Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Kapitel 21:
Einnahme der Hauptstadt

Alles veränderte sich, und alles blieb gleich. Die Revolution hatte das Land erschüttert, den Zerfall vertieft, die einen eingeschüchtert, die anderen verhärtet, aber noch nichts bis zu Ende gewagt, nichts ersetzt. Das kaiserliche St. Petersburg schien eher in lethargischen Schlaf versunken als tot. Den gußeisernen Denkmälern der Monarchie hatte die Revolution rote Fähnchen in die Hand gesteckt. Große rote Leinwandtücher wehten über den Fronten der Regierungsgebäude. Aber die Paläste, Ministerien, Stäbe lebten ganz gesondert von ihren roten Bannern, die noch dazu unter dem herbstlichen Regen gehörig ausgeblieben waren. Die Doppeladler mit Zepter und Reichsapfel sind, wo nur möglich, heruntergerissen, häufiger allerdings verhängt oder in aller Eile übermalt. Sie scheinen sich verborgen zu halten. Das ganze Rußland hält sich verborgen, mit vor Wut verzerrten Kiefern.

Die wenig gewichtigen Gestalten der Milizionäre an den Straßenkreuzungen erinnern noch am häufigsten an die Umwälzung, die die lebenden Monumenten ähnelnden „Pharaonen“ hinweggefegt hat. Außerdem nennt sich Rußland nun seit fast zwei Monaten Republik. Die Zarenfamilie befindet sich in Tobolsk. Nein, der Februarwirbel ist nicht spurlos vorübergegangen. Aber die Zarengenerale bleiben Generale, Senatoren – Senatoren, Geheimräte schützen ihre Würden, die Rangliste bleibt in Kraft, bunte Mützenränder und Kokarden erinnern an die bürokratische Hierarchie, und gelbe Knöpfe mit Adler kennzeichnen Studenten. Und die Hauptsache, Gutsbesitzer bleiben Gutsbesitzer, das Kriegsende ist nicht abzusehen, die Ententediplomaten halten das offizielle Rußland frecher denn je an der Strippe.

Alles bleibt beim alten, und doch erkennt keiner sich wieder. Die aristokratischen Viertel fühlen sich in den Hintergrund geschoben. Die Viertel der liberalen Bourgeoisie sind dichter an die Aristokratie herangerückt. Aus einem patriotischen Mythos ist das Volk furchtbare Realität geworden. Unter den Füßen schwankt alles und bröckelt auseinander. Der Mystizismus flackert mit heftiger Kraft in jenen Kreisen auf, die noch vor gar nicht so langer Zeit über den Aberglauben der Monarchie höhnten.

Börsianer, Advokaten, Ballerinen verfluchen die eingetretene Verfinsterung der Sitten. Der Glaube an die Konstituierende Versammlung verflüchtigt sich mit jedem Tage mehr. Gorki prophezeite in seiner Zeitung den herannahenden Zusammenbruch der Kultur. Die seit den Junitagen verstärkte Flucht aus dem wilden und hungrigen Petrograd in die friedlichere und sattere Provinz nimmt im Augenblick der Oktoberumwälzung epidemischen Charakter an. Solide Familien, denen es nicht gelungen war, die Hauptstadt zu verlassen, sind vergeblich bemüht, sieh durch Steinmauern und Eisendach gegen die Wirklichkeit abzusperren. Das Echo des Sturms dringt von überall herein: durch den Markt, wo alles teurer und alles knapp wird; durch die wohlmeinende Presse, die sich in ein Geheul von Haß und Angst verwandelt hat; durch die brodelnde Straße, wo manchmal vor den Fenstern geschossen wird, und schließlich durch den Hintereingang, über die Dienstboten die nicht mehr gewillt sind, sich geduldig zu unterwerfen. Hier trifft die Revolution vielleicht die empfindlichste Stelle: der Widerstand der Haussklaven zerstört endgültig die Stabilität der häuslichen Ordnung.

Und doch wehrt sich die Alltagsroutine aus aller Kraft. Schüler lernen in den Schulen nach alten Lehrbüchern, Beamte beschreiben Papiere, die niemand braucht, Dichter schwitzen Verse, die niemand liest, Ammen erzählen Märchen vom Zarewitsch Iwan. Aus der Provinz gekommene Adels- und Kaufmannstöchter studieren Musik oder suchen Bräutigame. Die alte Kanone verkündet von den Mauern der Peter-Paul-Festung herab die Mittagsstunde im Mariinski-Theater geht ein neues Ballett, und der Außenminister Tereschtschenko, stärker in Choreographie als in Diplomatie, findet vermutlich Zeit, die Spitzenkappe der Ballerina zu bewundern und so die Festigkeit des Regimes zu demonstrieren.

Überbleibsel alter Feste sind noch sehr zahlreich, und für Geld ist alles zu haben. Gardeoffiziere klirren noch vernehmlich mit den Sporen und suchen Abenteuer. In den Chambres séparées der teuren Restaurants finden wüste Zechgelage statt. Die Absperrung des elektrischen Lichtes um Mitternacht hindert das Blühen von Spielklubs nicht, wo bei Stearinkerzen Champagner funkelt, erlauchte Plünderer des Staatsschatzes nicht weniger erlauchte deutsche Spione schröpfen, monarchistische Verschwörer semitischen Kontrabandisten Paß! ansagen und astronomische Einsatzziffern gleichzeitig Ausmaß der Ausschweifung wie Ausmaß der Inflation anzeigen.

Führt wirklich eine einfache Trambahn, vernachlässigt, schmutzig, saumselig, mit Menschentrauben behängt, aus diesem in Agonie liegenden St. Petersburg zu den in leidenschaftlicher Spannung lebenden Arbeitervierteln? Die hellblauen, mit Gold ausgelegten Kuppeln des Smolny-Klosters bezeichnen aus der Ferne den Stab des Aufstandes: am Rande der alten Stadt, wo die Trambahnlinie endet und die Newa eine schroffe Biegung nach Süden macht, das Zentrum von den Vorstädten trennend. Ein langes graues, dreistöckiges Gebäude, Erziehungskaserne für Adelstöchter, ist nun die Feste der Sowjets. Die endlosen hauenden Korridore sind wie geschaffen für den Unterricht in Gesetzen der Perspektive. An den Türen vieler Dutzende Zimmer die Korridore entlang sind noch emaillierte Schilder erhalten: „Lehrerzimmer“, „Dritte Klasse“, „Vierte Klasse“, „Klassendame“. Aber neben den alten Schildern oder diese verdeckend sind flüchtig Papierbogen mit geheimnisvollen Revolutionshieroglyphen angeheftet: ZK d. P.S.R., S-D.-Menschewiki, S-D.-Bolschewiki, Linke S.-R., Anarchisten-Kommunisten, Expedition des ZJK, usw. usw. John Reeds achtsames Auge entdeckte an den Wänden Plakate: „Genossen, im Interesse eurer eigenen Gesundheit haltet auf Sauberkeit.“ Aber, ach, keiner hält auf Sauberkeit, angefangen bei der Natur. Das Oktober-Petrograd lebt unter einer Regenkuppel. Die Straßen, schon lange nicht gereinigt, sind schmutzig. Im Hofe des Smolny unermeßliche Pfützen. Die Soldatensohlen tragen den Schmutz in Korridore und Säle. Doch niemand blickt jetzt nach unten, vor die Füße; alle blicken vorwärts.

Das Smolny kommandiert immer fester und gebieterischer, gehoben von der leidenschaftlichen Sympathie der Massen. Die Zentralleitung erfaßt unmittelbar nur die oberen Glieder jenes revolutionären Systems, dem in seiner Gesamtheit die Vollziehung der Umwälzung obliegt. Das Wichtigste wird unten – und wie von selbst getan. Fabriken und Kasernen, – das sind in diesen Tagen und Nächten die Brandherde der Geschichte. Im Wyborger Bezirk konzentrieren sich, wie im Februar, die Hauptkräfte der Revolution, doch zum Unterschiede vom Februar besitzt er jetzt seine mächtige Organisation, eine offene, allgemein anerkannte. Aus Straßen, Fabrikküchen, Klubs, Kasernen laufen alle Fäden zusammen im Hause Nummer dreiunddreißig auf dem Sampsonjewski-Prospekt, wo Bezirkskomitee der Bolschewiki, Wyborger Sowjet und Kampfstab sich befinden. Die Bezirksmiliz verschmilzt mit der Roten Garde. Der Bezirk ist völlig in der Gewalt der Arbeiter. Würde die Regierung den Smolny niederschlagen, der Wyborger Bezirk allein könnte das Zentrum wiederherstellen und den weiteren Angriff sichern.

Die Entscheidung war dicht herangerückt, doch die Regierenden glaubten bis zum letzten Moment oder gaben sich wenigstens den Anschein, daß sie keine besonderen Ursachen zur Besorgnis hätten. Die britische Gesandtschaft, die Grund genug hatte, die Ereignisse in Petrograd aufmerksam zu verfolgen, erhielt, nach den Worten des damaligen russischen Gesandten in London, zuverlässige Meldungen über die bevorstehende Umwälzung. Buchanans besorgte Fragen beantwortete Tereschtschenko nach dem traditionellen Diplomatenfrühstück mit heißen Beteuerungen: „So etwas“ könne nicht passieren, die Regierung halte die Zügel fest in den Händen. Die russische Botschaft in London erfuhr von der Umwälzung in Petrograd aus einer Meldung der britischen Telegraphenagentur.

