Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Kapitel 17:
Austritt aus dem Vorparlament und Kampf um den Sowjetkongreß

Jeder Tag des Krieges erschütterte die Front, schwächte die Regierung, verschlechterte die internationale Lage des Landes. Anfang Oktober entfaltete die deutsche See- und Luftflotte aktive Operationen im Finnischen Meerbusen. Die baltischen Matrosen schlugen sich tapfer, bemüht, den Weg nach Petrograd zu versperren. Doch begriffen sie schärfer und klarer als andere Truppenteile der Front den tiefen Widerspruch ihrer Lage als Avantgarde der Revolution und als unfreiwillige Teilnehmer des imperialistischen Krieges, und sie schleuderten durch die Radiostationen ihrer Schiffe einen Ruf um internationale revolutionäre Hilfe in alle vier Windrichtungen. „Attackiert von überlegenen deutschen Kräften, geht unsere Flotte im ungleichen Kampfe zugrunde. Keines unserer Schiffe wird dem Kampf ausweichen. Die verleumdete, gebrandmarkte Flotte wird ihre Pflicht erfüllen nicht auf Befehl irgendeines traurigen, durch die Langmut der Revolution herrschenden russischen Bonaparte ... nicht im Namen der Verträge unserer Regierer mit den Alliierten, die die Hände der russischen Freiheit mit Ketten fesseln. Nein, aber im Namen der Wacht über die Zugänge zum Revolutionsherd Petrograd. In der Stunde, wo die Wellen des Baltischen Meeres mit dem Blute unserer Brüder sich verfärben, wo das Wasser über ihren Leichen sich schließt, erheben wir unsere Stimme: ... Unterdrückte in aller Welt! Entfaltet das Banner des Aufstandes!“

Die Worte von Kämpfen und Opfern waren keine Phrase. Das Geschwader verlor das Schiff Slawa und zog sich nach Kampf zurück. Die Deutschen eroberten die Monsundinseln. Es wandte sich noch ein schwarzes Blatt um im Buche des Krieges. Die Regierung beschloß, den neuen militärischen Schlag auszunutzen zur Verlegung der Residenz: dieser alte Plan tauchte bei jedem geeigneten Anlasse wieder auf. Nicht Sympathien für Moskau beherrschten die regierenden Kreise, sondern Haß gegen Petrograd. Monarchistische Reaktion, Liberalismus, Demokratie waren nacheinander bestrebt, die Hauptstadt zu degradieren, sie in die Knie zu zwingen, zu zermalmen. Die heftigsten Patrioten haßten jetzt Petrograd mit einem viel glühenderen Haß als Berlin.

Die Evakuationsfrage nimmt den Weg äußerster Dringlichkeit. Für die Übersiedlung der Regierung zusammen mit dem Vorparlament werden zwei Wochen angesetzt. Es wird beschlossen, die für die Landesverteidigung arbeitenden Betriebe ebenfalls in kürzester Frist zu evakuieren. Das Zentral-Exekutivkomitee, als eine „Privatinstitution“, müsse um sein Schicksal selbst Sorge tragen.

Die kadettischen Inspiratoren der Evakuierung wußten, daß eine einfache Übersiedlung der Regierung die Frage nicht löst. Aber sie spekulierten darauf dem Herd der revolutionären Seuche durch Hunger, Entbehrungen und Erschöpfung beizukommen. Die innere Blockade Petrograds war bereits in vollem Gange. Den Fabriken wurden die Bestellungen entzogen, die Belieferung mit Heizstoff um das Vierfache eingeschränkt, das Ernährungsministerium hielt das in die Hauptstadt gehende Vieh zurück, im Mariinski-Kanalnetz wurden die Ausladungen eingestellt.

Der kriegerische Rodsjanko, Vorsitzender der Reichsduma, die aufzulösen die Regierung sich Anfang Oktober endlich entschlossen hatte, sprach sich mit voller Offenheit in der liberalen Moskauer Zeitung Utro Rossji über die Kriegsgefahr aus, die der Hauptstadt drohte. „Petrograd? ich meine, Gott mit ihm ... Man befürchtet, es könnten dort Zentralinstitutionen [das heißt Sowjets und so weiter] zugrunde gehen. Darauf erwidere ich nur, daß ich sehr froh wäre, wenn all diese Institutionen zugrunde gingen, weil sie Rußland nichts als Böses gebracht haben.“ Zwar muß mit Einnahme Petrograds die Baltische Flotte zugrunde gehen. Aber auch darüber braucht man nicht zu trauern: „dort gibt es völlig demoralisierte Schiffe“. Dank dem Umstande, daß es des Kammerherrn Sitte nicht war, den Mund zu halten, erfuhr das Volk die geheimsten Gedanken des adeligen und bürgerlichen Rußland.

Der russische Geschäftsträger in London meldete, der britische Marinestab halte es trotz allem Drängen nicht für möglich, die Lage seines Verbündeten in der Ostsee zu erleichtern. Nicht bloß die Bolschewiki deuteten diese Antwort dahingehend, daß die Alliierten gemeinsam mit den patriotischen Spitzen Rußlands vom deutschen Schwertstreich gegen Petrograd für die gemeinsame Sache nur Nutzen erwarteten. Die Arbeiter und Soldaten zweifelten nicht daran, besonders nach Rodsjankos Geständnissen, daß die Regierung sich bewußt darauf vorbereitete, sie in die Abrichtung Ludendorffs und Hoffmanns zu geben.

Am 6. Oktober nahm die Soldatensektion mit einer bis dahin nie gewesenen Einmütigkeit eine Resolution Trotzkis an: „Falls die Provisorische Regierung nicht fähig ist, Petrograd zu verteidigen, so ist sie verpflichtet, Frieden zu schließen oder aber ihren Platz einer anderen Regierung zu räumen.“ Die Arbeiter traten nicht weniger unversöhnlich auf. Sie betrachteten Petrograd als ihre Festung, verknüpften mit ihm ihre revolutionären Hoffnungen, Petrograd preisgeben wollten sie nicht. Erschrocken über Kriegsgefahr, Evakuation, Empörung der Soldaten und Arbeiter, Erregung der gesamten Bevölkerung schlugen die Versöhnler ihrerseits Alarm: man darf Petrograd nicht der Willkür des Schicksals überlassen. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß der Evakuierungsversuch auf allseitigen Widerstand stieß, trat die Regierung den Rückzug an: sie sei weniger um die eigene Sicherheit besorgt als um die Frage des Sitzes der zukünftigen Konstituierenden Versammlung. Doch auch diese Position war unhaltbar. Kaum eine Woche später war die Regierung zu der Erklärung gezwungen, sie gedenke nicht nur selbst im Winterpalais zu verbleiben, sondern plane in alter Weise die Konstituierende Versammlung ins Taurische Palais einzuberufen. An der militärischen und politischen Situation änderte diese Erklärung nichts. Aber sie enthüllte wieder die politische Macht Petrograds, das als seine Mission betrachtete, mit der Kerenski-Regierung Schluß zu machen, und deshalb diese mehr aus seinen Mauern hinausließ. Die Residenz nach Moskau zu verlegen, haben später nur die Bolschewiki gewagt. Sie konnten diese Aufgabe ohne alle Schwierigkeiten durchführen, weil für sie dies tatsächlich eine strategische Aufgabe war: politische Gründe, aus Petrograd zu fliehen, hatten sie nicht.

Die reumütige Erklärung betreffs Verteidigung der Hauptstadt gab die Regierung auf Verlangen der Versöhnlermehrheit vor einer Kommission des Rates der russischen Republik, des Vorparlaments, ab. Diese wunderliche Institution war inzwischen endlich zur Welt gekommen. Plechanow, der zu scherzen liebte und auch zu scherzen verstand, nannte den ohnmächtigen und kurzlebigen Rat der Republik unhöflich „ein Häuschen auf Hühnerfüßchen“. Politisch ist diese Bezeichnung nicht ohne treffende Schärfe. Man muß nur hinzufügen, daß in der Eigenschaft eines Häuschens das Vorparlament nicht übel aussah: es war ihm das prächtige Mariinski-Palais zugewiesen, das früher den Staatsrat beherbergt hatte. Der Kontrast zwischen dem schmucken Palais und dem vernachlässigten, von Soldatengerüchen erfüllten Smolny verblüffte Suchanow: „Inmitten all dieser Pracht“, gesteht er, „überkam einen die Lust, auszuruhen, Mühen und Kampf Hunger und Krieg, Zerfall und Anarchie, das Land wie die Revolution zu vergessen.“ Doch zum Ausruhen und Vergessen war die Zeit zu knapp bemessen:

