüfen und ihr Gewissen zu erleichtern. Sie erfassen selbst die unabwendbare Konsequenz der Ereignisse. In der ersten Julihälfte – geschlagen, verurteilt, verleumdet; Ende August – die verläßlichste Wache des Winterpalais gegen Kornilow, werden sie Ende Oktober das Winterpalais aus den Geschützen der Aurora beschießen.

Aber sind die Matrosen auch bereit, die Generalabrechnung mit dem Februarregime noch für eine bestimmte Zeit zu vertagen, so wollen sie keinen überflüssigen Tag länger die Kornilow-Offiziere über sich dulden. Die Vorgesetzten, die ihnen die Regierung nach den Julitagen aufgezwungen hatte, standen fast ausnahmslos auf Seiten der Verschwörer. Der Kronstädter Sowjet beseitigte unverzüglich den Regierungskommandanten und stellte einen eigenen. Jetzt schrien die Versöhnler nicht mehr über die Absonderung einer Kronstädter Republik. Jedoch beschränkte sich die Sache durchaus nicht überall auf Absetzungen: an manchen Stellen kam es zu blutigem Strafgericht.

„Es begann in Wyborg“, sagt Suchanow, „mit Niedermetzelungen von Generalen und Offizieren seitens der wutentbrannten und in Panik geratenen Matrosen- und Soldatenmengen.“ Nein, das waren keine wutentbrannten Mengen, und man kann in diesem Falle wohl kaum von Panik sprechen. Am 29. morgens wurde vom Zentralkomitee der Flotte dem Kommandanten von Wyborg, General Oranowski, zur Weitergabe an die Garnison telegraphisch die Meldung vom Aufstand im Hauptquartier übermittelt. Der Kommandant hielt das Telegramm einen ganzen Tag zurück und antwortete auf Anfragen über die sich abspielenden Ereignisse, er habe keine Benachrichtigung erhalten. Bei einer von den Matrosen vorgenommenen Haussuchung wurde das Telegramm entdeckt. Auf frischer Tat ertappt, erklärte sich der General als Anhänger Kornilows. Die Matrosen erschossen den Kommandanten und mit ihm zwei weitere Offiziere, die sich als seine Gesinnungsgenossen ausgaben. Von den Offizieren der Baltischen Flotte verlangten die Matrosen ein schriftliches Treuegelöbnis für die Revolution, und als vier Offiziere des Linienschiffes Petropawlowsk sich sträubten, ihre Unterschrift zu geben, und sich als Kornilow-Anhänger bekannten, wurden sie auf Beschluß des Schiffskommandos an Ort und Stelle erschossen.

Über Soldaten und Matrosen schwebte Todesgefahr. Blutige Säuberung stand nicht nur Petrograd und Kronstadt bevor, sondern sämtlichen Garnisonen des Landes. Nach dem Verhalten ihrer Offiziere, die neuen Mut gefaßt hatten, nach deren Ton, deren schiefen Blicken konnten die Soldaten und Matrosen unfehlbar ihr Schicksal im Falle eines Sieges des Hauptquartiers voraussehen. Dort, wo die Atmosphäre besonders erhitzt war, beeilten sie sich, dem Feinde den Weg abzuschneiden und der beabsichtigten Säuberungsaktion der Offiziere ihre, die Säuberungsaktion der Matrosen und Soldaten, entgegenzustellen. Der Bürgerkrieg hat bekanntlich seine Gesetze, und sie haben noch niemals als Gesetze der Humanität gegolten.

Tschcheidse schickte sofort nach Wyborg und Helsingfors Telegramme, die die Selbstjustiz als „tödlichen Schlag gegen die Revolution“ verurteilten. Kerenski seinerseits telegraphierte nach Helsingfors: „Fordere sofortige Einstellung der abscheulichen Gewalttaten.“ Sucht man die politische Verantwortung für die vereinzelten Fälle von Selbstjustiz – ohne dabei zu vergessen, daß die Revolution in ihrer Gesamtheit eine Selbstjustiz ist –, so trugen die Verantwortung in diesem Fall restlos Regierung und Versöhnler, die im Augenblick der Gefahr zu den revolutionären Massen flüchteten, um sie hierauf den konterrevolutionären Offizieren wieder auszuliefern.

Wie während der Staatsberatung in Moskau, wo man von Stunde zu Stunde die Umwälzung erwartet hatte, so wandte sich Kerenski auch jetzt nach dem Bruch mit dem Hauptquartier an die Bolschewiki mit der Bitte, „die Soldaten zu beeinflussen, sich für die Verteidigung der Revolution zu erheben“. Während er die Matrosen-Bolschewiki zur Verteidigung des Winterpalais aufrief, entließ jedoch Kerenski seine Juligefangenen nicht aus dem Kerker. Suchanow schreibt darüber: „Die Situation, wo Alexejew mit Kerenski tuschelt und Trotzki im Gefängnis sitzt, war völlig unerträglich.“ Es ist nicht schwer, sich jene Erregung vorzustellen, die in den Gefängnissen herrschte. „Wir kochten vor Empörung“, erzählt der Unterleutnant zur See Raskolnikow, „über die Provisorische Regierung, die in so unruhigen Tagen ... fortfuhr, solche Revolutionäre wie Trotzki im „Kresty“ verfaulen zu lassen ... „Welche Feiglinge, oh, welche Feiglinge“, sagte Trotzki während des Spazierganges im Kreise zu uns, „sie müßten sofort Kornilow außer Gesetz erklären, damit jeder der Revolution ergebene Soldat in sich das Recht fühlt, mit ihm Schluß zu machen.““