Der Hüttenmagnat Auerbach, der in jenen Tagen den Ministergehilfen Paltschinski besuchte, erkundigte sich nach einer Unterhaltung über ernstere Geschäfte so nebenbei nach den „schwarzen Wolken am politischen Horizont“ und erhielt eine vollkommen beruhigende Antwort: das fällige Gewitter, sonst nichts; es wird sich verziehen und wieder hell werden, – „schlafen Sie ruhig“. Paltschinski selbst hatte nur noch eine oder zwei schlaflose Nächte zu verbringen, bevor er verhaftet wurde.

Je ungenierter Kerenski mit den Versöhnlerführem umsprang, um so weniger bezweifelte er, daß sie im Augenblicke der Gefahr rechtzeitig zu Hilfe kommen würden. Je schwächer die Versöhnler wurden, desto sorgsamer hielten sie um sich eine Atmosphäre von Illusionen aufrecht. Indem sie von ihren Petrograder Höhen mit den Spitzenorganisationen von Provinz und Front gegenseitige Ermunterungen austauschten, schufen Menschewiki und Sozialrevolutionäre eine Fälschung der öffentlichen Meinung und führten, ihre Ohnmacht maskierend, Weniger die Feinde als sich selbst irre.

Der schwerfällige, ganz untaugliche Staatsapparat, eine Mischung aus Märzsozialist und Zarenbürokrat, war sehr gut für Zwecke der Selbsttäuschung geeignet. Der frischgebackene Sozialist fürchtete, dem Bürokraten als nicht genügend reifer Staatsmann zu erscheinen. Der Bürokrat hatte Angst, Mangel an Achtung vor den neuen Ideen zu bekunden. So entstand ein Netz von offizieller Lüge, wo Generale, Staatsanwälte, Zeitungsleute, Kommissare und Adjutanten um so mehr flunkerten, je näher sie an der Quelle der Macht standen. Der Kommandierende des Petrograder Militärbezirks gab tröstliche Berichte, weil Kerenski angesichts der trostlosen Wirklichkeit ihrer bedurfte.

Die Traditionen der Doppelherrschaft wirkten in der gleichen Richtung. Wurden doch die laufenden Verfügungen des Bezirksstabes, gegengezeichnet vom Militärischen Revolutionskomitee, widerspruchslos erfüllt. Die Wachen in der Stadt wurden von Garnisontruppenteilen in üblicher Weise bezogen, und man darf sagen, die Regimenter hatten schon lange den Wachtdienst nicht mit solchem Eifer ausgeführt wie jetzt. Unzufriedenheit der Massen? „Meuternde Sklaven“ sind immer unzufrieden. An Meuterei versuchen könnte sich nur der Auswurf der Hauptstadtbevölkerung beteiligen. Die Soldatensektion gegen den Stab? Dafür aber steht die Militärische Sektion des Zentral-Exekutivkomitees hinter Kerenski. Die gesamte Organisierte Demokratie mit Ausnahme der Bolschewiki unterstützt die Regierung. So verwandelte sich der rosige Märznimbus in blauen Dunst, der die realen Umrisse der Dinge verhüllte.

Erst nachdem der Bruch zwischen Smolny und Stab erfolgt war, versuchte die Regierung an den Konflikt ernster heranzutreten: unmittelbare Gefahr bestehe selbstverständlich nicht, doch müsse man diesmal die Gelegenheit wahrnehmen, um mit den Bolschewiki Schluß zu machen. Außerdem drängten aus aller Kraft auch die bürgerlichen Verbündeten. In der Nacht zum 24. faßte die Regierung Mut und verfügte gegen das Militärische Revolutionskomitee Strafverfolgung einzuleiten; bolschewistische Zeitungen, die zum Aufstande aufrufen, zu verbieten; zuverlässige Truppenteile aus der Umgebung und von der Front anzufordern. Die Ausführung des im Prinzip angenommen Antrages, das ganze Militärische Revolutionskomitee zu verhaften, wurde verschoben: für ein so großes Unternehmen müsse man sich erst der Unterstützung des Vorparlaments vergewissern.

Das Gerücht über die von der Regierung getroffenen Beschlüsse verbreitete sich sofort in der Stadt. Im Gebäude des Hauptstabes, neben dem Winterpalais, hatten in der Nacht zum 24. Wachtdienst Soldaten des Pawlowsker Regiments, eines der sichersten Truppenteile des Militärischen Revolutionskomitees. Vor den Soldaten wurden Reden geführt über das Heranholen der Junker, über Hochziehen der Brücken, über Verhaftungen. Alles, was die Pawlowsker auffangen und festhalten konnten, meldeten sie sogleich den Bezirken und dem Smolny. Im revolutionären Zentrum verstand man nicht immer die Nachrichten dieses freiwilligen Aufklärungsdienstes auszunutzen. Doch erfüllte er eine unersetzliche Aufgabe. Die Arbeiter und Soldaten der ganzen Stadt erfuhren von den Absichten des Feindes und verstärkten ihre Bereitschaft, Widerstand zu leisten.

Vom frühen Morgen an trafen die Behörden Vorbereitungen zur Einleitung der feindseligen Aktionen. Den Junkerschulen der Hauptstadt wurde befohlen, sich kampfbereit zu halten. Dem in der Newa postierten Kreuzer Aurora mit dem bolschewistisch gestimmten Kommando – ins Meer zu gehen und sich der übrigen Flotte anzuschließen. Aus der Umgebung sind Truppenteile herbeibefohlen: ein Stoßtruppbataillon aus Zarskoje Selo, Junker aus Oranienbaum, Artillerie aus Pawlowsk. Der Stab der Nordfront ist beauftragt, sofort zuverlässige Truppen in die Hauptstadt zu entsenden. Als Maßnahme unmittelbarer Kriegsvorsicht wird befohlen: die Wachen des Winterpalais zu verstärken; die Brücken über die Newa hochzuziehen; den Junkern – die Automobile zu kontrollieren; aus dem Telephonnetz die Apparate des Smolny auszuschalten. Justizminister Maljantowitsch ordnete an, jene gegen Kaution entlassenen Bolschewiki unverzüglich zu verhaften; die sich wieder durch regierungsfeindliche Tätigkeit ausgezeichnet hatten: der Schlag richtete sich in erster Linie gegen Trotzki. Wandel der Zeiten! Maljantowitsch, wie sein Vorgänger Sarudny, waren im Jahre 1905 Trotzkis Anwälte gewesen. Auch damals handelte es sich um die Führung des Petrograder Sowjets. Der Charakter der erhobenen Beschuldigungen war in beiden Fällen gleich; nur fügten die einstigen Verteidiger, zu Anklägern geworden, noch den kleinen Punkt von deutschem Golde hinzu.

Der Stab des Militärbezirkes hatte unterdessen besonders fieberhafte Tätigkeit in der typographischen Sphäre entwickelt. Dokument folgte auf Dokument: keinerlei Demonstrationen würden geduldet werden; die Schuldigen hätten strengster Strafe gewärtig zu sein; Verbot für die Truppenteile der Garnison, ohne Weisung des Stabes die Kasernen zu verlassen; „sämtliche Kommissare des Petrograder Sowjets sind zu entfernen“; über deren ungesetzliche Tätigkeit ist eine Untersuchung einzuleiten „zwecks Verfolgung durch das Kriegsgericht“. In den dräuenden Befehlen wird jedoch nicht gesagt, wie und durch wen ihre Ausführung gesichert werden soll.

Unter Androhung persönlicher Haftbarmachung forderte der Kommandierende die Besitzer von Autos auf, diese „zwecks Verhütung eigenmächtiger Expropriationen“ dem Stabe zur Verfügung zu stellen; doch niemand rührte daraufhin auch nur einen Finger.

Das Zentral-Exekutivkomitee geizte gleichfalls nicht mit Mahnungen und Drohungen. Ihm auf den Fersen folgten: Bauern-Exekutivkomitee, Stadtduma, Zentralkomitees der Menschewiki und Sozialrevolutionäre. An literarischen Hilfsquellen waren alle diese Institutionen reich genug. In den Aufrufen, die die Mauern und Zäune bedeckten, war beständig die Rede von einem Häuflein Wahnsinniger, von Gefahr blutiger Kämpfe und Unvermeidlichkeit der Konterrevolution.

Um 5 Uhr 30 morgens erschien in der Druckerei der Bolschewiki ein Regierungskommissar mit einer Abteilung Junker, die die Ausgänge besetzten und einen Befehl des Stabes über sofortiges Verbot des Zentralorgans und des Blattes Der Soldat vorzeigten. Was? Der Stab? Existiert denn das noch? Hier würden keine Befehle ohne Sanktion des Militärischen Revolutionskomitees anerkannt. Doch das hilft nichts: die Stereotypen werden zerschlagen, das Gebäude versiegelt. Die Regierung kann den ersten Erfolg verzeichnen.