Die sogenannte „demokratische“ Mehrheit des Vorparlaments bestand aus 308 Menschen: einhundertundzwanzig Sozialrevolutionären, darunter etwa zwanzig linken; sechzig Menschewiki verschiedener Schattierungen; sechsundsechzig Bolschewiki; ferner Genossenschaftlern, Delegierten des Bauern-Exekutivkomitees, und so weiter. Die besitzenden Klassen hatten 156 Plätze inne, von denen fast die Hälfte den Kadetten gehörte. Zusammen mit den Genossenschaftlern, Kosaken und den reichlich konservativen Mitgliedern des Bauern-Exekutivkomitees bildete der rechte Flügel in einer Reihe von Fragen nahezu die Mehrheit. Die Verteilung der Plätze im komfortablen Häuschen auf Hühnerfüßchen stand somit in schreiendem Widerspruch zu allen Willensäußerungen von Stadt und Land. Dafür beherbergte das Mariinski-Palais im Gegensatz zu den grauen Sowjets und ähnlichen Vertretungen in seinen Mauern die „Blüte der Nation“. Da die Mitglieder des Vorparlaments von Zufälligkeiten der Wahlkonkurrenz, lokalen Einflüssen, provinziellen Bevorzugungen unabhängig waren, entsandte jede soziale Gruppe und jede Partei dorthin ihre angesehensten Führer. Die personelle Zusammensetzung war nach Suchanows Zeugnis „exklusiv glänzend“. Als das Vorparlament sich zu seiner ersten Sitzung versammelte, fiel, nach Miljukows Worten, vielen Skeptikern ein Stein vom Herzen: „Gut, wenn die Konstituierende Versammlung nicht schlimmer sein wird als diese.“ Die „Blüte der Nation“ betrachtete sich mit Genugtuung in den Spiegeln des Schlosses, ohne gewahr zu werden, daß sie eine taube Blüte war.

Bei Eröffnung des Rats der Republik am 7. Oktober versäumte Kerenski nicht, daran zu erinnern, daß die Regierung zwar über die „ganze Fülle der Macht“ verfüge, aber nichtsdestoweniger bereit sei, „alle wahrhaft wertvollen Hinweise“ anzuhören: wenn auch eine absolute, blieb es doch eine aufgeklärte Regierung. In dem fünfgliedrigen Präsidium, unter Awksentjews Vorsitz, ist ein Platz den Bolschewiki zugedacht: er bleibt unbesetzt. Den Regisseuren der kläglichen und unheiteren Komödie war übel zumute. Das ganze Interesse der trübseligen Eröffnung an dem trübseligen regnerischen Tage war von vornherein auf das bevorstehende Auftreten der Bolschewiki konzentriert. In den Couloirs des Mariinski-Palais verbreitete sich, nach Suchanows Worten, das „sensationelle Gerücht: Trotzki hätte mit einer Mehrheit von zwei bis drei Stimmen gesiegt ... und die Bolschewiki würden bald das Vorparlament verlassen“. In Wirklichkeit war der Entschluß, demonstrativ das Mariinski-Palais zu verlassen, am 5. in der Sitzung der bolschewistischen Fraktion mit allen Stimmen gegen eine gefaßt worden: so stark war die Verschiebung nach links seit den letzten zwei Wochen! Nur Kamenjew bewahrte Treue der ursprünglichen Position, oder richtiger, nur er allein wagte sie zu verteidigen. In einer besonderen, an das Zentralkomitee der Partei adressierten Erklärung bezeichnete Kamenjew ohne Umschweife den eingeschlagenen Kurs als „ganz gefährlich für die Partei“. Die undurchsichtigen Pläne der Bolschewiki riefen eine gewisse Unruhe beim Vorparlament hervor: man befürchtete eigentlich nicht eine Erschütterung des Regimes, sondern einen „Skandal“ vor dem Antlitz der alliierten Diplomaten, die von der Mehrheit soeben mit der gebührenden Salve patriotischen Beifalls begrüßt worden waren. Suchanow erzählt, wie eine offizielle Persönlichkeit zu den Bolschewiki abgeordnet wurde – Awksentjew selbst – zum Zwecke einer sondierenden Anfrage: Was wird geschehen? „Lappalien“, antwortete Trotzki, „Lappalien, nur ein kleiner Pistolenschuß.“

Nach Eröffnung der Sitzung erhielt Trotzki gemäß dem von der Reichsduma erblich übernommenen Reglement zehn Minuten zu einer außerhalb der Tagesordnung stehenden Erklärung namens der bolschewistischen Fraktion. Im Saale verbreitet sich gespanntes Schweigen. Die Deklaration beginnt mit der Feststellung, die Regierung sei jetzt ebenso unverantwortlich wie vor der Demokratischen Beratung, die angeblich einberufen worden war zur Zähmung Kerenskis, und die Vertreter der besitzenden Klassen seien in einer Anzahl in den Provisorischen Rat hineingegangen, auf die sie nicht das geringste Anrecht hätten. Wäre die Bourgeoisie tatsächlich auf die Konstituierende Versammlung in anderthalb Monaten eingestellt, ihre Führer hätten keine Ursache, jetzt mit solcher Erbitterung die Unabhängigkeit der Macht selbst vor einer untergeschobenen Vertretung zu verteidigen. „Die ganze Weisheit liegt darin, daß die bürgerlichen Klassen sich zur Aufgabe gestellt haben, die Konstituierende Versammlung zu sprengen.“ Der Hieb sitzt. Um so stürmischer protestiert der rechte Flügel. Ohne vom Text der Deklaration abzuweichen, geißelt der Redner die Industrie- Agrar- und Ernährungspolitik der Regierung: man könnte auch dann keinen anderen Kurs treiben, wenn man sich bewußt das Ziel gestellt hätte, die Massen auf den Weg des Aufstandes zu stoßen. „Der Gedanke, die revolutionäre Hauptstadt den deutschen Truppen preiszugeben ... wird geduldet als natürliches Glied der Gesamtpolitik, die die konterrevolutionäre Verschwörung ... erleichtern soll.“ Proteste gehen in Sturm über. Schreie: Berlin! Deutsches Gold! Plombierter Wagen! und auf diesem Hintergrunde, wie Flaschensplitter im Schmutz – Gossenflüche. So etwas hatte sich noch nie, auch nicht während der heißesten Kämpfe im schmutzigen, verwahrlosten, von Soldaten bespuckten Smolny, abgespielt. „Wir brauchten nur in die gute Gesellschaft des Mariinski-Palais zu geraten ...“ schreibt Suchanow, „damit sich sogleich jene Budikenatmosphäre einstellte, die in der konzessionierten Reichsduma geherrscht hatte.“

Sich den Weg bahnend durch Haßausbrüche, die mit Momenten der Beruhigung abwechseln, schließt der Redner: „Wir, die Fraktion der Bolschewiki, erklären: mit dieser Regierung des Volksbetrugs und mit diesem Rat des konterrevolutionären Gewährenlassens haben wir nichts gemein ... Indem wir den Provisorischen Rat verlassen, appellieren wir an die Wachsamkeit und den Mut der Arbeiter, Soldaten und Bauern ganz Rußlands. Petrograd ist in Gefahr! Die Revolution ist in Gefahr! Das Volk ist in Gefahr! ... Wir wenden uns an das Volk. Alle Macht den Sowjets!“

Der Redner tritt von der Tribüne ab. Einige Dutzend Bolschewiki verlassen den Saal, begleitet von Flüchen. Nach sorgenvollen Minuten ist die Mehrheit geneigt, erleichtert aufzuatmen. Entfernt haben sich lediglich die Bolschewiki – die Blüte der Nation bleibt auf dem Posten. Nur der linke Flügel der Versöhnler duckte sich unter dem Hieb, der scheinbar nicht gegen sie geführt war. „Wir, die nächsten Nachbarn der Bolschewiki“, gesteht Suchanow, „saßen da völlig niedergeschmettert durch all das Vorgefallene.“ Die reinen Ritter des Wortes verspürten, daß die Zeit der Worte vorbei war.