Der Einzug der Kornilowschen Truppen in Petrograd hätte vor allem die Vernichtung der inhaftierten Bolschewiki bedeutet. In dem Befehl an General Bagration, der mit der Avantgarde in die Hauptstadt einziehen sollte, hatte Krymow nicht vergessen, besonders zu betonen: „Eine Bewachung der Gefängnisse und Arresthäuser einrichten, die darin befindlichen Personen jedoch keinesfalls herauslassen.“ Das war ein ganzes Programm, von Miljukow seit den Apriltagen inspiriert: „Keinesfalls herauslassen!“ Es gab in jenen Tagen in Petrograd kein Meeting, wo man nicht die Freilassung der Juligefangenen gefordert hätte. Delegation auf Delegation zog zum Exekutivkomitee, das seinerseits seine Führer zu Verhandlungen ins Winterpalais schickte. Vergeblich! Die Hartnäckigkeit Kerenskis in dieser Frage ist um so bemerkenswerter, als er während der ersten anderthalb bis zwei Tage die Lage der Regierung für hoffnungslos hielt und sich folglich selbst zu der Rolle des obersten Gefängniswärters verurteilte, der die Bolschewiki für den Galgen der Generale bewachte.

Es ist nicht verwunderlich, daß die von den Bolschewiki geleiteten Massen, gegen Kornilow kämpfend, nicht im mindesten Kerenski trauten. Es ging für sie nicht um die Verteidigung der Regierung, sondern um die Beschirmung der Revolution. Um so entschlossener und opfermutiger war ihr Kampf. Der Widerstand gegen die Meuterei erwuchs aus Schienen, Steinen, aus der Luft. Die Eisenbahner der Station Luga, wohin Krymow gekommen war, weigerten sich beharrlich, die Militärzüge abfahren zu lassen, mit dem Hinweis, es gäbe keine Lokomotiven. Die Kosakenstaffeln waren im Augenblick von bewaffneten Soldaten der zwanzigtausend Mann starken Lugaer Garnison umringt: Ein kriegerischer Zusammenstoß fand nicht statt, doch etwas viel Gefährlicheres: ein Kontakt, eine Verbindung, ein gegenseitiges Durchdrungensein. Der Lugaer Sowjet hatte inzwischen die Regierungserklärung über Kornilows Entlassung abgedruckt, und dieses Dokument wurde jetzt in den Staffeln stark verbreitet. Die Offiziere redeten den Kosaken zu, den Agitatoren nicht zu trauen. Doch schon die Notwendigkeit des Zuredens war ein bedrohliches Vorzeichen.

Nach Empfang des Kornilowschen Befehls, vorzurücken verlangte Krymow mit blankem Säbel, daß die Lokomotiven in einer halben Stunde fertig zu sein hätten. Die Drohung hatte scheinbar gewirkt: wenn auch mit neuen Verzögerungen, wurden die Lokomotiven schließlich gestellt; aber die Vorwärtsbewegung war trotzdem nicht möglich, denn der Weg nach vorn war zerstört und für gute vierundzwanzig Stunden verstopft. Um sich vor der zersetzenden Propaganda zu retten, führte Krymow am Abend des 28. seine Truppen einige Werst hinter Luga zurück. Aber die Agitatoren drangen sofort auch in die Dörfer ein: es waren Soldaten, Arbeiter, Eisenbahner, vor ihnen gab es keine Rettung, sie drangen überall durch. Die Kosaken versammelten sich sogar zu Meetings. Belagert von der Propaganda und seine Hilflosigkeit verfluchend, wartete Krymow vergeblich auf Bagration: die Eisenbahner hielten die Staffeln der „wilden“ Division auf denen es ebenfalls bevorstand, in den nächsten Stunden der gefährlichen moralischen Attacke ausgesetzt zu sein.

Wie willenlos, ja sogar feige die Versöhnlerdemokratie an sich auch gewesen sein mochte, so hatten ihr doch jene Massenkräfte, auf die sie sich im Kampfe gegen Kornilow halb und halb wieder stützen mußte, unerschöpfliche Wirkungsquellen eröffnet. Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki sahen ihre Aufgabe nicht darin, Kornilows Truppen in offenem Kampfe zu besiegen, sondern darin, sie für sich zu gewinnen. Das war richtig. Gegen diese Linie des „Versöhnlertums“ hatten selbstverständlich auch die Bolschewiki nichts einzuwenden: im Gegenteil, das war gerade ihre Grundmethode; die Bolschewiki verlangten nur, daß hinter den Agitatoren und Parlamentären bewaffnete Arbeiter und Soldaten bereitstanden. Für die moralische Einwirkung auf die Kornilowschen fand sich sogleich eine unbeschränkte Auswahl an Mitteln und Wegen. So wurde der „wilden“ Division eine muselmanische Delegation entgegengeschickt, der die gleich an Ort und Stelle ausfindig gemachten einheimischen Autoritäten angegliedert waren, beginnend mit dem Enkel des berühmten Chamil, des heldenhaften Verteidigers des Kaukasus gegen den Zarismus. Die Bergtruppen erlaubten ihren Offizieren nicht, die Delegation zu verhaften: das widerspräche den jahrhundertealten Traditionen der Gastfreundschaft. Verhandlungen fanden statt und wurden sogleich der Anfang vom Ende. Die Kornilowschen Kommandeure hatten sich zur Begründung des ganzen Marsches auf die in Petrograd ausgebrochenen Meutereien „deutscher Agenten“ berufen. Die unmittelbar aus der Hauptstadt eingetroffenen Delegierten widerlegten nicht nur die Tatsache der Meuterei, sondern wiesen mit Dokumenten in der Hand nach, daß Krymow ein Rebell sei, der die Truppen gegen die Regierung führe. Was konnten darauf Kornilows Offiziere erwidern?