Ein Arbeiter und eine Arbeiterin in der bolschewistischen Druckerei kommen atemlos in das Smolny gelaufen, wo sie Podwojski und Trotzki vorfinden: wenn das Komitee ihnen Schutz gegen die Junker stellt, wollen die Arbeiter die Zeitung herausbringen. Die Form der ersten Antwort auf den Regierungsangriff ist gefunden. Es wird ein Befehl an das Litowsker Regiment geschrieben, sofort eine Kompanie zum Schutze der Arbeiterpresse zu schicken. Die Abgesandten der Druckerei bestehen darauf, daß auch das 6. Pionierbataillon hinzugezogen werde: das seien nahe Nachbarn und treue Freunde Ein Fernspruch wird sogleich an beide Adressen weitergeleitet. Die Litowsker und die Pioniere marschieren unverzüglich aus. Die Siegel werden vom Gebäude heruntergerissen, die Matrizen neu gegossen, die Arbeit geht rastlos vonstatten. Mit Verspätung von einigen Stunden erscheint die von der Regierung verbotene Zeitung unter dem Schutze von Truppen des Komitees, das selbst zu verhaften ist. Das eben ist der Aufstand. So kommt er zum Entrollen.

Gleichzeitig wandte sich der Kreuzer Aurora an das Smolny mit der Frage: ins Meer gehen oder in den Newagewässern bleiben? Die Matrosen, die im August das Winterpalais vor Kornilow geschützt hatten, brennen nun darauf, mit Kerenski die Rechnung zu begleichen. Die Regierungsvorschrift wird vom Komitee an Ort und Stelle aufgehoben und das Kommando erhält den Befehl Nr. 1218: „gegen einen eventuellen Überfall auf die Petrograder Garnison seitens der konterrevolutionären Kräfte hat sich der Kreuzer Aurora durch Schlepper, Dampfer und Dampfkutter zu sichern“. Der Kreuzer erfüllt begeistert den Befehl, auf den er nur gewartet hat.

Diese zwei Akte des Widerstandes, angeregt von Arbeitern und Matrosen und dank der Sympathie der Garnison vollkommen reibungslos durchgeführt, wurden zu politischen Ereignissen allerersten Ranges. Die letzten Reste des Machtfetischismus zerfielen zu Staub. „Es wurde auf einmal klar“, sagt ein Teilnehmer des Kampfes, „das die Sache schon beendet ist.“ Wenn auch nicht beendet, so jedenfalls weitaus einfacher, als man am Vorabend dachte.

Der Versuch, die Zeitung zu verbieten, der Haftbefehl gegen das Militärische Revolutionskomitee, die Verfügung über die Entfernung der Kommissare, die Ausschaltung der Smolnytelephone, alle diese Nadelstiche genügen gerade, um die Regierung der Vorbereitung einer konterrevolutionären Umwälzung anzuklagen. Kann auch der Aufstand nur als Angriff siegen, so entfaltet er sich um so erfolgreicher, je mehr er einer Verteidigung gleicht. Ein Stückchen amtlichen Siegellacks an der Türe der bolschewistischen Redaktion – als Kriegsmaßnahme – ist wenig. Aber welch ein vortreffliches Kampfsignal! Ein Fernspruch an alle Bezirke und Garnisonteile gibt Kunde vom Vorfall: „Die Feinde des Volkes sind nachts zum Angriff übergegangen ... Das Militärische Revolutionskomitee leitet die Abwehr des Ansturms der Verschwörer.“ Verschwörer – das sind die Organe der offiziellen Macht. Aus der Feder revolutionärer Verschwörer klingt diese Bezeichnung überraschend. Doch entspricht sie völlig der Situation und dem Empfinden der Massen. Aus allen Positionen verdrängt, gezwungen den Weg der verspäteten Verteidigung zu beschreiten, unfähig, die dafür notwendigen Kräfte zu mobilisieren oder auch nur nachzuprüfen, ob solche vorhanden sind, begeht die Regierung vereinzelte, unüberlegte und nicht miteinander in Einklang gebrachte Handlungen, die sich den Augen der Massen unvermeidlich als bösartige Attentate darstellen. Ein Fernspruch des Komitees ordnet an: „Das Regiment in Kampfbereitschaft bringen und weitere Befehle abwarten.“ Das ist die Stimme der Macht. Die Kommissare des Komitees, die zu entfernen sind, setzen mit doppelter Sicherheit die Entfernung jener fort, die zu entfernen ihnen notwendig erscheint.

Die Aurora auf der Newa bedeutete nicht nur eine vorzügliche Kampfeinheit im Dienste des Aufstandes; sondern war auch gerüstet für die Arbeit einer Radiostation. Ein unschätzbarer Vorzug! Der Matrose Kurkow erinnert sich: „Wir wurden von Trotzki beauftragt, per Radio zu übermitteln ..., daß die Konterrevolution zum Angriff übergegangen sei.“ Die Verteidigungsform der Nachricht verhüllte auch hier den Appell zum Aufstand, der sich nunmehr an das ganze Land wandte. Den Garnisonen, die die Zugänge zu Petrograd schützten, wird durch den Radiosender der Aurora befohlen, die konterrevolutionären Staffeln aufzuhalten und, falls Überredung nicht genügt, Gewalt anzuwenden. Allen revolutionären Organisationen wird zur Pflicht gemacht, „in Permanenz zu tagen und alle Nachrichten und Pläne über Handlungen der Verschwörer in ihren Händen zu konzentrieren“. Mangel an Aufrufen herrschte, wie man sieht, auch auf seiten des Komitees nicht. Doch ging bei ihm das Wort mit der Tat nicht auseinander, sondern kommentierte sie.

Nicht ohne Verspätung geht man an eine ernste Befestigung des Smolny. Beim Verlassen des Gebäudes um 3 Uhr in der Nacht zum 24. fielen John Reed Maschinengewehre an den Eingangstüren und starke Patrouillen auf, die Tor und anliegende Straßenkreuzungen bewachten: die Posten waren schon am Vorabend durch eine Kompanie des Litowsker Regiments und durch eine Maschinengewehrabteilung mit vierundzwanzig Maschinengewehren verstärkt worden. Im Laufe des Tages erfuhr die Wache ununterbrochen Erweiterung. „Im Bezirk des Smolny“, schreibt Schljapnikow, „konnte man bekannte Bilder beobachten, wie in den ersten Tagen der Februarrevolution vor dem Taurischen Palais“: die gleiche Fülle an Soldaten, Arbeitern und Waffen aller Gattungen. Im geräumigen Hof sind gewaltige Holzmassen aufgestapelt, die als sichere Deckung gegen Gewehrfeuer dienen können. Lastautomobile fahren Proviant und Munition heran. „Das ganze Smolny“, erzählt Raskolnikow, „war in ein Kriegslager verwandelt. Draußen vor den Kolonnaden – Kanonen in Stellung. Daneben Maschinengewehre ... Fast auf jedem Treppenabsatz die „Maxims“, Spielzeugkanonen ähnelnd. Und in allen Korridoren ... der schnelle, laute, lustige Schritt von Soldaten und Arbeitern, Matrosen und Agitatoren.“ Suchanow, der nicht ohne Grund die Organisatoren der Umwälzung mangelnder Kriegsumsicht beschuldigt, schreibt: „Erst jetzt, am Tage und am Abend des 24., begannen bewaffnete Abteilungen Rotgardisten und Soldaten im Smolny einzutreffen zum Schutze des Stabes des Aufstandes ... Gegen Abend des 24. begann die Bewachung des Smolny nach etwas auszusehen.“

Diese Frage ist nicht ohne Bedeutung. Im Smolny, aus dem das Versöhnler-Exekutivkomitee sich verstohlen in die Räumlichkeiten des Regierungsstabes zu begeben vermochte, sind jetzt die Spitzen sämtlicher von den Bolschewiki geleiteten revolutionären Organisationen konzentriert. Hier tritt an diesem Tage die Sitzung des Zentralkomitees der Bolschewiki zusammen, um die letzten Entscheidungen vor dem Schlage zu treffen. Es sind elf Mitglieder anwesend. Bei der Sitzung fehlt Sinowjew, der nach dem temperamentvollen Ausdruck Dserschinskis „sich versteckt hält und an der Parteiarbeit keinen Anteil nimmt“. Dagegen ist Kamenjew, Sinowjews Gesinnungsgenosse, sehr aktiv im Stabe des Aufstandes tätig. Der Sitzung ferngeblieben ist Stalin: er erscheint im Smolny überhaupt nicht und verbringt seine Zeit in der Redaktion des Zentralorgans. Die Sitzung findet, wie stets, unter Swerdlows statt. Das offizielle Protokoll ist knapp; vermerkt aber das wichtigste. Zur Ermittlung der führenden Teilnehmer der Umwälzung und der Verteilung der Funktionen unter ihnen ist es unersetzbar.

Es ist darum, im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden Petrograd endgültig zu erobern. Das heißt: von jenen politischen und technischen Institutionen Besitz zu ergreifen, die noch in den Händen der Regierung verblieben sind. Der Sowjetkongreß muß stattfinden unter der Sowjetmacht. Die praktischen Maßnahmen für den Nachtangriff sind ausgearbeitet oder in Ausarbeitung beim Militärischen Revolutionskomitee und der Militärischen Organisation der Bolschewiki. Das Zentralkomitee soll den Schlußstrich ziehen.