Außenminister Tereschtschenko informierte in einem Geheimtelegramm die russischen Gesandten über die Eröffnung des Vorparlaments: „Die erste Sitzung ist ganz farblos verlaufen mit Ausnahme eines von den Bolschewiki veranstalteten Skandals.“ Der historische Bruch des Proletariats mit der Staatsmechanik der Bourgeoisie wurde von diesen Menschen als einfacher „Skandal“ aufgefaßt. Die bürgerliche Presse versäumte die Gelegenheit nicht, die Regierung mit Berufung auf die Entschlossenheit der Bolschewiki anzupeitschen: die Herren Minister würden das Land aus der Anarchie nur dann hinausführen können, „wenn sie ebensoviel Entschlossenheit und Tatwillen besitzen werden, wie der Genosse Trotzki“. Als hätte es sich um die Entschlossenheit und den Willen einzelner gehandelt und nicht um das historische Schicksal von Klassen. Und als hätte sich die Auslese der Menschen und Charaktere unabhängig von den historischen Aufgaben vollzogen. „Sie redeten und handelten“, schrieb Miljukow anläßlich des Auszuges der Bolschewiki aus dem Vorparlament, „wie Menschen, die hinter sich eine Macht fühlen, die wissen, daß der morgige Tag ihnen hört.“

Der Verlust der Monsundinseln, die wachsende Bedrohung Petrograds, der Auszug der Bolschewiki aus dem Vorparlament auf die Straße zwangen die Versöhnler darüber nachzudenken, was weiter mit dem Krieg werden solle. Nach dreitägiger Überlegung, gemeinsam mit dem Kriegs- und dem Marineminister, mit Kommissaren und Delegierten von Armeeorganisationen, fand endlich das Zentral-Exekutivkomitee einen rettenden Entschluß: „Auf der Teilnahme von Vertretern der russischen Demokratie an der Pariser Alliiertenkonferenz bestehen.“ Nach neuen Mühen ernannte man zum Vertreter Skobeljew. Es wurde eine detaillierte Instruktion ausgearbeitet: Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, Neutralisierung der Meerengen, auch des Suez- und des Panamakanals – der geographische Horizont der Versöhnler war weiter als der politische –, Abschaffung der Geheimdiplomatie, allmähliche Abrüstung. Das Zentral-Exekutivkomitee setzte auseinander, daß die Teilnahme seines Delegierten an den Pariser Beratungen „den Zweck verfolgt, einen Druck auf die Alliierten auszuüben“. Ein Druck Skobeljews auf Frankreich, England und die Vereinigten Staaten! Die Kadettenzeitung stellte die giftige Frage: Was wird Skobeljew tun, wenn die Alliierten seine Bedingungen ungeniert ablehnen? „Wird er mit einem neuen Aufruf an die Völker der Erde drohen?“ Ach, die Versöhnler schämten sich schon längst ihres eigenen alten Aufrufs.

Während es plante, den Vereinigten Staaten die Neutralisierung des Panamakanals aufzuzwingen, erwies sich das Zentral-Exekutivkomitee in Wirklichkeit unfähig, einen Druck auch nur auf das Winterpalais auszuüben. Am 12. schickte Kerenski einen umfangreichen Brief an Lloyd George voll zärtlicher Vorwürfe, bitterer Klagen und heißer Versprechungen. Die Front befände sich „in besserem Zustande als im vorigen Frühling“. Gewiß, die defätistische Propaganda – der russische Premier beklagt sich bei dem britischen über die russischen Bolschewiki – habe gehindert, alle gestellten Ziele durchzusetzen. Von Frieden jedoch könne nicht die Rede sein. Die Regierung kenne nur die eine Frage: „Wie den Krieg fortsetzen?“ Begreiflicherweise bat Kerenski unter Verpfändung seines Patriotismus um Kredite.

Das von Bolschewiki befreite Vorparlament war ebenfalls nicht müßig: am 10. begannen die Debatten über Hebung der Kampffähigkeit der Armee. Der Dialog, der drei qualvolle Sitzungen beanspruchte, entwickelte sich nach dem unabänderlichen Schema: „man muß die Armee überzeugen, daß sie für Frieden und Demokratie kämpft“, sagte man links. Überzeugen ist unmöglich, man muß sie zwingen, erwiderte man rechts. Zwangsmittel sind nicht vorhanden: um zwingen zu können, muß man anfangs, wenn auch nur teilweise, überzeugen, antworteten die Versöhnler. Im Überzeugen sind die Bolschewiken euch überlegen, erwiderten die Kadetten. Beide Seiten hatten recht. Aber auch der Ertrinkende hat recht, wenn er vor dem Versinken schreit.

Am 18. kam die Entscheidungsstunde, die an der Natur der Dinge nichts ändern konnte. Die Formel der Sozialrevolutionäre erhielt 95 gegen 127 Stimmen bei 50 Stimmenthaltungen. Die Formel der Rechten – 135 gegen 139Stimmen. Erstaunlich, es gibt keine Mehrheit! Im Saal herrscht, nach den Zeitungsberichten, „allgemeine Bewegung und Verlegenheit“. Trotz der Einheitlichkeit des Zieles war die Blüte der Nation nicht fähig, auch nur einen platonischen Beschluß zu fassen über die akuteste Frage des nationalen Lebens. Das war kein Zufall: dasselbe wiederholte sich tagein, tagaus bei allen übrigen Fragen in Kommissionen wie im Plenum. Die Meinungssplitter ließen sich nicht summieren. Sämtliche Gruppen lebten von ungreifbaren Schattierungen eines politischen Gedankens: der Gedanke selbst fehlte. Vielleicht war er mit den Bolschewiki auf die Straße gegangen ... ? Die Sackgasse des Vorparlaments war die Sackgasse des Regimes.

Die Armee umzustimmen war schwer, sie zu zwingen unmöglich. Auf die neue Zurechtweisung Kerenskis an die Adresse der Baltischen Flotte, die den Kämpfen standhielt und Opfer trug, wandte sich der Kongreß der Seeleute an das Zentral-Exekutivkomitee mit der Forderung, aus den Reihen der Provisorischen Regierung eine Person zu entfernen, „die durch ihre schamlosen politischen Erpressungen die Große Revolution schändet und zugrunde richtet“. Eine solche Sprache hatte Kerenski früher auch von den Matrosen nicht vernommen. Das Distriktkomitee der Armee, der Flotte und der russischen Arbeiter in Finnland, das als Macht auftrat, hielt Regierungsfrachten zurück. Kerenski drohte Verhaftung der Sowjetkommissare an. Die Antwort lautete: „Das Distriktkomitee nimmt die Herausforderung der Provisorischen Regierung mit Ruhe entgegen.“ Kerenski schwieg. Die Baltische Flotte befand sich eigentlich bereits mitten im Aufstande.

An der Front der Landtruppen war die Sache noch nicht so weit gediehen, entwickelte sich aber in gleicher Richtung. Die Ernährungslage verschlechterte sich während des Oktober rapid. Der Höchstkommandierende der Nordfront berichtete, der Hunger sei „Hauptursache der moralischen Zersetzung der Armee“. Während die Versöhnlerspitzen an der Front fortfuhren, allerdings nunmehr bloß hinter dem Rücken der Soldaten, von Hebung der Kampffähigkeit der Armee zu reden, erhob unten ein Regiment nach dem anderen die Forderung nach Veröffentlichung der Geheimdokumente und sofortigem Friedensangebot. Schdanow, Kommissar der Westfront, meldete in den ersten Oktobertagen: „Die Stimmung ist äußerst unruhig in Verbindung mit den nahenden Frösten und der Ernährungsverschlechterung ... Ausgesprochenen Erfolg haben die Bolschewiki.“

Die Regierungsinstitutionen an der Front schwebten in der Luft. Der Kommissar der 2. Armee meldet, daß die Kriegsgerichte nicht tagen könnten, da die Soldaten sich weigern, als Zeugen zu erscheinen. Das gegenseitige Verhältnis zwischen Kommandobestand und Soldaten hat sich zugespitzt. Man hält die Offiziere für die Schuldigen an der Kriegsverlängerung. Die Feindschaft der Soldaten gegen Regierung und Kommandobestand hatte sich bereits längst auf die seit Revolutionsbeginn nicht erneuerten Armeekomitees übertragen. Über deren Köpfe hinweg schicken die Regimenter Delegierte nach Petrograd, zum Sowjet, mit Beschwerden über die unerträgliche Lage im Schützengraben, ohne Brot, ohne Ausrüstung, ohne Zuversicht zum Krieg. An der rumänischen Front, wo die Bolschewiki sehr schwach sind, weigern sich ganze Regimenter, zu schießen. „In zwei bis drei Wochen werden die Soldaten selbst Waffenstillstand erklären und die Waffen niederlegen.“ Delegierte einer der Divisionen berichten: „Die Soldaten haben beschlossen, beim ersten Schneefall heimzukehren.“ Eine Delegation des 33. Korps drohte im Plenum des Petrograder Sowjets: wenn es keinen wirklichen Kampf um Frieden geben sollte, „werden die Soldaten selbst die Macht in ihre Hände nehmen und Waffenstillstand schließen“. Ein Kommissar der 2. Armee meldet dem Kriegsminister: „Es wird nicht selten davon gesprochen, daß man mit Eintreten der Kälte die Positionen verlassen wird.“