Auf dem Waggon des Stabes der „wilden“ Division brachten die Soldaten eine rote Fahne an mit der Aufschrift: „Land und Freiheit“. Der Stabskommandant befahl, die Fahne einzurollen: „nur zur Vermeidung einer Verwechslung mit dem Eisenbahnsignal“, wie der Herr Oberstleutnant erklärte. Das Kommando des Stabes gab sich mit der ängstlichen Erklärung nicht zufrieden und verhaftete den Oberstleutnant. Ob man sich im Hauptquartier nicht doch geirrt hatte, als man sagte, den Kaukasiern sei es gleich, wen sie abschlachten?

Am nächsten Morgen traf von Kornilow ein Oberst bei Krymow ein mit dem Befehl: das Korps zusammenziehen, schnell gegen Petrograd vorrücken und es „überraschend“ besetzen. Im Hauptquartier versuchte man offenkundig, die Augen vor der Wirklichkeit noch zu verschließen. Krymow antwortete, das Korps sei auf verschiedenen Eisenbahnstrecken verstreut und werde an verschiedenen Stellen ausgeladen; unter seinem Befehl seien vorläufig nur acht Kosakenhundertschaften, die Eisenbahnlinien seien zerstört, versperrt, verbarrikadiert; Weiterkommen sei nur auf dem Marschwege möglich, und schließlich könne von einer überraschenden Besetzung Petrograds jetzt keine Rede sein, wo die Arbeiter und Soldaten in Hauptstadt und Umgebung unter Waffen ständen. Die Sache wurde dadurch noch komplizierter, daß die Möglichkeit endgültig verlorengegangen war, die Operation „überraschend“ für die Truppen Krymows selbst durchzuführen: Böses ahnend, verlangten sie Aufklärung. Man war gezwungen, sie in den Konflikt zwischen Kornilow und Kerenski einzuweihen, das heißt offiziell Versammlungen auf die Tagesordnung zu stellen.

Ein von Krymow in diesem Augenblick erlassener Befehl lautete: „Heute nacht erhielt ich vom Hauptquartier des Höchstkommandierenden und aus Petrograd die Mitteilung, daß in Petrograd Meutereien begonnen haben ...“ Diese Lüge sollte den bereits völlig offenen Feldzug gegen die Regierung rechtfertigen. Kornilows persönlicher Befehl vom 29. August lautet: „Die Konterspionage in Holland meldet: a) für die nächsten Tage wird gleichzeitig an der gesamten Front ein Schlag geplant zu dem Zwecke, unsere auseinandergefallene Armee zu erschüttern und zur Flucht zu zwingen, b) ein Aufstand in Finnland ist vorbereitet, c) es sind Brückensprengungen am Dnjepr und an der Wolga geplant, d) ein Aufstand der Bolschewiki in Petrograd wird organisiert.“ Dies ist die gleiche Meldung, auf die Sawinkow schon am 23. sich berufen hatte: Holland wurde nur zur Ablenkung erwähnt, das Dokument war allen Anzeichen nach in der französischen Militärmission oder unter deren Mitwirkung fabriziert worden.

Kerenski telegraphierte am gleichen Tage an Krymow: „In Petrograd herrscht völlige Ruhe. Ein Aufstand wird nicht erwartet. Es besteht kein Bedürfnis nach Ihrem Korps.“ Der Aufstand sollte durch die standrechtlichen Dekrete Kerenskis selbst hervorgerufen werden. Da die Regierung ihre Provokation vertagen mußte, durfte Kerenski berechtigterweise annehmen: „Ein Aufstand wird nicht erwartet.“

Keinen Ausweg sehend, unternahm Krymow den sinnlosen Versuch, mit seinen acht Hundertschaften gegen Petrograd zu marschieren. Das war mehr eine Geste zur Erleichterung des Gewissens, die selbstverständlich zu nichts führte. Einige Werst hinter Luga auf einen Wachschutz stoßend, kehrte Krymow um, ohne erst zu versuchen, den Kampf aufzunehmen. Über diese einzige, völlig fiktive „Operation“ schrieb später Krassnow, der Chef des 3. Kavalleriekorps: „Es wäre notwendig gewesen, den Schlag gegen Petrograd in einer Stärke von sechsundachtzig Schwadronen und Hundertschaften zu führen, er wurde jedoch von einer Brigade aus acht schwachen Hundertschaften, überdies zur Hälfte ohne Vorgesetzte, unternommen. Statt mit der Faust zuzuschlagen, schlug man mit einem Fingerchen: es war schmerzhaft für das Fingerchen und ganz unempfindlich für den, den man schlug.“ Eigentlich war auch kein Schlag mit einem Fingerchen erfolgt. Einen Schmerz hat niemand verspürt.