Zuallererst wird Kamenjews Antrag angenommen: „Heute darf ohne besondere Verfügung nicht ein Mitglied des Zentralkomitees sich aus dem Smolny entfernen.“ Es wird überdies beschlossen, hier einen Wachtdienst aus Mitgliedern des Petrograder Parteikomitees einzurichten. Das Protokoll lautet weiter: „Trotzki schlägt vor, dem Militärischen Revolutionskomitee zur Anbahnung der Verbindung mit den Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbeamten zwei Mitglieder des Zentralkomitees zur Verfügung zu stellen; ein drittes Mitglied zur Überwachung der Provisorischen Regierung.“ Es wird beschlossen: zum Post- und Telegraphenamt Dserschinski zu delegieren, zur Eisenbahn Bubnow. Anfangs wird, wohl auf Swerdlows Initiative, geplant, mit der Überwachung der Provisorischen Regierung Podwojski zu beauftragen. Das Protokoll vermerkt: „Einwände gegen Podwojski; das Mandat erhält Swerdlow.“ Miljutin, der als Wirtschaftler gilt, wird mit der Ernährungssache betraut. Die Verhandlungen mit den linken Sozialrevolutionären werden Kamenjew zugewiesen, der den Ruf eines geschickten, wenn auch zu nachgiebigen Parlamentärs genießt: selbstverständlich nachgiebig im bolschewistischen Maßstabe. „Trotzki schlägt vor“, lesen wir weiter, „einen Reservestab in der Peter-Paul-Festung einzurichten und zu diesem Zwecke ein Mitglied des Zentralkomitees dorthin zu entsenden.“ Beschlossen wird: „Mit der allgemeinen Überwachung Laschewitsch und Blagonrawow, mit der Aufrechterhaltung einer ständigen Verbindung mit der Festung Swerdlow zu betrauen.“ Außerdem: „Allen Mitgliedern des Zentralkomitees Passierscheine für die Festung auszustellen.“

Auf der Parteilinie liefen alle Fäden in Swerdlows Händen zusammen, der die bolschewistischen Kader kannte wie keiner. Er verband das Smolny mit dem Parteiapparat, versorgte das Militärische Revolutionskomitee mit den notwendigen Mitarbeitern und wurde dorthin in allen kritischen Momenten zur Beratung gerufen. Da das Komitee eine zu breite, teilweise fluktuierende Zusammensetzung hatte, so wurden die Maßnahmen konspirativerer Art durch die Spitze der Militärischen Organisation der Bolschewiki oder durch Swerdlow erledigt, der der inoffizielle, aber um so wirklichere „Generalsekretär“ der Oktoberumwälzung war.

Die in diesen Tagen zum Sowjetkongreß eintreffenden bolschewistischen Delegierten gerieten zuallererst in Swerdlows Hände und blieben nicht eine überflüssige Stunde ohne Arbeit. Am 24. zählte man in Petrograd bereits zwei–, dreihundert Provinzdelegierte, und die Mehrzahl davon wurde auf die eine oder andere Weise in die Mechanik des Aufstandes eingefügt. Um 2 Uhr mittags versammelten sie sich im Smolny zu einer Fraktionssitzung, um einen Berichterstatter vom Zentralkomitee der Partei anzuhören. Unter ihnen waren Schwankende, die, wie Sinowjew und Kamenjew, eine abwartende Politik vorgezogen haben würden; und auch einfach nicht genügend zuverlässige Rekruten. Von einer Darstellung des Aufstandsplanes vor der Fraktion konnte nicht die Rede sein: was in einer großen, wenn auch geschlossenen Versammlung gesprochen wird, wird unvermeidlich nach außen getragen. Man darf noch nicht einmal die Defensivhülle des Angriffes zerreißen und beiseitewerfen, ohne zu riskieren, im Bewußtsein einzelner Garnisonteile Verwirrung zu stiften. Doch muß man gleichzeitig zu verstehen geben, daß der Entscheidungskampf bereits begonnen und dem Kongreß lediglich verbleibt ihn zu krönen.

Mit Berufung auf die kürzlich erschienenen Artikel von Lenin beweist Trotzki, daß „eine Verschwörung den Prinzipien des Marxismus nicht widerspricht“, wenn die objektiven Verhältnisse einen Aufstand möglich und unvermeidlich machen. „Die physische Barriere auf dem Wege zur Macht muß man durch einen Schlag überwinden“ ... Jedoch ging bis jetzt die Politik des Militärischen Revolutionskomitees über den Rahmen der Defensive noch nicht hinaus. Natürlich will diese Defensive recht weit gefaßt sein. Die Sicherung des Erscheinens der bolschewistischen Presse mit Hilfe einer bewaffneten Macht oder das Zurückhalten der Aurora in der Newa – „Ist das Verteidigung, Genossen?“ – „Das ist Verteidigung!“ Wenn es der Regierung einfallen sollte, uns zu verhaften, so sind für diesen Fall auf dem Dache des Smolny Maschinengewehre aufgestellt. „Auch das ist Verteidigung, Genossen.“ Und was soll mit der Provisorischen Regierung werden? lautet eine schriftliche Anfrage. „Sollte Kerenski versuchen, sich dem Sowjetkongreß nicht zu unterwerfen“, antwortete der Referent, „so würde der Widerstand der Regierung „eine polizeiliche und nicht eine politische Frage“ schaffen.“ Im Wesen war dem beinahe so.

In diesem Augenblick wird Trotzki hinausgerufen zur Aussprache mit einer soeben eingetroffenen Deputation der Stadtduma. In der Hauptstadt herrscht allerdings vorderhand Ruhe, doch sind beunruhigende Gerüchte im Umlauf. Das Stadtoberhaupt stellt Fragen. – Beabsichtigt der Sowjet einen Aufstand zu machen? Und was soll mit der Ordnung in der Stadt werden? Und was wird dabei mit der Duma geschehen, wenn sie die Umwälzung nicht anerkennt? Diese ehrenwerten Herren möchten gar zuviel wissen. Die Frage der Macht, lautet die Antwort, unterliegt der Entscheidung des Sowjetkongresses. Ob es zum bewaffneten Kampf kommen wird, „hängt nicht so sehr von den Sowjets wie von jenen ab, die entgegen dem einmütigen Willen des Volkes die Staatsmacht in ihren Händen festhalten“. Sollte der Kongreß die Macht von sich weisen, so wird der Petrograder Sowjet sich dem unterwerfen. Doch die Regierung selbst sucht offensichtlich einen Zusammenstoß. Ein Haftbefehl gegen das Militärische Revolutionskomitee ist erlassen. Darauf können die Arbeiter und Soldaten nur mit erbittertstem Widerstand antworten. Plünderungen und Gewaltakte von Verbrecherbanden? Der heute erlassene Befehl des Komitees lautet: „Beim ersten Versuch dunkler Elemente, in den Petrograder Straßen Wirren, Plünderungen, Messerstechereien oder Schießereien hervorzurufen, werden die Verbrecher vom Antlitz der Erde ausgetilgt werden.“ Hinsichtlich der Stadtduma würde sich im Falle eines Konfliktes die konstitutionelle Methode anwenden lassen: Auflösung und Neuwahlen. Die Delegation ging unbefriedigt davon. Aber worauf hatte sie eigentlich gerechnet?

Der offizielle Besuch der Stadtväter im Lager der Meuterer war eine allzu offene Ohnmachtsdemonstration der Regierung. „Vergeßt nicht, Genossen“, sagte Trotzki, zur bolschewistischen Fraktion zurückgekehrt, „daß noch vor wenigen Wochen, als wir die Mehrheit erhielten, wir nur eine Firma waren – ohne Druckerei, ohne Kasse, ohne Filialen –, und jetzt kommt eine Deputation der Stadtduma zum verhafteten Militärischen Revolutionskomitee, sich über das Geschick von Stadt und Staat zu erkundigen.“

Die Peter-Paul-Festung, politisch erst gestern erobert, trifft heute ihre Rüstungen. Das Maschinengewehrkommando, der revolutionärste Truppenteil, wird in Kampfform gebracht. Es geht ein eifriges Putzen der Colt-Maschinengewehre: es sind ihrer achtzig Stück. Zur Kontrolle des Kais und der Troizki-Brücke werden Maschinengewehre auf der Festungsmauer aufgestellt. Vor dem Tor bezieht eine verstärkte Wache Posten. In die Umgegend sind Patrouillen ausgeschickt. Doch im Fieber der Morgenstunden erweist sieh, daß im Innern der Festung selbst die Lage noch nicht als völlig gesichert betrachtet werden kann. Unklarheit wird von einem Radfahrerbataillon hineingetragen. Gleich den aus wohlhabenden und reichen Bauern rekrutierten Kavalleristen stellen die Radfahrer, gebildet aus den bürgerlichen Zwischenschichten, die konservativsten Teile der Armee dar. Ein Thema für idealistische Psychologen: Es genügt dem Menschen, zumindest in einem so armen Lande wie Rußland, sich zum Unterschiede von den anderen auf zwei Rädern mit Übersetzung zu fühlen – und sein Stolz beginnt sich zu blähen wie seine Radreifen. In Amerika ist für einen solchen Effekt schon ein Automobil nötig.