Die nach den Julitagen fast abgebrochene Verbrüderung lebte wieder auf und wuchs schnell an. Wieder häuften sich nach einer Pause die Fälle, wo Soldaten Offiziere nicht nur verhafteten, sondern die verhaßtesten niedermachten. Das Strafgericht vollzog sich fast offen vor den Augen der Soldaten. Niemand trat dazwischen, die Mehrheit wollte nicht, eine kleine Minderheit wagte nicht. Dem Täter gelang es stets zu entkommen, als wäre er spurlos in der Soldatenmasse untergetaucht. Ein General schrieb: „Krampfhaft klammem wir uns an etwas, flehen um irgendein Wunder, aber die Mehrheit begreift, daß es keine Rettung mehr gibt.“

Heimtücke mit Stumpfsinn verbindend, hörten die patriotischen Zeitungen nicht auf, von Fortsetzung des Krieges, Offensive und Sieg zu schreiben. Die Generale schüttelten die Köpfe, einige stimmten zweideutig ein. „Jetzt von einer Offensive zu träumen“, schrieb am 7. Baron Budberg, Kommandeur eines bei Dwinsk stehenden Korps, „können nur völlig wahnsinnige Menschen.“ Schon einen Tag später ist er gezwungen, in das gleiche Tagebuch einzutragen: „Bin betäubt und außer mir über erhaltene Direktiven für eine nicht später als am 20. Oktober bevorstehende Offensive.“ Die Stäbe, die an nichts mehr glaubten und alles aufgegeben hatten, entwarfen Pläne neuer Operationen. Es gab nicht wenig Generale, die die letzte Rettung erblickten in einer Wiederholung des Kornilowschen Experiments mit Riga in grandiosem Maßstabe: die Armee in einen Kampf verwickeln und versuchen, die Niederlage auf das Haupt der Revolution zu wenden.

Auf Initiative des Kriegsministers Werchowski wurde beschlossen, die älteren Jahrgänge zu beurlauben. Die Eisenbahnen krachten unter dem Andrang heimkehrender Soldaten. An den überlasteten Waggons brachen die Federn und wurden die Fußböden eingedrückt. Die Stimmung der Zurückbleibenden wird durch all das nicht besser. „Die Schützengräben verfallen“, schreibt Budberg. „Die Verbindungsgänge sind überschwemmt; überall Abfall und Exkremente ... Die Soldaten weigern sich entschieden, Aufräumungsarbeiten in den Schützengräben zu verrichten ... Es ist schrecklich, darüber nachzudenken, wohin das führen wird, wenn der Frühling kommt und alles zu faulen und zu verwesen beginnt.“ Im Zustande erbitterter Passivität sträubten sich die Soldaten durchwegs sogar gegen Schutzimpfungen: das wurde ebenfalls zu einer Form des Kampfes gegen den Krieg.

Nach vergeblichen Versuchen, die Kampffähigkeit der Armee durch Einschränkung ihrer Zahl zu heben, kam Werchowski plötzlich zu der Schlußfolgerung, das Land retten könne nur der Frieden. In einer Privatberatung mit Kadettenführern, die der junge und naive Minister auf seine Seite zu ziehen hoffte, entwickelte Werchowski ein Bild des materiellen und geistigen Zerfalls der Armee: „Alle Versuche, den Krieg fortzusetzen, können die Katastrophe nur näher bringen.“ Den Kadetten konnte das nicht verborgen bleiben, aber unter dem Schweigen der übrigen zuckte Miljukow verächtlich die Achseln: „Rußlands Würde“, „Treue zu den Alliierten ...“ Ohne auch nur an eines dieser Worte zu glauben, war der Führer der Bourgeoisie hartnäckig bestrebt, die Revolution unter den Ruinen und Leichen des Krieges zu begraben. Werchowski bewies politischen Mut: Ohne erst die Regierung zu informieren oder zu warnen, trat er am 20. in einer Kommission des Vorparlaments auf mit einer Erklärung über die Notwendigkeit eines sofortigen Friedensschlusses, unabhängig von Zustimmung oder Nichtzustimmung der Alliierten. Wütend wehrten sich alle jene gegen ihn, die ihm in Privatgesprächen zugestimmt hatten. Die patriotische Presse schrieb, der Kriegsminister „hat sich auf den Wagentritt des Genossen Trotzki geschwungen“. Burzew spielte auf das deutsche Gold an. Werchowski wurde beurlaubt. Unter vier Augen sagten sich die Patrioten: im Grunde hat er recht. Budberg wahrte Vorsicht sogar in seinem Tagebuch: „Vom Standpunkt der Treue zum gegebenen Wort“, schrieb er, „ist der Vorschlag selbstverständlich hinterhältig, dagegen aber vom Standpunkte Rußlands egoistischer Interessen ist es vielleicht das einzige, was Hoffnung auf einen rettenden Ausweg bietet.“ Gleichzeitig beichtet der Baron seinen Neid auf die deutschen Generale, denen „das Schicksal das Glück beschert, Schöpfer von Siegen zu sein“. Er sah nicht voraus, daß die Reihe bald auch an die deutschen Generale kommen sollte. Diese Menschen vermochten überhaupt nichts vorauszusehen, auch nicht die Klügsten unter ihnen. Die Bolschewiki sahen vieles voraus, und das war ihre Stärke.

Der Auszug aus dem Vorparlament sprengte in den Augen des Volkes die letzten Brücken, die die Partei des Aufstandes mit der offiziellen Gesellschaft verbanden. Mit neuer Energie – die Nähe des Zieles verdoppelt die Kräfte – gingen die Bolschewiki an die Agitation, die die Gegner Demagogie nannten, weil sie das auf die Plätze hinaustrug, was man sonst in Verhandlungszimmern und Kanzleien verbarg. Die Überzeugungskraft dieser unermüdlichen Predigt ergab sich daraus, daß die Bolschewiki den Entwicklungsgang klar begriffen, ihm ihre Politik unterordneten, die Massen nicht fürchteten, unerschütterlich an ihr Recht und ihren Sieg glaubten. Das Volk wurde nicht müde, sie anzuhören. Die Massen hatten das Bedürfnis, zusammenzuhalten, ein jeder wollte sich an den anderen überprüfen, und alle beobachteten immer aufmerksamer und gespannter, wie sich der gleiche Gedanke mit all seinen verschiedenen Schattierungen und Strichen in ihrem Bewußtsein wälzte. Endlose Mengen standen an Zirkussen und anderen großen Gebäuden herum, wo die populärsten Bolschewiki mit letzten Schlußfolgerungen und letzten Appellen auftraten.

Die Zahl der führenden Agitatoren verringerte sich stark gegen Oktober. Es fehlte vor allem Lenin als Agitator und mehr noch als unmittelbarer Tagesinspirator. Es fehlten seine einfachen und tiefen Verallgemeinerungen, die sich fest in das Bewußtsein der Massen einbohrten, seine prägnanten, dem Volke abgelauschten und ihm zurückgegebenen Ausdrücke. Es fehlte der hervorragende Agitator Sinowjew: vor den Verfolgungen wegen der Teilnahme am Juli-“Aufstande“ verborgen, hatte er sich entschieden gegen den Oktoberaufstand gewandt und war damit für die ganze kritische Periode vom Betätigungsfelde verschwunden. Kamenjew, unersetzlicher Propagandist und erfahrener politischer Parteiinstrukteur, verurteilte den Kurs auf den Aufstand, glaubte nicht an den Sieg, sah eine Katastrophe voraus und trat finster in den Schatten. Swerdlow, von Natur mehr Organisator als Agitator, trat häufig in Massenversammlungen auf, und sein gleichmäßiger, mächtiger und nie ermüdender Baß verbreitete ruhige Sicherheit. Stalin war weder Agitator noch Redner. Mehr als einmal figurierte er als Berichterstatter bei Parteiberatungen. Aber sprach er auch nur einmal in einer Massenversammlung der Revolution? In den Dokumenten und Erinnerungen sind diesbezüglich keine Spuren erhalten geblieben.

Eindrucksvolle Agitation führten Wolodarski, Laschewitsch, Kollontay, Tschudnowski. Hinterher kamen Dutzende von Agitatoren kleineren Kalibers. Mit Interesse und Sympathie, in die sich bei den Aufgeklärteren Nachsichtigkeit mengte, hörte man Lunatscharski an, einen erfahrenen Redner, der eine Tatsache, eine Verallgemeinerung, Pathos und Scherz anzubringen wußte, der aber keinen Anspruch darauf erhob, jemand zu führen: er hatte selbst nötig, geführt zu werden. Je näher der Umwälzung, desto rascher verlor Lunatscharski an Farbe und verblaßte.