Die Eisenbahner taten unterdessen ihre Sache. Geheimnisvollerweise bewegten sich die Staffeln nicht in den Richtungen ihrer Bestimmungsorte. Die Regimenter trafen nicht bei ihren Divisionen ein, die Artillerie wurde in Sackgassen hineingetrieben, die Stäbe verloren die Verbindung mit ihren Truppenteilen. Auf allen größeren Stationen gab es eigene Sowjets, Eisenbahner- und Soldatenkomitees. Die Telegraphisten unterrichteten sie über alle Ereignisse, alle Verschiebungen, alle Veränderungen. Die gleichen Telegraphisten hielten Kornilows Befehle auf. Für die Kornilowianer ungünstige Nachrichten wurden unverzüglich vervielfältigt, verbreitet, angeschlagen, von Mund zu Mund weitergegeben. Maschinist, Weichensteller, Wagenschmierer wurden zu Agitatoren. In dieser Atmosphäre bewegten sich, oder was noch schlimmer, standen auf einem Fleck die Kornilowschen Staffeln. Das Kommando, das die Hoffnungslosigkeit seiner Lage bald verspürte, drängte offensichtlich nicht nach vorn und erleichterte durch seine Passivität die Arbeit der Gegenverschwörer des Transportes. Die Teile der Krymowschen Armee waren auf diese Weise über Stationen, Rangierstellen und Sackgassen von acht Eisenbahnlinien verstreut. Verfolgt man auf der Karte das Schicksal der Kornilowschen Staffeln, kann man den Eindruck gewinnen, die Verschwörer hätten auf dem Eisenbahnnetz Blindekuh gespielt.

„Fast überall“, schildert General Krassnow seine Beobachtungen aus der Nacht zum 30. August, „sahen wir das gleiche Bild. Bald auf den Geleisen, bald im Waggon, in den Sätteln, neben den mit den Köpfen zu ihnen geneigten schwarzen und dunkelbraunen Pferden saßen oder standen Dragoner und bei ihnen eine behende Persönlichkeit in Soldatenuniform.“ Der Name dieser „behenden Persönlichkeit“ wurde bald Legion. Aus der Richtung Petrograds trafen dauernd zahlreiche Regimentsdelegationen ein, die den Kornilow-Truppen entgegengesandt worden waren: alle wollten vor dem Treffen sich verständigen. Die revolutionären Truppen hegten die feste Zuversicht, daß es ohne Schlägerei ablaufen werde. Das bestätigte sich: die Kosaken kamen willig entgegen. Ein Kommando des Verbindungsdienstes des Korps ergriff Besitz von einer Lokomotive und schickte Delegierte aus über die ganze Linie. Jeder Staffel wurde die entstandene Lage erklärt. Es fanden ununterbrochen Meetings statt, in denen der Schrei wuchs: Wir sind betrogen worden!

„Nicht nur die Divisionschefs“, sagt derselbe Krassnow, „auch die Regimentskommandeure wußten nicht genau, wo ihre Schwadronen und Hundertschaften waren ... Das Fehlen von Lebensmitteln und Futter erboste die Leute natürlich noch mehr. Die Leute sahen diesen ganzen Wirrwarr, der sich ringsherum abspielte, und begannen, Offiziere und Vorgesetzte zu verhaften.“ Die Sowjetdelegation, die einen eigenen Stab gebildet hatte, meldete: „Die ganze Zeit finden Verbrüderungen statt. Wir sind völlig überzeugt, daß man den Konflikt als liquidiert betrachten kann. Von allen Seiten kommen Delegationen ...“ Die Verwaltung der Truppenteile übernahmen an Stelle der Vorgesetzten die Komitees. Sehr bald wurde ein Sowjet der Korpsdeputierten einberufen, aus seiner Mitte eine Delegation, etwa vierzig Mann, ausgesondert und zur Provisorischen Regierung entsandt. Die Kosaken begannen laut zu erklären, sie warteten nur auf den Befehl aus Petrograd, um Krymow und die übrigen Offiziere zu verhaften.

Stankewitsch schildert das Bild, das er unterwegs vorfand, als er am 30. zusammen mit Wojtinski in die Richtung nach Pskow reiste. In Petrograd hatte man geglaubt, Zarskoje sei von Kornilow-Truppen besetzt – niemand war dort. „In Gatschina – niemand ... Unterwegs bis Luga – niemand. In Luga – alles still und ruhig ... Wir erreichten das Dorf, wo sich der Stab des Korps befinden sollte. Leer ... Es stellte sich heraus, daß die Kosaken am frühen Morgen aufgebrochen und in die Petrograd entgegengesetzte Richtung abmarschiert waren.“ Der Aufstand rollte zurück, zersplitterte, versickerte in der Erde.

Aber im Winterpalais fürchtete man sich noch immer ein wenig vor dem Gegner. Kerenski machte den Versuch, mit dem Kommandobestand der Rebellen in Verhandlungen einzutreten: dieser Weg schien ihm zuverlässiger als die „anarchische“ Initiative der unteren Schichten. Er schickte zu Krymow Delegierte und ließ ihn „im Namen der Rettung Rußlands“ bitten, nach Petrograd zu kommen, wobei er ihm ehrenwörtlich die persönliche Sicherheit garantierte. Der von allen Seiten bedrängte General, der den Kopf völlig verloren hatte, nahm selbstverständlich die Einladung an. Krymows Spuren folgend, reiste nach Petrograd eine Deputation der Kosaken.

Die Fronten unterstützten das Hauptquartier nicht. Einen ernstlichen Versuch machte nur die Südwestfront. Denikins Stab hatte die Vorbereitungsmaßnahmen rechtzeitig getroffen. Die unzuverlässigen Wachen beim Stab waren durch Kosaken abgelöst worden. In der Nacht des 27. wurde die Druckerei besetzt. Der Stab versuchte die Rolle des selbstsicheren Herrn der Lage zu spielen und untersagte sogar dem Frontkomitee, den Telegraph zu benutzen. Doch die Illusion währte nicht einmal wenige Stunden. Delegierte verschiedener Truppenteile kamen zum Komitee und boten Hilfe an. Es tauchten Panzerautos, Maschinengewehre, Geschütze auf. Das Komitee unterstellte umgehend seiner Kontrolle die Tätigkeit des Stabes, dem die Initiative nur auf dem operativen Gebiet belassen wurde. Gegen 3 Uhr mittags des 28. war die Macht an der Südwestfront restlos in den Händen des Komitees konzentriert. „Noch niemals“, beklagte sich Denikin, „schien die Zukunft des Landes so finster, unsere Ohnmacht so beschämend und niederdrückend.“