Zur Unterdrückung der Julibewegung herbeigeholt, war das Bataillon seinerzeit eifrig um die Einnahme des Kschessinskaja-Palais bemüht gewesen und dann als besonders zuverlässiger Truppenteil in der Peter-Paul-Festung untergebracht worden. Am gestrigen Meeting, welches über das Schicksal der Festung entschied, hatten, wie sieh herausstellte, die Radler nicht teilgenommen: die Disziplin im Bataillon war noch so weit erhalten, daß es den Offizieren gelang, die Soldaten vom Hinausgehen in den Festungshof abzuhalten. Auf die Radfahrer rechnend, trägt der Festungskommandant den Kopf hoch, spricht häufig telephonisch mit Kerenskis Stab und plant scheinbar, sogar den Kommissar des Militärischen Revolutionskomitees zu verhaften. Man darf diese ungeklärte Lage nicht eine Minute länger dulden! Auf Befehl aus dem Smolny schneidet Blagonrawow dem Gegner den Weg ab: über den Kommandanten wird Hausarrest verhängt, die Telephonapparate werden in allen Offizierswohnungen abgenommen. Aus dem Regierungsstab fragt man erregt an, weshalb der Kommandant verstummt sei und was denn überhaupt in der Festung vor sich gehe. Blagonrawow meldet ehrerbietig durch durch das Telephon, die Festung komme von nun an nur noch den Befehlen des Militärischen Revolutionskomitees nach, an das sich die Regierung fernerhin auch wenden müsse.

Alle Truppenteile der Festungsgarnison nehmen die Verhaftung des Kommandanten mit voller Befriedigung auf. Doch die Radler verhalten sich ausweichend. Was steckt hinter ihrem düsteren Schweigen: lauernde Feindseligkeit oder letztes Schwanken? „Wir beschließen, ein Sondermeeting für die Radler zu veranstalten“, schreibt Blagonrawow, „und dazu unsere besten agitatorischen Kräfte einzuladen, in erster Linie Trotzki, der riesige Autorität und Einfluß bei den Soldatenmassen genießt.“ Gegen 4 Uhr nachmittags versammelte sich das ganze Bataillon im Gebäude des benachbarten Zirkus Modern. Als Sprecher der Regierung trat Generalquartiermeister Poradelow auf der als Sozialrevolutionär galt. Seine Einwände waren derart vorsichtig, daß sie zweideutig klangen. Um so vernichtender griffen die Vertreter des Komitees an. Die letzte oratorische Schlacht um die Peter-Paul-Festung endete, wie zu erwarten war: mit allen Stimmen gegen dreißig hieß das Bataillon Trotzkis Resolution gut. Wieder war einer der möglichen bewaffneten Konflikte vor dem Kampfe und ohne Blut entschieden worden. Das eben ist der Oktoberaufstand. Dieses sein Stil.

Auf die Festung konnte man sich von nun an mit ruhiger Sicherheit verlassen. Aus dem Arsenal wurden ohne alle Hindernisse Waffen geliefert. Im Smolny, im Zimmer der Fabrikkomitees, standen Betriebsdelegierte Schlange, um Waffenanweisungen zu erhalten. Die Hauptstadt hatte in den Kriegsjahren viele Schlangen gesehen: jetzt entstanden die ersten um Gewehre. Aus allen Bezirken strömten Lastautos zum Arsenal. „Die Peter-Paul-Festung war nicht wiederzuerkennen“, schreibt der Arbeiter Skorinko, „ihre gepriesene Stille war vom Automobilkeuchen, Wagenknarren, Schreien gestört. An den Lagern herrschte besonderes Gedränge ... Hier führte man an uns auch die ersten Gefangenen vorbei Offiziere und Junker.“ An diesem Tage erhielt Gewehre das 180. Infanterieregiment, entwaffnet wegen aktiver Teilnahme am Juliaufstande.

Die Folgen des Meetings im Zirkus Modern äußerten sich auch auf der Gegenseite: die Radfahrer, die seit dem Monat Juli das Winterpalais zu schützen hatten, verließen eigenmächtig die Posten und erklärten, die Regierung nicht mehr schützen zu wollen. Das war ein ernster Schlag. Die Radfahrer mußten durch Junker ersetzt werden. Militärische Stütze der Regierung blieben immer mehr die Offiziersschulen. Das engte nicht nur die Ordnungsarmee äußerst ein, sondern enthüllte auch restlos deren sozialen Bestand.

Die Arbeiter der Putilow-Werk, und nicht sie allein, schlugen dem Smolny vor, an die schnellste Entwaffnung der Junkerschulen zu gehen. Wäre diese Maßnahme nach sorgfältiger Vorbereitung und Verständigung mit den Bedienungskommandos der Schulen in der Nacht zum 25. durchgeführt worden, die Einnahme des Winterpalais am nächsten Tag hätte keine Schwierigkeiten bereitet. Wären die Junker wenigstens in der Nacht zum 26. entwaffnet worden, nach Einnahme des Winterpalais, der Versuch des Gegenaufstandes am 29. Oktober wäre nicht erfolgt. Aber die Leiter zeigten noch in vielen Dingen „Großmut“, in Wirklichkeit Überfluß an optimistischer Sicherheit, und horchten nicht immer mit genügender Aufmerksamkeit der nüchternen Stimme von unten: Lenins Abwesenheit äußerte sich auch darin. Die Folgen der Versäumnisse und Fehler mußten die Massen wettmachen, mit unnötigen Opfern auf beiden Seiten. Im ernsten Kampfe gibt es keine schlimmere Grausamkeit als unzeitgemäße „Großmut“!

In der Tagessitzung des Vorparlaments sang Kerenski seinen Schwanengesang. In der letzten Zeit befände sich die Bevölkerung Rußlands, besonders der Hauptstadt, in Alarm: „Appelle zum Aufstand werden täglich in den Zeitungen der Bolschewiki gedruckt.“ Der Redner zitierte die Artikel des steckbrieflich verfolgten Staatsverbrechers Wladimir Uljanow-Lenin. Die Zitate sprachen deutlich und bewiesen unwiderlegbar, daß die obengenannte Person zum Aufstand rief. Und in welcher Situation? In dem Augenblicke, wo die Regierung über die Frage der Übergabe des Bodens in die Hände der Bauernkomitees und über Maßnahmen zur Beendigung des Krieges diskutiert. Die hätten bisher mit der Niederschlagung der Verschwörer gezögert, um diesen die Möglichkeit zu geben, ihre Fehler selbst gutzumachen. „Das eben ist das Schlimme“, tönt es aus dem Sektor, den Miljukow anführt. Doch Kerenski kommt nicht aus der Fassung: „Ich ziehe im allgemeinen vor, daß die Regierungsmacht langsamer, dafür aber zuverlässiger und im erforderlichen Augenblick entschiedener vorgeht.“ Solche Worte klingen seltsam aus diesem Munde! Jedenfalls seien „gegenwärtig alle Fristen überschritten“, die Bolschewiki hätten nicht nur nicht Buße getan, sondern zwei Kompanien angefordert und eigenmächtige Verteilung von Waffen und Patronen vorgenommen. Die Regierung beabsichtige diesmal, den Exzessen des Pöbels ein Ende zu bereiten. „Ich sage mit vollem Bewußtsein: Pöbel.“ Rechts nimmt man die Beleidigung an die Adresse des Volkes mit stürmischem Applaus auf. Er, Kerenski, habe bereits befohlen, notwendig gewordene Verhaftungen vorzunehmen. „Besonders beachtenswert sind die Reden des Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, Bronstein-Trotzkis.“ Man möge wissen: die Regierung habe Kräfte mehr als genug; von der Front kämen dauernd Forderungen nach entschiedenen Maßnahmen gegen die Bolschewiki. In diesem Augenblick überreicht Konowalow dem Redner ein Funktelegramm des Militärischen Revolutionskomitees an die Garnisontruppen: „Das Regiment in volle Kampfbereitschaft bringen und weitere Befehle abwarten.“ Kerenski schließt feierlich: „In der Sprache des Gesetzes und der Justiz wird dies als Aufstand bezeichnet.“ Miljukow bezeugt: „Kerenski brachte diese Worte im zufriedenen Tone eines Advokaten hervor, dem es endlich gelang, seinen Gegner zu überführen.“ „Jene Gruppen und Parteien, die es gewagt haben, die Hand gegen den Staat zu erheben, werden wir unverzüglich und restlos liquidieren.“ Der ganze Saal mit Ausnahme des linken Teiles applaudiert demonstrativ. Die Rede schließt mit der Forderung: noch heute, in dieser Sitzung, Antwort zu geben, kann die Regierung bei „Erfüllung ihrer Pflicht mit Sicherheit auf die Unterstützung dieser hohen Versammlung rechnen“?