Suchanow erzählt von dem Vorsitzenden des Petrograder Sowjets: „Sich von der Arbeit im Revolutionsstab losreißend, flog er vom Obuchowski-Werk zum Truboschtschny, vom Putilow zum Baltijski, aus der Manege in die Kasernen, und es war, als spräche er gleichzeitig an allen Orten. Es kannte und hörte ihn jeder Petrograder Arbeiter und Soldat. Sein Einfluß – bei den Massen und im Stab – war überwältigend. Er war die Zentralfigur dieser Tage und der Hauptheld dieser bedeutsamen Seite der Geschichte.“

Doch unermeßlich wirksamer war in dieser letzten Periode vor der Umwälzung jene molekulare Agitation, die namenlose Arbeiter, Matrosen, Soldaten führten, Gesinnungsgenossen einzeln werbend, letzte Zweifel vernichtend, letzte Schwankungen überwindend. Die Monate fieberhaften politischen Lebens hatten zahlreiche untere Kader geschaffen, Hunderte und Tausende urwüchsiger Menschen erzogen, die gewohnt waren, die Politik von unten zu beobachten, nicht von oben, und die gerade darum Tatsachen und Menschen mit einer Treffsicherheit einschätzten, wie sie Rednern akademischen Schlages längst nicht immer gegeben ist. An erster Stelle standen die Petrograder Arbeiter, erbliche Proletarier, die eine Schicht Agitatoren und Organisatoren geschaffen hatten von ausnehmend revolutionärer Stählung, hoher politischer Kultur, selbständig in Denken, Wort und Tat. Dreher, Schlosser, Schmiede, Erzieher von Werken und Fabriken, hatten um sich schon ihre Schulen und ihre Schüler, spätere Erbauer der Sowjetrepublik. Die baltischen Matrosen, engste Kampfgefährten der Petrograder Arbeiter, in hohem Maße deren Mitte entstammend, haben Brigaden von Agitatoren hervorgebracht, die im Sturm rückständige Regimenter, Kreisstädte, Muschikdörfer eroberten. Eine verallgemeinernde Formel, im Zirkus Modern von einem der revolutionären Führer hingeworfen, füllte sich in Hunderten denkender Köpfe mit Fleisch und Blut und machte dann einen Kreislauf durch das ganze Land.

Aus den baltischen Provinzen, aus Polen, Litauen wurden Tausende revolutionärer Arbeiter und Soldaten beim Rückzug der russischen Armee zusammen mit den Industriebetrieben oder einzeln evakuiert: alles das waren Agitatoren gegen den Krieg und seine Schuldigen. Lettische Bolschewiki, von ihrem Heimatboden getrennt und völlig auf dem Boden der Revolution stehend, überzeugt, trotzig, entschlossen, leisteten tagaus tagein Wühlarbeit in allen Teilen des Landes. Die eckigen Gesichter, der harte Akzent und die nicht selten gebrochenen russischen Sätze verliehen besondere Ausdruckskraft ihren ungebändigten Mahnungen zum Aufstande.

Die Masse duldete nun nicht mehr in ihrer Mitte Schwankende, Zweifelnde, Neutrale. Sie war bestrebt, alle zu erfassen, mitzureißen, zu überzeugen, zu gewinnen. Betriebe entsandten gemeinsam mit den Regimentern Delegierte an die Front. Die Schützengräben verbanden sich mit den Arbeitern und Bauern des benachbarten Hinterlandes. In den der Front nahegelegenen Städten fanden zahllose Meetings, Beratungen, Konferenzen statt, wo Soldaten und Matrosen ihre Handlungen in Übereinstimmung brachten mit denen der Arbeiter und Bauern: das rückständige, an der Front gelegene Weißrußland wurde auf diese Weise für den Bolschewismus gewonnen.

Wo die lokale Parteileitung unentschieden, abwartend war, wie zum Beispiel in Kiew, Woronesch und an zahlreichen anderen Orten, verfielen die Massen nicht selten in Passivität. Zur Rechtfertigung ihrer Politik verwiesen die Führer auf die Verfallsstimmungen, die sie selbst hervorgerufen hatten. Umgekehrt: „Je entschiedener und mutiger der Appell zum Aufstande war“, schreibt Powolschski, einer der Kasaner Agitatoren, „um so vertrauensseliger und freundschaftlicher benahm sich die Soldatenmasse dem Redner gegenüber.“

Die Fabriken und Regimenter von Petrograd und Moskau klopfen immer beharrlicher an die Holztore des Dorfes. Die Arbeiter veranstalten untereinander Kollekten und schicken Delegierte in ihre heimatlichen Gouvernements. Regimenter beschließen, die Bauern zur Unterstützung der Bolschewiki aufzurufen. Arbeiterbetriebe außerhalb der Stadt veranstalten Pilgerfahrten in die umliegenden Dörfer, tragen Zeitungen aus, gründen bolschewistische Zellen. Von diesen Streifzügen bringen sie in den Pupillen einen Abglanz heim von den Bränden des Bauernkrieges.

Der Bolschewismus erobert das Land. Die Bolschewiki werden eine unüberwindliche Macht. Mit ihnen geht das Volk. Die Stadtdumas von Kronstadt, Zarizyn, Kostroma, Schuja, hervorgegangen aus allgemeinen Wahlen, sind in Händen der Bolschewiki. Zweiundfünfzig Prozent der Stimmen erhalten die Bolschewiki bei den Wahlen zu den Bezirksdumas in Moskau. Im fernen friedlichen Tomsk wie auch in dem gar nicht industriellen Samara nehmen sie in der Duma den ersten Platz ein. Von vier Vertretern des Schlüsselburger Kreissemstwos gehen drei Bolschewiki durch. Im Ligowsker Kreissemstwos erhalten die Bolschewiki fünfzig Prozent der Stimmen. Nicht überall steht es so günstig. Aber überall verändert es sich in gleicher Richtung: das spezifische Gewicht der bolschewistischen Partei steigt rapid.

Viel krasser jedoch zeigte sich die Bolschewisierung der Massen in den Klassenorganisationen. Die Gewerkschaften vereinigten in der Hauptstadt über eine halbe Million Arbeiter. Jene Menschewiki, die noch in einigen Gewerkschaften die Führung in Händen hielten, fühlten sich selbst als Überbleibsel des gestrigen Tages. Welcher Teil des Proletariats sich auch versammelte und welches auch seine unmittelbaren Aufgaben sein mochten, er kam unvermeidlich zu bolschewistischen Schlußfolgerungen. Und nicht zufällig: Gewerkschaften, Fabrikkomitees, ökonomische oder kulturelle Vereinigungen der Arbeiterklasse, ständige oder provisorische, waren durch die Gesamtsituation bei jeder Sonderaufgabe gezwungen, stets die gleiche Frage zu stellen: Wer ist Herr im Hause?

Die Arbeiter der Fabriken des Artillerieamtes, zusammenberufen zu einer Konferenz zwecks Regulierung der Beziehungen mit der Administration, sagen, wie das zu erreichen sei: durch die Sowjetmacht. Das ist bereits keine hohle Formel, sondern ein Programm der Wirtschaftsrettung. Indem sie sich der Macht nähern, gehen die Arbeiter immer konkreter an die Fragen der Industrie heran: die Artilleriekonferenz schuf sogar ein besonderes Zentrum zur Ausarbeitung von Methoden für die Umstellung der Kriegsbetriebe auf Friedensproduktion.

Die Moskauer Konferenz der Fabrikkomitees bezeichnete es als notwendig, daß der lokale Sowjet künftig durch Verordnungen über alle Streikkonflikte entscheide, aus eigener Machtvollkommenheit durch Unternehmer geschlossene Betriebe wiedereröffne und durch Entsendung eigener Delegierten nach Sibirien und dem Donezbecken die Betriebe mit Brot und Kohle versorge. Die Petrograder Konferenz der Fabrikkomitees widmet ihre Aufmerksamkeit der Agrarfrage und arbeitet aufgrund eines Referats von Trotzki ein Manifest an die Bauern aus: das Proletariat fühlt sich nicht nur als besondere Klasse, sondern auch als Führer des Volkes.

Die allrussische Konferenz der Fabrikkomitees, in der zweiten Oktoberhälfte, bringt die Frage der Arbeiterkontrolle auf die Höhe einer allnationalen Aufgabe. „Die Arbeiter sind an der geordneten und ununterbrochenen Arbeit der Unternehmen interessierter als die Besitzer.“ Die Arbeiterkontrolle „liegt im Interesse des gesamten Landes und muß unterstützt werden von der revolutionären Bauernschaft und der revolutionären Armee“. Die Resolution, die einer neuen ökonomischen Ordnung die Pforte öffnet, wird angenommen von den Vertretern sämtlicher Industrieunternehmen Rußlands gegen fünf Stimmen bei neun Stimmenthaltungen. Die wenigen, die sich der Abstimmung enthalten, sind jene alten Menschewiki, die ihrer Partei nicht mehr folgen können, aber sich noch nicht entschließen, offen die Hand für die bolschewistische Umwälzung zu erheben. Morgen werden sie es tun.