An den anderen Fronten spielte sich die Sache noch undramatischer ab: Die Oberkommandierenden brauchten sich nur umzuschauen, um ein Anwachsen freundlicher Gefühle für die Kommissare der Provisorischen Regierung zu verspüren. Am Morgen des 29. lagen im Winterpalais bereits telegraphische Treuebekundungen General Schtscherbatschews von der rumänischen Front, Wakujews von der West- und Prschewalskis von der kaukasischen Front vor. Für die Nordfront, wo Oberkommandierender ein offener Kornilowianer, Klembowski, war, ernannte Stankewitsch zu seinem Vertreter einen gewissen Sawizki. „Der bis dahin nur wenigen bekannte, im Augenblick des Konfliktes telegraphisch ernannte Sawizki“, schreibt Stankewitsch, „hätte sich mit einem beliebigen Befehl, und sei es auch die Verhaftung des Oberkommandierenden, ruhig an eine beliebige Soldatengruppe – Infanterie, Kosaken, Ordonnanzen, sogar Junker –, wenden können, der Befehl wäre unbedenklich ausgeführt worden ...“ Ohne alle Schwierigkeiten wurde Klembowski durch General Bontsch-Brujewitsch ersetzt, der später durch Vermittlung seines Bruders, eines bekannten Bolschewiken, als einer der ersten in den Dienst der bolschewistischen Regierung trat.

Nicht viel besser standen die Dinge bei der südlichen Säule der Militärpartei, dem Ataman der Dontruppen, Kaledin. In Petrograd sprach man davon, Kaledin mobilisiere die Kosakentruppen, und von der Front seien Staffeln zu ihm nach dem Don unterwegs. Währenddessen „reiste der Ataman“, nach dem Bericht eines seiner Biographen, „weitab von der Eisenbahn aus einer Kosakensiedlung in die andere und unterhielt sich friedlich mit den Siedlungskosaken“. Kaledin operierte tatsächlich vorsichtiger, als man in den revolutionären Kreisen glaubte. Er wählte den Augenblick des offenen Aufstandes, dessen Stunde ihm vorher bekannt war, für eine „friedliche“ Rundreise durch die Siedlungen, um in den kritischen Tagen außerhalb telegraphischer und jeder anderen Kontrolle zu sein und gleichzeitig die Stimmung des Kosakentums zu sondieren. Am 27. telegraphierte er von unterwegs an seinen Vertreter Bogajewski: „Man muß Kornilow mit allen Mitteln und Kräften unterstützen.“ Aber gerade die Fühlungnahme mit den Siedlungskosaken hatte bewiesen, daß es eigentlich keine Mittel und Kräfte gab: die ackerbauenden Kosaken dachten nicht entfernt daran, sich zum Schutze Kornilows zu erheben. Als das Scheitern des Aufstandes immer offener zutage trat, beschloß die sogenannte „Heeresregierung“ des Don, sich „bis zur Aufklärung des realen Kräfteverhältnisses“ jeder Meinungsäußerung zu enthalten. Dank diesem Manöver gelang es den Spitzen des Doner Kosakentums, rechtzeitig beiseitezuspringen.

In Petrograd, Moskau, am Don, an der Front, auf dem Marschwege der Staffeln, überall hatte Kornilow Gesinnungsgenossen, Anhänger, Freunde. Ihre Zahl schien gewaltig, wollte man nach den Telegrammen, Begrüßungsadressen, Zeitungsartikeln urteilen. Doch seltsam: jetzt, wo für sie die Stunde gekommen war, sich zu zeigen, waren sie verschwunden. In vielen Fällen lag der Grund keinesfalls in persönlicher Feigheit. Unter den Kornilowschen Offizieren gab es nicht wenig mutige Menschen. Doch für ihren Mut fand sich kein Anwendungspunkt. In dem Moment, wo in die Bewegung die Massen eingriffen, gab es für den einzelnen keinen Zugang zu den Ereignissen. Nicht nur die schwerfälligen Industriellen, Bankiers, Professoren und Ingenieure, auch die Studenten und kampfbereiten Offiziere waren verdrängt, weggestoßen, zurückgeworfen. Sie betrachteten die sich vor ihnen entwickelnden Ereignisse wie von einem Balkon aus. Gemeinsam mit General Denikin blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihre beschämende und niederdrückende Ohnmacht zu verfluchen.

Am 30. August versandte das Exekutivkomitee an alle Sowjets die freudige Nachricht: „Unter den Truppen Kornilows herrscht völlige Zersetzung.“ Es wurde für eine Weile vergessen, daß Kornilow für sein Unternehmen die patriotischsten, kampffähigsten gegen den Einfluß der Bolschewiki geschütztesten Truppenteile ausgewählt hatte. Der Zersetzungsprozeß bestand darin, daß die Soldaten endgültig aufgehört hatten, den Offizieren zu vertrauen, und in ihnen den Feind erkannten. Der Kampf für die Revolution und gegen Kornilow bedeutete die Vertiefung der Zersetzung der Armee, also gerade das, was den Bolschewiki zur Last gelegt wurde.