Ohne erst die Abstimmung abzuwarten, kehrte Kerenski in den Stab zurück, nach seinen eigenen Worten überzeugt, daß noch keine Stunde verstreichen dürfte, bis er den ihm – unbekannt wofür – erforderlichen Beschluß erhalten würde. Es kam jedoch anders. Von zwei bis sechs Uhr abends gingen im Mariinski-Palais fraktionelle und interfraktionelle Beratungen über den Text der Übergangsformel: die Teilnehmer hatten noch nicht begriffen, daß es um einen Übergang ins Nichts ging. Keine der Versöhnlergruppen wollte sich mit der Regierung identifizieren. Dan sagte: „Wir Menschewiki sind bereit, bis zum letzten Blutstropfen die Provisorische Regierung zu verteidigen; doch muß sie der Demokratie die Möglichkeit geben, sich um sie zusammenzuschließen.“ Gegen Abend einigten sich die zersplitterten, demoralisierten, vom Suchen nach einem Ausweg erschöpften linken Fraktionen des Vorparlaments auf eine von Dan bei Martow entlehnte Formel, die die Verantwortung für den Aufstand nicht nur den Bolschewiki, sondern auch der Regierung zuschob, sofortige Übergabe des Grund und Bodens zur Verwaltung an die Landkomitees, Schritte bei den Alliierten zugunsten von Friedensverhandlungen und so weiter forderte. So suchten die Apostel der Mäßigkeit in letzter Minute Losungen nachzuäffen, die sie gestern noch als Demagogie und Abenteurertum gebrandmarkt hatten. Bedingungslose Unterstützung der Regierung versprachen außer den Genossenschaftlern nur Kadetten und Kosaken; zwei Gruppen, die die Absicht hatten, Kerenski bei der ersten Gelegenheit zu stürzen. Sie blieben aber in der Minderheit. Die Unterstützung des Vorparlaments hätte der Regierung zwar auch nicht viel einbringen können. Dennoch hat Miljukow recht: die Verweigerung dieser Unterstützung nahm der Regierung die letzten Reste von Autorität. War doch die Zusammensetzung des Vorparlaments wenige Wochen zuvor von der Regierung selbst festgelegt worden!

Während im Mariinski-Palais eine rettende Formel gesucht wurde, trat im Smolny der Petrograder Sowjet zusammen, um sich über die Ereignisse zu informieren. Der Berichterstatter findet für nötig, auch hier daran zu erinnern, daß das Militärische Revolutionskomitee entstanden sei „nicht als Organ des Aufstandes, sondern auf dem Boden der Selbstverteidigung der Revolution“. Das Komitee habe Kerenski an der Entfernung der revolutionären Truppen aus Petrograd gehindert und die Arbeiterpresse unter seinen Schutz genommen. „Ist das ein Aufstand?“ Die Aurora steht heute dort, wo sie gestern nacht war. „Ist das ein Aufstand?“ – „Bei uns besteht eine Scheinmacht, der das Volk nicht vertraut und die sich selbst nicht vertraut, denn sie ist innerlich tot. Diese Scheinmacht wartet darauf, vom historischen Besen hinweggefegt zu werden und den Platz zu räumen für die wahre Macht des revolutionären Volkes.“ Morgen werde der Sowjetkongreß eröffnet. Pflicht der Garnison und der Arbeiter sei, dem Kongreß ihre ganze Kraft zur Verfügung zu stellen. „Wenn die Regierung aber versuchen sollte, die vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden, die ihr geblieben sind, zu benutzen, um der Revolution das Messer in den Rücken zu stoßen, so erklären wir aufs neue: die vordersten Reihen der Revolution werden Schlag mit Schlag und Eisen mit Stahl parieren.“ Diese offene Drohung ist gleichzeitig die politische Deckung des in der Nacht bevorstehenden Schlages. Trotzki teilt zum Schluß mit, daß die Vorparlamentsfraktion der linken Sozialrevolutionäre nach dem heutigen Auftreten Kerenskis und dem Mäusetreiben der Versöhnlerfraktionen eine Delegation in das Smolny entsandt und ihre Bereitschaft ausgesprochen habe, offiziell in das Militärische Revolutionskomitee einzutreten. In der Wendung der linken Sozialrevolutionäre begrüßte der Sowjet freudig die Widerspiegelung tieferer Prozesse: den wachsenden Schwung des Bauernkrieges und den erfolgreichen Verlauf des Petrograder Aufstandes.

Den Bericht des Petrograder Sowjetvorsitzenden kommentierend, schreibt Miljukow: „Dies war auch wahrscheinlich Trotzkis ursprünglicher Plan: Nach getroffenen Kampfvorbereitungen die Regierung von Angesicht zu Angesicht zu stellen mit dem „einmütigen Willen des Volks“, zum Ausdruck gebracht durch den Sowjetkongreß, um so der neuen Macht den Anschein legalen Ursprungs zu verleihen. Doch die Regierung erwies sich schwächer, als er erwartet hatte. Und die Macht fiel ihm von selbst in die Hände, bevor der Kongreß sich versammeln und äußern konnte.“ An diesen Worten ist zutreffend, daß die Schwäche der Regierung alle Erwartungen übertraf Doch bestand der Plan von Anfang an darin, die Macht vor Eröffnung des Kongresses zu ergreifen. Miljukow gibt dies übrigens in einem anderen Zusammenhange selbst zu. „Die wirklichen Absichten der Aufstandführer“, schreibt er, „gingen viel weiter als diese offiziellen Erklärungen Trotzkis ... Der Sowjetkongreß sollte vor eine vollendete Tatsache gestellt werden.“

Der rein militärische Plan bestand ursprünglich darin, die baltischen Seeleute mit den bewaffneten Wyborger Arbeitern zu vereinigen: die Matrosen sollten mit der Eisenbahn kommen und auf dem Finnländischen Bahnhof, der im Wyborger Bezirk liegt, aussteigen. Von diesem Sammelpunkt aus sollte sich der Aufstand durch Hinzukommen weiterer Abteilungen der Roten Garde und Truppen der Garnison auf andere Bezirke ausbreiten, um nach Besetzung der Brücken ins Zentrum einzudringen und den endgültigen Schlag zu führen. Dieser sich naturgemäß aus der Lage ergebende und offenbar von Antonow ausgearbeitete Plan beruhte auf der Vermutung, der Gegner könnte noch bedeutenden Widerstand leisten. Doch diese Voraussetzung wurde bald hinfällig: Von einem beschränkten Sammelpunkt aus vorzugehen, bestand keine Notwendigkeit; die Regierung erwies sich überall, wo die Aufständischen es für nötig erachteten, gegen sie einen Schlag zu führen, als völlig ungeschützt. Der strategische Plan erfuhr Veränderungen auch in bezug auf die Fristen, und zwar in zweierlei Richtung: Der Aufstand brach früher aus und endete später, als vorausgesehen war. Der Anschlag der Regierung vom Morgen rief sofortige Widerstandsmaßnahmen defensiver Art seitens des Militärischen Revolutionskomitees hervor. Die dabei offenbar gewordene Ohnmacht der Behörden stieß den Smolny schon im Laufe des Tages zu Offensivmaßnahmen, die allerdings einen unfertigen, halbmaskierten, vorbereitenden Charakter trugen. Der Hauptschlag sollte nach wie vor nachts geführt werden: in diesem Sinne blieb der Plan in Kraft. Er wurde jedoch im Verlaufe der Durchführung umgestoßen, nunmehr aber in entgegengesetzter Richtung. Für die Nacht war die Einnahme aller Kommandohöhen vorgesehen, in erster Linie des Winterpalais, wo sich die Zentralmacht verborgen hielt. Aber die Zeiteinteilung ist bei einem Aufstande noch schwieriger als im regulären Krieg. Die Leiter hatten sich mit dem Zusammenziehen der Kräfte um viele Stunden verspätet, und die Operationen gegen das Winterpalais, die in der Nacht nicht einmal eingeleitet werden konnten, bildeten ein besonderes Kapitel der Umwälzung, das erst in der Nacht auf den 26., das heißt mit einer Verspätung um volle vierundzwanzig Stunden, seinen Abschluß fand. Ohne ernste Versager ist auch der glänzendste Sieg nicht zu erringen!

Nach Kerenskis Auftreten im Vorparlament versuchten die Behörden, ihre Offensive auszudehnen. Junkerabteilungen besetzten die Bahnhöfe. An großen Straßenkreuzungen sind Wachtposten aufgestellt mit der Weisung, die dem Staate nicht abgelieferten Privatautos zu requirieren. Gegen 3 Uhr nachmittags wurden die Brücken auseinandergenommen, mit Ausnahme der Schloßbrücke, die unter starker Bewachung von Junkern für den Verkehr frei blieb. Diese Maßnahme, von der Monarchie bei allen Unruhen angewandt, zuletzt in den Februartagen, war von der Angst vor den Arbeiterbezirken diktiert. Das Auseinandernehmen der Brücken bildete in den Augen der Bevölkerung gleichsam die offizielle Bestätigung dessen, daß der Aufstand begonnen habe. Die Stäbe der interessierten Bezirke beantworteten den Kriegsakt der Regierung sogleich auf ihre Art durch Entsendung bewaffneter Abteilungen zu den Brücken. Dem Smolny blieb nur übrig, diese Initiative zu unterstützen. Der Kampf um die Brücken hatte für beide Parteien den Charakter einer Kräfteprüfung. Bewaffnete Arbeiter- und Soldatentrupps drängten bald mit Zureden, bald mit Drohungen gegen Junker und Kosaken an. Die Wachen traten schließlich ab, ohne einen direkten Zusammenstoß zu wagen. Einige Brücken wurden mehrere Male hintereinander geöffnet und geschlossen.