Die erst ganz vor kurzem entstandenen demokratischen Munizipalitäten sterben ab, parallel mit den Organen der Regierungsgewalt. Die wichtigsten Aufgaben, wie Versorgung der Städte mit Wasser, Licht, Heizung, Lebensmitteln, fallen immer mehr den Sowjets und anderen Arbeiterorganisationen zu. Das Fabrikkomitee der Beleuchtungszentrale in Petrograd lief in der Stadt und Umgebung umher auf der Suche bald nach Kohle, bald nach Öl für die Turbinen, verschaffte dies wie jenes durch die Komitees anderer Betriebe, im Kampfe gegen Besitzer und Administration.

Nein, die Macht der Sowjets war keine Schimäre, keine von Parteitheoretikern erklügelte, willkürliche Konstruktion. Sie wuchs unaufhaltsam von unten auf, aus Wirtschaftszerfall, Ohnmacht der Besitzenden, aus den Nöten der Massen; die Sowjets wurden in der Tat zur Macht – für Arbeiter, Soldaten, Bauern blieb kein anderer Weg übrig. Es war nicht mehr an der Zeit, über die Sowjetmacht zu Hügeln und zu streiten: es hieß sie verwirklichen.

Auf dem ersten Sowjetkongreß, im Juni. war beschlossen worden, Kongresse alle drei Monate zu veranstalten. Das Zentral-Exekutivkomitee rief den zweiten Kongreß nicht nur nicht zur festgelegten Zeit ein, sondern bekundete die Absicht, ihn überhaupt nicht einzuberufen, um nicht einer feindlichen Mehrheit gegenübergestellt zu werden. Die Demokratische Beratung hatte zu ihrer Hauptaufgabe gehabt, die Sowjets zu verdrängen und sie durch Organe der „Demokratie“ zu ersetzen. Doch erwies sich das als nicht so einfach. Die Sowjets waren nicht gewillt, den Platz, wem immer, zu räumen.

Am 21. September, gegen Ende der Demokratischen Beratung, erhob der Petrograder Sowjet die Stimme für schnellste Einberufung eines Sowjetkongresses. In diesem Sinne wurde nach den Referaten von Trotzki und dem Moskauer Gast Bucharin eine Resolution angenommen, die formell von der Notwendigkeit ausging, sich „auf die neue Welle der Konterrevolution“ vorzubereiten. Das Programm der Defensive, das der künftigen Offensive den Weg bahnen sollte, stützte sich auf die Sowjets als die einzigen zu einem Kampfe fähigen Organisationen. Die Resolution forderte, daß die Sowjets ihre Positionen in den Massen festigen sollten. Wo die faktische Macht in ihren Händen sei, dürften sie sie keinesfalls entgleiten lassen. Die in den Kornilowtagen geschaffenen revolutionären Komitees müßten in Bereitschaft bleiben. „Für Zusammenschluß und einmütiges Vorgehen sämtlicher Sowjets in ihrem Kampfe gegen die heranrückende Gefahr und für die Entscheidung der Fragen über Organisierung der revolutionären Macht ist die unverzügliche Einberufung des Sowjetkongresses notwendig.“ So mündet die Verteidigungsresolution in den Sturz der Regierung. Nach dieser politischen Stimmgabel wird von nun an die Agitation bis zum Moment des Aufstandes verlaufen.

Die zur Beratung zusammengekommenen Sowjetdelegierten stellten am nächsten Tage die Kongreßfrage vor dem Zentral-Exekutivkomitee. Die Bolschewiki forderten Einberufung des Kongresses in zweiwöchiger Frist und beantragten oder richtiger drohten zu diesem Zwecke ein auf den Petrograder und den Moskauer Sowjet sich stützendes Sonderorgan zu schaffen. In Wirklichkeit zogen sie vor, den Kongreß durch das alte Zentral-Exekutivkomitee einberufen zu lassen: das beseitigte von vornherein den Streit über die Rechtsgültigkeit des Kongresses und gestattete, die Versöhnler mit ihrer eigenen Hilfe zu stürzen. Die halbverschleierte Drohung der Bolschewiki verfehlte ihre Wirkung nicht: da sie es noch nicht wagten, mit der Sowjetlegalität zu brechen, erklärten die Führer des Zentral-Exekutivkomitees, sie würden niemand die Ausübung ihrer Pflichten anvertrauen. Der Kongreß wurde für den 20. Oktober, in weniger als einem Monat, angesetzt. Kaum aber waren die Provinzdelegierten auseinandergefahren, als den Führern des Zentral-Exekutivkomitees plötzlich die Augen aufgingen: der Kongreß sei unzeitgemäß, er würde die örtlichen Arbeiter von der Wahlkampagne ablenken und der Konstituierenden Versammlung schaden. Die wirkliche Befürchtung bestand darin, der Kongreß könnte ein kraftvoller Prätendent auf die Macht werden; doch darüber schwieg man diplomatisch. Schon am 26. September stellte Dan, ohne sich um die notwendige Vorbereitung bemüht zu haben, beim Büro des Zentral-Exekutivkomitees einen Antrag auf Verschiebung des Kongresses.

Mit den elementaren Prinzipien der Demokratie machten diese patentierten Demokraten am allerwenigsten Umstände. Soeben hatten sie den Beschluß der von ihnen einberufenen Demokratischen Beratung umgestoßen, der eine Koalition mit den Kadetten verwarf Jetzt bekundeten sie ihre souveräne Geringschätzung für die Sowjets, beginnend mit dem Petrograder, auf dessen Schultern sie zur Macht emporgestiegen waren. Aber konnten sie denn in der Tat, ohne ihr Bündnis mit der Bourgeoisie zu zerreißen, den Hoffnungen und Forderungen von Dutzend Millionen Arbeiter, Soldaten und Bauern, die hinter den Sowjets standen, Rechnung tragen?

Trotzki beantwortete den Vorschlag Dans dahingehend, der Kongreß würde in jedem Falle einberufen werden, wenn nicht auf konstitutionellem, so auf revolutionärem Wege. Das im allgemeinen so gefügige Büro lehnte es diesmal ab; dem Weg des sowjetischen Coup d’État zu folgen. Doch die kleine Niederlage veranlaßte die Verschwörer keinesfalls, die Waffen zu strecken, im Gegenteil, stachelte sie gleichsam auf. Dan fand eine einflußreiche Stütze in der Militärischen Sektion des Zentral-Exekutivkomitees, die dahin entschied, die Frontorganisationen zu „befragen“, ob der Kongreß einzuberufen, das heißt ob eine vom höchsten Sowjetorgan zweimal getroffene Entscheidung auszuführen sei. In der Zwischenzeit begann die Versöhnlerpresse eine Kampagne gegen den Kongreß. Besonders wüteten die Sozialrevolutionäre. „Ob der Kongreß einberufen wird oder nicht“, schrieb Djelo Naroda – „für die Lösung der Machtfrage kann es nicht die geringste Bedeutung haben ... Kerenskis Regierung wird sich jedenfalls nicht unterwerfen.“ Wem nicht unterwerfen? fragte Lenin. „Der Macht der Sowjets“, erläuterte er, „der Macht der Arbeiter und Bauern, welche Djelo Naroda, um nicht hinter den Pogromisten und Antisemiten, Monarchisten und Kadetten zurückzubleiben, die Macht Trotzkis und Lenins nennt.“

Das Bauern-Exekutivkomitee seinerseits erklärte die Einberufung des Kongresses als „gefährlich und unerwünscht“. Auf den Sowjetgipfeln entstand bösartiger Wirrwarr. Im Lande herumreisende Delegierte der Versöhnlerparteien mobilisierten die lokalen Organisationen gegen den Kongreß, den offiziell das höchste Sowjetorgan einberief. Der Offiziosus des Zentral-Exekutivkomitees druckte tagein tagaus von der führenden Versöhnlerclique bestellte Resolutionen gegen den Kongreß, durchweg ausgehend von den März-Gespenstern, die allerdings imposante Benennungen hatten. Die Iswestja, trugen die Sowjets in Leitartikeln zu Grabe, erklärten sie für provisorische Baracken, die abgetragen werden müßten, sobald die Konstituierende Versammlung „das Gebäude des neuen Regimes“ krönen würde.