Die Herren Generale erhielten endlich die Möglichkeit, die Widerstandskraft der Revolution nachzuprüfen, die ihnen so mürbe, hilflos, so zufällig als Siegerin über das alte Regime hervorgegangen zu sein schien. Seit den Februartagen war bei jeder Gelegenheit die Prahlerei der Soldateska laut geworden: Gebt mir einen festen Truppenteil, und ich will es ihnen zeigen. Aus den Erfahrungen General Chabalows und General Iwanows Ende Februar hatten die Heeresführer von jener Sorte, die nach der Schlägerei mit den Fäusten fuchtelt, nichts gelernt. Ihre Melodie sangen nicht selten auch Zivilstrategen. Der Oktobrist Schidlowski hatte versichert, wären im Februar in der Hauptstadt erschienen „nicht sonderlich große, aber durch Disziplin und militärischen Geist verschmolzene Truppenteile, die Februarrevolution wäre in wenigen Tagen unterdrückt worden“. Der weit bekannte Eisenbahnfachmann Bublikow schrieb: „Eine disziplinierte Division von der Front hätte genügt, um den Aufstand im Keime zu ersticken.“ Einige Offiziere, Teilnehmer der Ereignisse, erklärten Denikin, „ein festes Bataillon mit einem Vorgesetzten an der Spitze, der wußte, was er wollte, wäre imstande gewesen, die Lage von unten nach oben zu kehren“. Während Gutschkows Amtstätigkeit als Kriegsminister war von der Front General Krymow bei ihm eingetroffen und hatte sich erboten, „mit einer Division Petrograd zu säubern, – natürlich nicht ohne Blutvergießen“. Die Sache war nur nicht zustande gekommen, weil „Gutschkow nicht einwilligte“. Endlich hatte Sawinkow, als er für das künftige Direktorium dessen eigenen „27. August“ vorbereitete, versichert, zwei Regimenter würden vollständig genügen, um die Bolschewiki in Staub und Asche zu verwandeln. Nun lieferte das Schicksal all diesen Herren in der Person des „frohen, lebenslustigen“ Generals die absolute Möglichkeit, die Untrüglichkeit ihrer heroischen Berechnungen nachzuprüfen. Ohne einen Schlag geführt zu haben, reuigen Hauptes, entehrt und erniedrigt erschien Krymow im Winterpalais. Kerenski versäumte die Gelegenheit nicht, eine pathetische Szene mit ihm aufzuführen, deren billige Effekte im voraus gesichert waren. Vom Premier ins Kriegsministerium zurückgekehrt, erschoß sich Krymow mit einem Revolver. So hatte sich der Versuch, die Revolution „nicht ohne Blutvergießen“ zu zähmen, gewendet.

Im Winterplalais atmete man erleichtert auf, kam zu dem Schluß, die an Komplikationen so reiche Angelegenheit gehe ihrem glücklichen Ende entgegen, und beeilte sich, schnellstens zur Tagesordnung überzugehen, das heißt zur Fortsetzung des Unterbrochenen. Zum Höchstkommandierenden ernannte Kerenski sich selbst: zur Aufrechterhaltung des politischen Bündnisses mit der alten Generalität hätte er tatsächlich schwer eine geeignetere Figur finden können. Zum Generalstabschef des Hauptquartiers erwählte er Alexejew, der zwei Tage zuvor fast – fast Premier geworden war. Nach Schwankungen und Beratungen nahm der General nicht ohne verächtliche Grimasse die Ernennung an, um, wie er den Seinen erklärte, den Konflikt friedlich zu liquidieren. Der ehemalige Generalstabschef des Höchstkommandierenden Nikolai Romanow gelangte unter Kerenski auf den gleichen Posten. Es gab was zu staunen! „Nur Alexejew war imstande, dank seiner Nähe zum Hauptquartier und seinem gewaltigen Einfluß auf die höheren Militärkreise“, so versuchte später Kerenski diese ungeheuerliche Ernennung zu erklären, „die Aufgabe der schmerzlosen Übergabe des Kommandos aus Kornilows Hände in neue Hände erfolgreich durchzuführen“. Gerade umgekehrt! Die Ernennung Alexejews, das heißt eines Mannes aus ihren eigenen Kreisen, mußte die Verschwörer, blieb ihnen auch nur die geringste Möglichkeit, zu weiterem Widerstand ermutigen. In Wirklichkeit wurde Alexejew von Kerenski nach der Liquidierung des Aufstandes aus dem gleichen Grunde vorgeschoben, aus dem Sawinkow zu Beginn des Aufstandes hinzugezogen worden war: man mußte um jeden Preis die Brücken nach rechts beschützen. Die Wiederherstellung der Freundschaft mit den Generalen betrachtete der neue Höchstkommandierende jetzt als besonders unerläßlich: nach der Aufrüttelung wird man ja strenge Ordnung herbeiführen müssen und folglich eine doppelt feste Macht nötig haben.

Im Hauptquartier war nichts mehr von dem Optimismus geblieben, der noch zwei Tage zuvor dort geherrscht hatte. Die Verschwörer suchten Rückzugswege. Das an Kerenski gerichtete Telegramm lautete, Kornilow sei geneigt, „der strategischen Situation Rechnung tragend“ das Kommando friedlich niederzulegen, falls erklärt werden sollte, daß „eine starke Regierung geschaffen wird“. Diesem großen Ultimatum des Kapitulanten folgte ein kleines: Er, Kornilow, halte „Verhaftungen von Generalen und anderen, vor allem der Armee unentbehrlichen Personen überhaupt für unzulässig“. Der erfreute Kerenski kam dem Gegner sofort einen Schritt näher, indem er mittels Radio kundtat, daß die operativen Befehle General Kornilows für alle bindend seien. Kornilow selbst schrieb hierzu am gleichen Tage an Krymow: „Es entstand eine Episode – einzig in der Weltgeschichte: ein des Landes- und Hochverrats beschuldigter und strafrechtlich verfolgter Höchstkommandierender erhält den Befehl, das Armeekommando weiterzuführen ...“ Der neue Beweis der Waschlappigkeit Kerenskis ermutigte sofort die Verschwörer, die noch immer darauf bedacht waren, es nicht zu billig zu tun. Trotz dem vor wenigen Stunden abgesandten Telegramms über die Unzulässigkeit des inneren Kampfes „in diesem schrecklichen Augenblick“ schickte der halb und halb wieder in seine Rechte eingesetzte Kornilow zwei Mann zu Kaledin mit der Bitte um „Nachdruck“ und empfahl gleichzeitig Krymow: „Falls die Situation es erlaubt, handeln Sie selbständig im Geist der Ihnen von mir erteilten Instruktion.“ Der Geist der Instruktion war: Die Regierung stürzen und die Sowjetmitglieder aufhängen.