Die Aurora erhielt unmittelbar vom Militärischen Revolutionskomitee Befehl: „Mit allen euch zur Verfügung stehenden Mitteln den Verkehr auf der Nikolajewski-Brücke wiederherstellen.“ Der Kommandant des Kreuzers versuchte, die Ausführung des Befehls hintanzuhalten, doch nachdem gegen ihn und sämtliche Offiziere symbolische Verhaftung angewandt worden war, übernahm er gehorsamst den Befehl über das Schiff. An beiden Ufern rückten Ketten von Matrosen vor. Ehe noch die Aurora vor der Brücke Anker werfen konnte, erzählt Kurkow, war von den Junkern jede Spur verschwunden. Die Matrosen schlossen die Brücke und stellten Posten. Nur die Schloßbrücke verblieb noch einige Stunden in den Händen der Regierungswachen.

Trotz dem offensichtlichen Mißlingen der ersten Aktionen versuchten einzelne Regierungsorgane auch weiterhin ihre Schläge zu führen. Eine Milizabteilung erschien abends in einer großen Privatdruckerei, um die Zeitung des Petrograder Sowjets, Arbeiter und Soldat, zu beschlagnahmen. Zwölf Stunden vorher waren die Arbeiter der bolschewistischen Druckerei aus dem gleichen Anlaß um Hilfe in das Smolny geeilt; nun ist dies nicht mehr nötig. Gemeinsam mit zwei zufällig anwesenden Matrosen nahmen die Druckereiarbeiter das mit Zeitungen beladene Automobil weg, wobei sich ihnen sogleich ein Teil der Milizionäre anschloß. Der Inspektor der Miliz floh. Die entrissenen Zeitungen wurden wohlbehalten im Smolny abgeliefert. Das Militärische Revolutionskomitee sandte zwei Kolonnen des Preobraschensker Regiments zum Schutze. Die erschrockene Administration übergab die Leitung der Druckerei sogleich dem Rat der Arbeiterältesten.

Zwecks Vornahme von Verhaftungen in das Smolny einzudringen, kam den Justizbehörden nicht einmal in den Sinn: es war zu offensichtlich, daß dies das Signal zum Bürgerkriege bedeutet hätte mit einer im voraus sicheren Niederlage der Regierung. Dafür aber wurde im Wege administrativer Konvulsion im Wyborger Bezirk, wo auch in besseren Tagen die Behörden es tunlichst vermieden, sich zu zeigen, der Versuch unternommen, Lenin zu verhaften. Spät abends drang irgendein Oberst mit einem Dutzend Junker statt in die bolschewistische Redaktion irrtümlich in einen Arbeiterklub ein, der sich in demselben Hause befand: die Kämpen vermuteten aus irgendeinem Grunde, daß Lenin in der Redaktion auf sie warte. Vom Klub aus informierte man unverzüglich den Bezirksstab der Roten Garde. Während der Oberst durch verschiedene Etagen irrte, sogar zu den Menschewiki geriet, trafen Rotgardisten ein, verhafteten ihn zusammen mit den Junkern, brachten ihn zum Wyborger Bezirksstab und von dort in die Peter-Paul-Festung. So stieß der mit Donnerstimme angekündigte Feldzug gegen die Bolschewiki bei jedem Schritt auf unüberwindliche Schwierigkeiten, verwandelte sich in zusammenhanglose Überfälle und kleine Anekdoten, verflog und verdampfte in Nichts.

Das Militärische Revolutionskomitee arbeitete indessen unablässig. Bei den Truppenteilen hielten Kommissare Wache. Der Bevölkerung wurde durch besonderen Aufruf bekanntgegeben, an wen sie sich im Falle konterrevolutionärer oder pogromistischer Anschläge zu wenden habe: „Hilfe wird unverzüglich geleistet werden.“ Es genügt ein nachdrücklicher Besuch des Kommissars des Kexholmer Regiments im Telephonamt, damit die Apparate des Smolny wieder angeschlossen waren. Die Telephonverbindung, die schnellste von allen, verlieh den sich entwickelnden Sicherheit und Planmäßigkeit.

Indem es seine Kommissare in jene Ämter entsandte, die noch nicht unter seiner Kontrolle standen, erweiterte und festigte das Militärische Revolutionskomitee die Ausgangspositionen für den bevorstehenden Angriff. Am Tage händigte Dserschinski dem alten Revolutionär Pestkowski einen Papierfetzen aus, der ein Mandat auf den Posten eines Kommissars des Haupttelegraphenamtes darstellen sollte. – „Wie das Telegraphenamt besetzen?“ fragte nicht ohne Staunen der neue Kommissar. – „Dort hält das Kexholmer Regiment Wache, das auf unserer Seite ist!“ Weiterer Erklärungen bedurfte Pestkowski nicht. Es haben zwei mit Gewehren versehene Kexholmer am Stromschalter genügt, um ein zeitweiliges Kompromiß mit den feindlichen Telegraphenbeamten, unter denen es nicht einen Bolschewik gab, zu erreichen.

Um 9 Uhr abends besetzte ein anderer Kommissar des Militärischen Revolutionskomitees, Stark, mit einer kleinen Abteilung Seeleute unter dem Kommando des Matrosen Sawin, eines früheren Emigranten, die amtliche Telegraphenagentur, was nicht nur das Schicksal der Institution selbst, sondern bis zu einem gewissen Grade auch sein eigenes bestimmte: Stark war erster Sowjetdirektor der Agentur, bevor er Sowjetgesandter in Afghanistan wurde.

Stellten diese zwei bescheidenen Operationen Akte des Aufstandes dar oder nur Episoden der Doppelherrschaft, allerdings von dem versöhnlerischen auf das bolschewistische Geleise umgeleitet? Die Frage kann begründeterweise kasuistisch erscheinen. Aber für die Tarnung des Aufstandes hatte sie immer noch gewisse Bedeutung. Tatsache ist, daß sogar das Eindringen der bewaffneten Matrosen noch den Charakter der Halbheit trug: formell handelte es sich vorläufig nicht um die Besetzung des Amtes, sondern nur um die Errichtung einer Telegrammzensur. Somit wurde bis zum Abend des 24. die Nabelschnur der „Legalität“ nicht endgültig durchschnitten, die Bewegung deckte sich noch immer mit den Resten der Doppelherrschaftstradition.

Bei der Ausarbeitung der Aufstandspläne hatte das Smolny große Hoffnung auf die baltischen Seeleute gesetzt als eine Kampfabteilung, bei der sich proletarische Entschlossenheit mit solider militärischer Ausbildung verband. Das Eintreffen der Matrosen in Petrograd war im voraus dem Sowjetkongreß angepaßt. Ein früheres Herbeirufen der baltischen Seeleute hätte bedeutet, offen den Weg des Aufstands zu beschreiten. Daraus erwuchs eine Schwierigkeit, die zur Verspätung führte.

Im Smolny trafen im Laufe des 24. zwei Delegierte des Kronstädter Sowjets zum Kongreß ein: der Bolschewik Flerowski und der Anarchist Jartschuk, der mit den Bolschewiki ging. In einem Zimmer des Smolny stießen sie mit Tschudnowski zusammen, der eben von der Front gekommen war und sich unter Berufung auf die Soldatenstimmungen gegen einen Aufstand in der nächsten Periode aussprach. „Beim heftigsten Streit“, erzählt Flerowski, „betrat das Zimmer Trotzki ... Er rief mich beiseite und empfahl mir, unverzüglich nach Kronstadt zurückzukehren: „die Ereignisse reifen so schnell, daß jeder auf seinem Platze sein muß“ ... In der kurzen Weisung empfand ich scharf die Disziplin des heranrückenden Aufstandes.“ Der Streit brach ab. Der empfängliche und leidenschaftliche Tschudnowski stellte seine Zweifel zurück, um an der Ausarbeitung der Kriegspläne teilzunehmen. Flerowski und Jartschuk eilte ein Funkspruch hinterher: „Mit den bewaffneten Kräften Kronstadts beim Morgengrauen zur Verteidigung des Sowjetkongresses ausrücken.“

Durch Swerdlow sandte das Militärische Revolutionskomitee in der Nacht ein Telegramm nach Helsingfors an Smilga, den Vorsitzenden des Distriktkomitees der Sowjets in Finnland: „Schicke Statuten.“ Das bedeutete: schicke sofort tausendfünfhundert ausgewählte baltische Matrosen bis an die Zähne bewaffnet. Wenn auch die baltischen Matrosen erst im Laufe des nächsten Tages eintreffen können, so besteht dennoch keine Ursache, die Kampfhandlungen aufzuschieben: es gibt genügend lokale Kräfte, – auch besteht dazu nicht die Möglichkeit: die Operationen sind bereits in vollem Gange. Sollten der Regierung von der Front Verstärkungen zu Hilfe kommen, so werden die Seeleute früh genug da sein, um sie von der Flanke oder im Rücken anzugreifen.

Die taktische Ausarbeitung des Schemas der Eroberung der Hauptstadt ist vorwiegend das Werk der Militärischen Organisation der Bolschewiki. Generalstabsoffiziere würden an dem Plane der Profanen viele Lücken entdecken. Doch pflegen Militärakademiker nicht teilzunehmen an der Vorbereitung eines revolutionären Aufstandes. Das Allernotwendigste ist jedenfalls vorgesehen. Die Stadt ist in Kampfreviere eingeteilt, die den nächsten Stäben unterstellt sind. An den wichtigsten Punkten sind Mannschaften der Roten Garde zusammengezogen und in Verbindung gebracht mit den benachbarten Truppenteilen, wo Wachtkompanien in Bereitschaft liegen. Die Ziele jeder einzelnen Operation und die Kräfte dafür sind im voraus festgelegt. Alle Teilnehmer des Aufstandes, von oben bis unten – darin liegt seine Macht, darin aber in gewissen Augenblicken auch seine Achillesferse –, sind von der Überzeugung durchdrungen, der Sieg werde ohne Opfer errungen werden.