Die Agitation gegen den Kongreß vermochte am allerwenigsten die Bolschewiki zu überraschen. Schon am 24. September hatte das Zentralkomitee der Partei, ohne auf die Entscheidung des Zentral-Exekutivkomitees zu bauen, beschlossen, für den Kongreß eine Kampagne von unten, durch Lokalsowjets und Frontorganisationen einzuleiten. In die offizielle Kommission des Zentral-Exekutivkomitees zur Einberufung oder richtiger zur Sabotage des Kongresses ward von den Bolschewiki Swerdlow delegiert. Unter seiner Leitung wurden die örtlichen Parteiorganisationen und durch diese auch die Sowjets mobilisiert. Am 27. verlangten sämtliche revolutionäre Institutionen Revals die sofortige Auflösung des Vorparlaments und die Einberufung des Sowjetkongresses zwecks Schaffung einer Regierungsmacht, wobei sie sich feierlich verpflichteten, ihn „mit allen in der Festung vorhandenen Kräften und Mitteln“ zu unterstützen. Viele Lokalsowjets, beginnend mit den Moskauer Bezirken, schlugen vor, die Sache der Einberufung des Kongresses aus den Händen des illoyalen Zentral-Exekutivkomitees zu nehmen. Im Gegensatz zu den Resolutionen der Armeekomitees gegen den Kongreß ergossen sich Forderungen zugunsten des Kongresses seitens der Bataillone, Regimenter, Korps und Garnisonen. „Der Sowjetkongreß muß die Macht übernehmen und vor nichts haltmachen“, erklärt eine allgemeine Soldatenversammlung in Kyschtym, Ural. Die Soldaten des Nowgoroder Gouvernements rufen die Bauern auf, am Kongreß teilzunehmen ohne Rücksicht auf die Beschlüsse des Bauern-Exekutivkomitees. Gouvernements- und entlegenste Kreissowjets, Fabriken und Bergwerke, Regimenter, Dreadnoughts, Minenwerfer, Kriegslazarette, Meetings, eine Automobilkompanie in Petrograd und eine Ambulanzabteilung in Moskau – alle fordern Entfernung der Regierung und Übergabe der Macht an die Sowjets.

Ohne sich auf die Agitationskampagne zu beschränken, schaffen die Bolschewiki eine wichtige Organisationsbasis für sich, indem sie einen Sowjetkongreß des Nordgebietes einberufen in Stärke von hundertfünfzig Delegierten aus dreiundzwanzig Punkten. Das war ein gut berechneter Hieb! Das Zentral-Exekutivkomitee unter Leitung seiner großen Meister für kleine Dinge erklärte den Nordkongreß für eine Privatberatung. Eine Handvoll menschewistischer Delegierter beteiligte sich an den Arbeiten des Kongresses nicht und wohnten den Sitzungen nur zu „Informationszwecken“ bei. Als ob das um ein Jota die Bedeutung des Kongresses verringern konnte, auf dem die Sowjets von Petrograd und Umgebung, Moskau, Kronstadt, Helsingfors und Reval vertreten waren, das heißt beider Hauptstädte, der Marinefestungen, der Baltischen Flotte und der um Petrograd gelegenen Garnisonen. Der durch Antonow eröffnete Kongreß, dem absichtlich ein militärischer Anstrich verliehen worden war, verlief unter Vorsitz Fähnrich Krylenkos, des besten Parteiagitators an der Front und späteren bolschewistischen Oberbefehlshabers. Im Mittelpunkt des politischen Referats von Trotzki stand ein neuer Versuch der Regierung, die revolutionären Regimenter aus Petrograd hinauszubringen: der Kongreß wird nicht erlauben, „Petrograd zu entwaffnen und den Sowjet zu erdrosseln“. Die Frage der Petrograder Garnison sei ein Grundelement des Machtproblems. „Das ganze Volk stimmt für die Bolschewiki. Das Volk vertraut uns und beauftragt uns, die Macht in unsere Hände zu nehmen.“ Die von Trotzki vorgeschlagene Resolution besagt: „Die Stunde ist da, wo nur das entschiedene und einmütige Vorgehen aller Sowjets ... die Frage der Zentralmacht entscheiden kann.“ Dieser fast unverhüllte Aufruf zum Aufstande wird mit allen Stimmen bei drei Stimmenthaltungen angenommen.

Laschewitsch forderte die Sowjets auf, nach dem Beispiel Petrograds die Verfügung über die Ortsgarnisonen in ihren Händen zu konzentrieren. Der lettische Delegierte Peterson versprach zur Verteidigung des Sowjetkongresses vierzigtausend lettische Schützen. Die begeistert aufgenommene Erklärung Petersons war am allerwenigsten Phrase. Nach einigen Tagen verkündete der Sowjet der lettischen Regimenter: „Nur der Volksaufstand ... wird den Übergang der Macht in die Hände der Sowjets möglich machen.“ Die Radiostationen der Kriegsschiffe verbreiteten am 13. über das ganze Land den Aufruf des Nordkongresses, sich auf den Allrussischen Sowjetkongreß vorzubereiten. „Soldaten, Matrosen, Bauern und Arbeiter! Eure Pflicht ist, alle Hindernisse hinwegzuräumen ...“

Den bolschewistischen Delegierten des Nordkongresses schlug das Zentralkomitee der Partei vor, in Erwartung des nun bereits nahen Sowjetkongresses nicht auseinanderzufahren. Einzelne Delegierte begaben sich im Auftrage des vom Kongreß gewählten Büros zu den Armeeorganisationen und Lokalsowjets, um Bericht zu erstatten, mit anderen Worten, um die Provinz für den Aufstand vorzubereiten. Das Zentral-Exekutivkomitee erblickte neben sich einen machtvollen Apparat, der sich auf Petrograd und Moskau stützte, sich mit dem Lande durch die Radiostationen der großen Schlachtschiffe unterhielt und jeden Augenblick bereit war, in Fragen der Kongreßeinberufung das baufällige oberste Sowjetorgan abzulösen. Kleine Organisationstricks konnten da den Versöhnlern keinesfalls helfen.

Der Kampf für und wider den Kongreß gab in der Provinz den letzten Anstoß zur Bolschewisierung der Sowjets. In einer Reihe rückständiger Gouvernements, zum Beispiel Smolensk, erhielten die Bolschewiki, allein oder zusammen mit den linken Sozialrevolutionären, zum erstenmal eine Mehrheit während der Kongreßkampagne oder bei den Delegiertenwahlen. Sogar auf dem Sibirischen Sowjetkongreß Mitte Oktober gelang es den Bolschewiki, zusammen mit den linken Sozialrevolutionären eine sichere Mehrheit zu schaffen, die ihren Stempel leicht sämtlichen lokalen Sowjets aufdrückte. Am 15. anerkannte der Kiewer Sowjet mit 159 Stimmen gegen 28 bei drei Stimmenthaltungen den künftigen Sowjetkongreß „als souveränes Machtorgan“. Am 16. erklärte der Sowjetkongreß des Nordwestdistriktes zu Minsk, das heißt im Zentrum der Westfront, die Einberufung des Sowjetkongresses für unaufschiebbar. Am 18. nahm der Petrograder Sowjet Wahlen zum bevorstehenden Kongreß vor: für die bolschewistische Liste (Trotzki, Kamenjew, Wolodarski, Jurenjew und Laschewitsch) wurden 443 Stimmen abgegeben; für die sozialrevolutionäre – 162; das waren alles linke Sozialrevolutionäre, die zu den Bolschewiki neigten; für die Menschewiki – 44 Stimmen. Der unter Vorsitz Krestinikis tagende Kongreß der Uraler Sowjets, wo auf einhundertundzehn Delegierte achtzig Bolschewiki kamen, verlangte im Namen von 223.900 organisierten Arbeitern und Soldaten die Einberufung des Kongresses zu festgelegter Frist. Am gleichen Tage, dem 19., sprach sich die Allrussische Konferenz der Fabrikkomitees, die unmittelbarste und unbestrittenste Vertretung des Proletariats des ganzen Landes, für den sofortigen Übergang der Macht in die Hände der Sowjets aus. Am 20. erklärte Iwanowo-Wosnessensk alle Sowjets des Gouvernements „im Zustande des offenen und unerbittlichen Kampfes gegen die Provisorische Regierung“ und forderte sie auf, über wirtschaftliche und administrative Fragen am Orte selbständig zu entscheiden. Gegen die Resolution, die die Absetzung der lokalen Regierungsbehörden bedeutete, erhob sich nur eine Stimme bei einer Stimmenthaltung. Am 22. veröffentlichte die bolschewistische Presse eine neue Liste von sechsundfünfzig Organisationen, die den Übergang der Macht an die Sowjets forderten: das alles sind die wahren Massen, zum großen Teil bewaffnet.