General Alexejew, der neue Generalstabschef, begab sich zur Einnahme des Hauptquartiers. Im Winterpalais nahm man diese Operation immer noch ernst. In Wirklichkeit standen Kornilow zu unmittelbarer Verfügung: ein Bataillon Georgsritter, das „Kornilowsche“ Infanterieregiment und das Tekiner Kavallerieregiment. Ein Bataillon der Georgier hatte sich von Anfang an auf die Seite der Regierung gestellt. Das Kornilowsche und das Tekiner Regiment galten als zuverlässig, aber auch von ihnen hatte sich ein Teil abgespalten. Über Artillerie verfügte das Hauptquartier überhaupt nicht. Unter diesen Umständen konnte von einem Widerstand nicht die Rede sein. Alexejew begann seine Mission mit der Abstattung zeremonieller Besuche bei Kornilow und Lukomski, wobei beide Parteien, wie anzunehmen ist, sich einmütig ihres Soldatenvokabulars an die Adresse Kerenskis, des neuen Höchstkommandierenden, bedienten. Für Kornilow wie auch für Alexejew war offenkundig, daß man die Rettung des Landes jedenfalls für einige Zeit vertagen müsse.

Aber während im Hauptquartier der Friede ohne Sieger und Besiegte so glücklich im Entstehen war, erhitzte sich in Petrograd die Atmosphäre außerordentlich, und im Winterpalais erwartete man ungeduldig beruhigende Nachrichten aus Mohilew, um sie dem Volke zu präsentieren. Alexejew wurde dauernd mit Anfragen geplagt. Oberst Baranowski, eine Vertrauensperson Kerenskis, beklagte sich über die direkte Leitung: „Die Sowjets lärmen, man kann die Atmosphäre nur dadurch entspannen, daß man Energie zeigt und Kornilow und andere verhaftet ...“ Das entsprach durchaus nicht den Absichten Alexejews. „Mit tiefem Bedauern ersehe ich“, erwidert der General, „daß meine Befürchtungen, wir seien zur Zeit restlos in die rauhen Tatzen des Sowjets geraten, unbestreitbare Tatsache geworden sind.“ Mit dem familiären Pronomen „wir“ ist Kerenskis Gruppe gemeint, der Alexejew sich, um den Stich zu mildern, bedingt anschließt. Oberst Baranowski antwortet ihm im gleichen Tone: „Mit Gottes Hilfe werden wir aus den rauhen Tatzen des Sowjets, in die wir geraten sind, herauskommen.“ Kaum haben die Massen Kerenski aus den Tatzen Kornilows gerettet, als der Führer der Demokratie eilt, mit Alexejew einen Pakt gegen die Massen zu schließen: „Wir werden aus den rauhen Tatzen des Sowjets herauskommen.“ Alexejew war dennoch gezwungen, sich der Notwendigkeit zu fügen und das Ritual der Verhaftung der Hauptverschwörer durchzuführen. Kornilow trat ohne Widerstand den Hausarrest an, vier Tage, nachdem er dem Volke erklärt hatte: „Ich ziehe den Tod meiner Enthebung vorn Posten des Höchstkommandierenden vor.“ Die in Mohilew eingetroffene Außerordentliche Untersuchungskommission verhaftete ihrerseits den Gehilfen des Eisenbahnministers, einige Generalstabsoffiziere, den nicht zur Vollendung gekommenen Diplomaten Aladjin wie auch die anwesenden Mitglieder des Hauptkomitees des Offiziersverbandes.

In den ersten Stunden nach dem Siege gestikulierten die Versöhnler heftig. Sogar Awksentjew sprühte Blitze. Drei Tage lang hatten die Meuterer die Front ohne jegliche Anweisung gelassen! „Tod den Verrätern!“ schrien die Mitglieder der Exekutive. Awksentjew kam diesen Stimmen entgegen: jawohl, die Todesstrafe ist auf Verlangen Kornilows und der Seinen eingeführt worden, „um so entschiedener wird sie gegen sie selbst angewandt werden“. Stürmischer und anhaltender Beifall.

Die Moskauer Kirchenversammlung, die zwei Wochen zuvor sich vor Kornilow als dem Wiederhersteller der Todesstrafe verbeugt hatte, flehte jetzt telegraphisch die Regierung an, „im Namen Gottes und der christlichen Nächstenliebe“ das Leben des Generals, der sich verrechnet hatte, zu schonen. Es wurden auch andere Hebel in Bewegung gesetzt. Jedoch die Regierung dachte gar nicht an ein blutiges Strafgericht. Als eine Delegation der „wilden“ Division sich im Winterpalais Kerenski vorstellte und einer der Soldaten auf die allgemeinen Phrasen des neuen Höchstkommandierenden antwortete, daß „die verräterischen Kommandeure erbarmungslose Strafe treffen muß“, unterbrach ihn Kerenski mit den Worten: „Eure Sache ist es jetzt, euren Vorgesetzten zu gehorchen, alles, was nötig ist, werden wir selbst tun.“ Wahrhaftig, dieser Mann glaubte, die Massen haben auf der Bühne zu erscheinen, wenn er mit dem linken Fuß stampft, und zu verschwinden, wenn er mit dem rechten stampft!