Der machtvolle Widerhall der Kader des nahenden Umsturzes hinderte Dan nicht, dem Büro des Zentral-Exekutivkomitees zu berichten, daß von den 917 bestehenden Sowjetorganisationen nur 50 sich bereit erklärt hätten, Delegierte zu entsenden und auch diese „ohne jegliche Begeisterung“. Es ist nicht schwer zu begreifen, daß jene wenigen Sowjets, die es noch für angebracht hielten, ihre Gefühle dem Zentral-Exekutivkomitee anzuvertrauen, keine Begeisterung für den Kongreß bezeugten. Doch die überwiegende Mehrheit der Lokalsowjets und Soldatenkomitees ignorierte einfach das Zentral-Exekutivkomitee.

Obwohl sie sich durch ihre Arbeit für die Kongreßsprengung bloßstellten und kompromittierten, wagten die Versöhnler dennoch nicht, die Sache zu Ende zu führen. Als es augenscheinlich wurde, der Kongreß sei nicht zu vermeiden, vollzogen sie eine schroffe Wendung und riefen alle lokalen Organisationen auf, Delegierte zum Kongreß zu wählen, um eine bolschewistische Mehrheit zu verhindern. Aber zu spät auf diesen Gedanken gekommen, sah sich das Zentral-Exekutivkomitee gezwungen, drei Tage vor der angesetzten Frist den Kongreß auf den 25. Oktober zu verschieben.

Das Februar-Regime und mit ihm die bürgerliche Gesellschaft erhielten dank dem letzten Manöver der Versöhnler eine unerwartete Fristverlängerung, aus der sie allerdings nichts Wesentliches mehr gewinnen konnten. Dafür aber nutzten die Bolschewiki die gewonnenen fünf Tage mit großem Erfolg aus. Später gaben das auch die Feinde zu. „Die Aufschiebung der Erhebung“, erzählt Miljukow; „nutzten die Bolschewiki vor allem zur Festigung ihrer Positionen unter den Petrograder Arbeitern und Soldaten aus. Trotzki erschien auf Meetings bei den verschiedenen Truppenteilen der Petrograder Garnison. Die durch ihn hervorgerufene Stimmung läßt sich dadurch charakterisieren, daß man beispielsweise im Semjonowski-Regiment die nach ihm auftretenden Mitglieder des Exekutivkomitees, Skobeljew und Goz, nicht sprechen ließ.“

Der Umschwung im Semjonowski-Regiment, dessen Name in der Geschichte der Revolution mit unheilvollen Zeichen eingeschrieben war, besaß symbolische Bedeutung: im Dezember 1905 hatten die Semjonowsker die Hauptarbeit zur Unterdrückung des Aufstandes in Moskau geleistet. Der Regimentskommandeur General Min, befahl damals: „Verhaftete darf es nicht geben.“ Auf dem Eisenbahnabschnitt Moskau – Golurwino erschossen die Semjonowsker hundertfünfzig Arbeiter und Angestellte. Der für seine Heldentaten vom Zaren ausgezeichnete General Min wurde im Herbst 1906 von der Sozialrevolutionärin Konopljanikowa getötet. Völlig im Netz der alten Traditionen hielt sich das Semjonowski-Regiment länger als die meisten anderen Garderegimenter. Die Reputation seiner „Zuverlässigkeit“ war so stark, daß die Regierung trotz dem traurigen Mißerfolge Skobeljews und Goz’ auf die Semjonowsker beharrlich weiter baute bis zum Tage der Umwälzung und sogar danach.

Die Frage des Sowjetkongresses blieb die zentrale politische Frage während der fünf Wochen, die die Demokratische Beratung vom Oktoberaufstande trennten. Schon die bolschewistische Deklaration in der Demokratischen Beratung verkündete den künftigen Sowjetkongreß als souveränes Organ des Landes. „Nur solche Beschlüsse und Anträge dieser Beratung ... können den Weg zur Verwirklichung finden, die die Zustimmung seitens des Allrussischen Kongresses der Arbeiter–, Bauern- und Soldatendeputierten haben werden.“ Die Resolution für den Boykott des Vorparlaments, unterstützt von der einen Hälfte der Mitglieder des Zentralkomitees gegen die andere Hälfte, lautete: „Die Frage der Beteiligung unserer Partei am Vorparlament stellen wir jetzt in direkte Abhängigkeit von jenen Maßnahmen, die der Allrussische Sowjetkongreß zur Schaffung einer revolutionären Macht treffen wird.“ Die Appellation an den Sowjetkongreß geht durch alle bolschewistischen Dokumente dieser Periode fast ohne Ausnahme.

Unter den Bedingungen des entfachten Bauernkrieges, der sich verschärfenden nationalen Bewegung, sich vertiefenden Desorganisation, der auseinanderfallenden Front, der in Auflösung befindlichen Regierung werden die Sowjets zum einzigen Bollwerk schöpferischer Kräfte. Jede Frage verwandelt sich in eine Machtfrage, das Machtproblem aber führt zum Sowjetkongreß. Er wird die Antwort auf alle Fragen geben müssen, darunter auch auf die Frage über die Konstituierende Versammlung.

Noch nahm keine der Parteien die Parole der Konstituierenden Versammlung zurück, auch nicht die Bolschewiki. Aber fast unmerklich war die wichtigste demokratische Losung, die während anderthalb Jahrzehnten dem heroischen Kampf der Massen Farbe verliehen hatte, im Laufe der Revolutionsereignisse ausgeblieben und verblaßt, als sei sie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben, leere Spreu, nackte, inhaltlose Form geworden, Tradition, aber nicht Perspektive. An diesem Prozeß war nichts Rätselhaftes. In Entwicklung geriet die Revolution an den unmittelbaren Waffengang der zwei Kernklassen der Gesellschaft um die Macht: Bourgeoisie und Proletariat. Weder der einen noch der anderen vermochte die Konstituierende Versammlung noch etwas zu bieten. Die Kleinbourgeoisie in Stadt und Land konnte bei diesem Waffengang nur eine untergeordnete und nebensächliche Rolle spielen. Die Macht in die eigenen Hände zu nehmen, war sie jedenfalls unfähig: wenn die vorangegangenen Monate etwas bewiesen hatten, so gerade dies. In der Konstituierenden Versammlung indes konnte die Kleinbourgeoisie noch eine Mehrheit bekommen und hat sie später tatsächlich bekommen. Wozu? Nur um nicht zu wissen, welchen Gebrauch davon zu machen. Darin eben äußerte sich die Unzulänglichkeit der formalen Demokratie an er tiefen historischen Wende. Die Macht der Tradition zeigte sich darin, daß noch am Vorabend des letzten Waffengangs nicht eines der Lager auf den Namen der Konstituierenden Versammlung verzichtete. In Wirklichkeit aber hatte die Bourgeoisie von der Konstituierenden Versammlung an Kornilow appelliert, die Bolschewiki an den Sowjetkongreß.

Es darf mit Sicherheit angenommen werden, daß ziemlich breite Volksschichten, sogar bestimmte Zwischenschichten der bolschewistischen Partei, in bezug auf den Sowjetkongreß gewisse konstitutionelle Illusionen hegten, das heißt damit die Vorstellung von einem automatischen und schmerzlosen Übergang der Macht aus den Händen der Koalition in die Hände der Sowjets verbanden. In Wirklichkeit mußte man die Macht mit Gewalt nehmen, mit einer Abstimmung war es nicht zu erreichen: nur der bewaffnete Aufstand konnte die Frage entscheiden.

Aber von allen Illusionen, die als unvermeidliche Beimischung jede große, auch die realistischste Volksbewegung begleiten, war die Illusion des Sowjet-“Parlamentarismus“ aus der Gesamtheit der Bedingungen heraus die ungefährlichste. Die Sowjets kämpften in Wirklichkeit um die Macht, stützten sich immer mehr auf die Militärgewalt, wurden zu lokalen Machtorganen, eroberten kämpfend ihren eigenen Kongreß. Für konstitutionelle Illusionen blieb nicht gar so viel Platz übrig, und auch er wurde im Prozeß des Kampfes weggeschwemmt.

Indem sie die revolutionären Bemühungen der Arbeiter und Soldaten des ganzen Landes koordinierte, ihnen Zieleinheit und Zeiteinheit verlieh, verdeckte die Losung des Sowjetkongresses durch ständige Appellation an die legale Vertretung der Arbeiter, Soldaten und Bauern gleichzeitig die halbkonspirative, halboffene Vorbereitung des Aufstandes. Indem er die Kräftesammlung für die Umwälzung erleichterte, mußte der Sowjetkongreß dann deren Resultate sanktionieren und eine neue, für das Volk unbestrittene Macht aufrichten.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003