„Alles, was nötig ist, werden wir selbst tun.“ Aber alles, was sie taten, schien den Massen unnötig, wenn schon nicht verdächtig und verderbnisbringend. Die Massen irrten sich nicht: oben war man am meisten mit der Wiederherstellung jener Lage beschäftigt, aus der der Kornilowsche Feldzug erwachsen war. „Nach den ersten von den Mitgliedern der Untersuchungskommission angestellten Vernehmungen zeigte sich“, erzählt Lukomski, „daß sie alle sich höchst wohlwollend gegen uns verhielten.“ Es waren im wesentlichen alles Mitverschworene und Hehler. Der Staatsanwalt des Kriegsgerichts, Schablowski, gab den Angeklagten Unterweisungen in Täuschung der Justiz. Die Frontorganisationen schickten Proteste. „Die Generale und deren Mitschuldige werden nicht als Verbrecher am Staate und am Volke behandelt ... Die Rebellen besitzen volle Freiheit im Verkehr mit der Außenwelt.“ Lukomski bestätigt: „Der Stab des Höchstkommandierenden informierte uns über alle uns interessierenden Fragen.“ Die empörten Soldaten versuchten mehr als einmal, selbst Gericht zu halten über die Generale, und vor diesem Strafgericht rettete die Verhafteten nur die in Bychow, dein Orte ihrer Inhaftierung, stationierte konterrevolutionäre polnische Division.

Am 12. September schrieb General Alexejew aus dem Hauptquartier an Miljukow einen Brief, der die gerechte Empörung der Verschwörer über das Verhalten der Großbourgeoisie ausdrückte, die sie zuerst aufgestachelt und nach der Niederlage ihrem Schicksal überlassen hätte. „Es dürfte Ihnen bis zu einem gewissen Grade bekannt sein“, schrieb nicht ohne Gift der General, „daß bestimmte Kreise unserer Gesellschaft nicht nur alles gewußt, nicht nur mit altem geistig sympathisiert, sondern auch Kornilow nach Kräften geholfen haben ...“ Im Namen des Verbandes der Offiziere verlangte Alexejew von Wyschnegradski, Putilow und anderen Großkapitalisten, die den Besiegten den Rücken gekehrt hatten, unverzüglich dreihunderttausend Rubel zu sammeln für die „hungernden Familien jener, mit denen sie durch Gemeinsamkeit der Idee und der Vorbereitung verbunden waren ...“ Der Brief schloß mit einer direkten Drohung: „wenn die ehrliche Presse nicht sofort an eine energische Aufklärung der Sache gehen sollte ..., würde General Kornilow gezwungen sein, vor Gericht die ganze Vorbereitung, alle Verhandlungen mit den Personen und Gesellschaftskreisen und deren Teilnahme weitgehend zu entwickeln“, und so weiter. Über die praktischen Resultate dieses traurigen Ultimatums erzählt Denikin: „Erst Ende Oktober brachte man Kornilow aus Moskau etwa vierzigtausend Rubel.“ Miljukow war zu dieser Zeit von der politischen Arena überhaupt abwesend: nach der offiziellen Version der Kadetten war er „zur Erholung in die Krim“ abgereist. Nach allen Aufregungen hatte der liberale Führer tatsächlich Erholung nötig.

Die Untersuchungskomödie dauerte bis zur bolschewistischen Umwälzung, wonach Kornilow und seine Mitverschworenen nicht nur in Freiheit gesetzt, sondern von Kerenskis Hauptquartier mit allen notwendigen Dokumenten versehen wurden. Diese flüchtigen Generale haben später den Bürgerkrieg begonnen. Im Namen der heiligen Ziele, die Kornilow mit dem Liberalen Miljukow und dem Schwarzhundert Rimskij-Korssakow verbanden, wurden Hunderttausende ermordet, der Süden und der Osten Rußlands ausgeplündert und verwüstet, die Wirtschaft des Landes endgültig erschüttert, der Revolution der rote Terror aufgezwungen. Der Kerenskis Justiz glücklich entronnene Kornilow fiel bald an der Bürgerkriegsfront von einem bolschewistischen Geschoß. Kaledins Schicksal gestaltete sich nicht viel anders. Die Doner „Heeresregierung“ verlangte nicht nur die Aufhebung des Befehls zur Verhaftung Kaledins, sondern auch dessen Wiedereinsetzung in das Amt des Atamans. Kerenski versäumte auch hier nicht, einen Rückzug anzutreten. Skobeljew reiste nach Nowotscherkassk, um sich bei den Kosakentruppen zu entschuldigen. Der demokratische Minister mußte die ausgesuchtesten Verhöhnungen, die von Kaledin selbst geleitet wurden, über sich ergehen lassen. Der Triumph des Kosakengenerals war allerdings nicht von langer Dauer. Durch die bolschewistische Revolution am eigenen Don von allen Seiten bedrängt, beging Kaledin wenige Monate später Selbstmord. Kornilows Banner ging danach in die Hände des Generals Denikin und des Admirals Koltschak über, mit deren Namen die Hauptperiode des Bürgerkriegs verbunden ist. Doch gehört das alles bereits in das Jahr 1918 und die folgenden Jahre.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003