Die Hauptoperationen begannen gegen 2 Uhr nachts. Mit kleineren militärischen Gruppen, in der Regel mit einem Kern aus bewaffneten Arbeitern oder Matrosen unter Leitung von Kommissaren, wurden gleichzeitig oder nacheinander Bahnhöfe, Elektrizitätszentrale, Militär- und Proviantlager, Wasserleitung, Schloßbrücke, Telephonzentrale, Staatsbank, die großen Druckereien besetzt, Telegraph und Post gesichert, überall zuverlässige Wachen aufgestellt.

Dürftig und farblos sind die Berichte über die Episoden der Oktobernacht: sie gleichen einem Polizeiprotokoll. Alle Kampfteilnehmer schüttelt Nervenfieber. Es ist niemand da und es is keine Zeit für Beobachtungen und Aufzeichnungen. Die bei den Stäben einlaufenden Informationen werden nicht oder nur nachlässig zu Papier gebracht, auch gehen die Notizen verloren. Die nachträglichen Erinnerungen sind trocken und nicht immer genau, da sie meist von zufälligen Teilnehmern und Beobachtern stammen. Jene Arbeiter, Matrosen und Soldaten aber, die die wirklichen Inspiratoren und Leiter der Operationen zur Einnahme der Hauptstadt waren, gelangten bald an die Spitze der ersten Abteilungen der Roten Armee und ließen in den meisten Fällen bald ihr Leben auf den verschiedenen Schauplätzen des Bürgerkrieges. Bei der Ermittlung des Charakters und der Aufeinanderfolge der einzelnen Episoden stößt der Forscher auf große Verworrenheiten, die die Zeitungsberichte nur noch komplizierter gestalten. Es scheint mitunter, daß im Herbst 1917 Petrograd zu erobern leichter war, als vierzehn Jahre später diesen Prozeß zu rekonstruieren.

Die erste Kompanie des Pionierbataillons, die festeste und revolutionärste, wurde mit der Einnahme des benachbarten Nikolajewski-Bahnhofs betraut. Schon nach einer Viertelstunde war der Bahnhof ohne einen Schuß mit starken Wachen besetzt: die regierungstreuen Posten hatten sich einfach in die Dunkelheit verflüchtigt. Voll verdächtigen Lärms und geheimnisvoller Bewegung ist die kalte durchdringende Nacht. Die scharfe Unruhe in ihrem Herzen unterdrückend, halten Soldaten gewissenhaft Vorbeigehende und Vorbeifahrende an, um sorgfältig deren Papiere zu prüfen. Nicht immer wissen sie, wie zu verfahren, schwanken, – lassen meistens vorbei. Doch mit jeder Stunde steigt die Sicherheit. Gegen 6 Uhr morgens halten die Pioniere zwei Kraftwagen mit Junkern an, etwa sechzig Mann, entwaffnen sie und bringen sie in das Smolny.

Das gleiche Bataillon erhält Befehl, fünfzig Mann zum Schutze eines Proviantlagers zu schicken, einundzwanzig Mann zur Bewachung der Elektrischen Zentrale. Eine Order löst die andere ab, bald aus dem Smolny, bald aus dem Bezirk. Niemand widerspricht, niemand murrt. Nach der Meldung eines Kommissars werden die Befehle „umgehend und exakt“ durchgeführt. Die Bewegungen der Soldaten bekommen eine längst nicht mehr dagewesene Präzision. So sehr diese morsche Garnison auch aufgelockert, nur noch zum Abbruch tauglich ist, erwacht diese Nacht der alte Soldatendrill wieder in ihr und spannt – zum letztenmal – jeden Muskel im Dienste des neuen Zieles.

Kommissar Uralow erhielt zwei Mandate: eins zur Besetzung der Druckerei der reaktionären Zeitung Russkaja Wolja (Russischer Wille), einstmals gegründet von Protopopow, kurz bevor er Nikolaus II. letzter Innenminister geworden; das zweite – eine Kolonne Soldaten aus dem Semjonowsker Garderegiment zu holen, das die Regierung aus alter Gewohnheit noch als das ihrige betrachtete. Die Semjonowsker wurden gebraucht zur Besetzung einer Druckerei, die Druckerei – zur Herausgabe der bolschewistischen Zeitung in großem Format und großer Auflage. Die Soldaten waren bereits beim Schlafengehen. Der Kommissar setzte ihnen kurz den Zweck seiner Mission auseinander: „Kaum war ich fertig, als von allen Plätzen Hurrarufe erschallten. Die Soldaten sprangen von ihren Pritschen auf und umringten mich im engen Kreise.“ Vollbeladen mit Semjonowsker Soldaten fuhr das Lastauto zur Druckerei. Im Rotationsmaschinensaal versammelte sich im Nu die Nachtschicht der Arbeiter. Der Kommissar setzte ihnen den Zweck seines Erscheinens auseinander. „Wie in der Kaserne antworteten auch hier die Arbeiter mit Rufen Hurra! und Hoch die Sowjets!“ Die Mission ist erfüllt. Ungefähr in der gleichen Weise vollzog sich auch die Einnahme anderer Institutionen. Gewaltanwendung war nicht erforderlich, da es keinen Widerstand gab. Die aufständischen Massen breiteten die Ellenbogen aus und verdrängten die gestrigen Herren.

Der Bezirkskommandierende Polkownikow meldete nachts ins Hauptquartier und in den Stab der Nordfront über die militärischen Drahtleitungen: „Lage in Petrograd erschreckend. Straßenkundgebungen und Unruhen finden nicht statt. Aber es geht eine planmäßige Besetzung von Ämtern und Bahnhöfen, Verhaftungen ... Die Junker verlassen die Wachtposten ohne Widerstand. Es bestehen keine Garantien, daß nicht ein Versuch zur Verhaftung der Provisorischen Regierung unternommen wird.“ Polkownikow hat recht: es bestehen tatsächlich keine Garantien.

In Militärkreisen erzählte man, Agenten des Militärischen Revolutionskomitees hätten bei dem Petrograder Kommandanten aus dessen Tisch Parolen und Abberufungsordern der Garnisonwachen gestohlen. Unwahrscheinlich wäre das nicht: beim unteren Personal aller Ämter hatte der Aufstand Freunde genug. Aber doch ist die Version von den entwendeten Parolen aller Wahrscheinlichkeit nach entstanden, um jene allzu kränkende Leichtigkeit zu erklären, mit der die bolschewistischen Wachen die Stadt einnahmen.

An die Garnison ist während der Nacht ein Befehl ergangen: Offiziere, die die Macht des Militärischen Revolutionskomitees nicht anerkennen, sind zu verhaften. In vielen Regimentern waren die Kommandeure bereits von selbst verschwunden, um an einem stillen Platze die unruhigen Tage abzuwarten. In anderen Truppenteilen wurden die Offiziere entfernt oder verhaftet. Überall bildeten sich eigene revolutionäre Komitees oder Stäbe, die Hand in Hand mit den Kommissaren arbeiteten. Daß das improvisierte Kommando nicht auf der Höhe war, versteht sich von selbst. Dafür aber war es zuverlässig. Und die Frage wurde vor allem in der politischen Instanz entschieden.

Doch entwickelten bei all ihrer Unerfahrenheit die Stäbe einzelner Truppenteile bedeutende militärische Initiative. Das Komitee des Pawlowsker Regiments schickte von sich aus Kundschafter in den Bezirksstab, um zu erfahren, was dort geschehe. Das Reserve-Chemiebataillon beobachtete aufmerksam die unruhigen Nachbarn: die Junker der Pawlowsker und Wladimirsker Schulen und die Schüler des Kadettenkorps. Die Chemiker entwaffneten häufig auf der Straße Junker und hielten sie damit in Angst. Durch Verbindung mit dem Soldatenkommando der Pawlowsker Schule erreichte der Stab des Chemischen Bataillons, daß die Schlüssel zu den Waffen in die Hände des Kommandos gerieten.

Die Zahlenstärke der an der nächtlichen Einnahme der Hauptstadt unmittelbar Beteiligten ist schwer zu bestimmen: nicht nur, weil niemand sie gezählt und notiert hat, sondern auch des Charakters der Operation wegen. Die Reserven zweiten und dritten Grades verschmolzen fast mit der gesamten Garnison Doch brauchte man nur episodisch zu den Reserven zu greifen. Einige tausend Rotgardisten, zwei-, dreitausend Seeleute – morgen mit dem Eintreffen der Kronstädter und Helsingforser wird ihre Zahl sich annähernd verdreifachen –, etwa zwanzig Infanteriekompanien und -kommandos –, das waren die Kräfte ersten und zweiten Aufgebots, mit deren Hilfe die Aufständischen die Hauptstadt einnahmen.

Um 3 Uhr nachts meldete der Chef der politischen Verwaltung des Kriegsministeriums, Menschewik Seher, über die direkte Leitung0nach dem Kaukasus: „Es tagt eine Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees gemeinsam mit den zum Sowjetkongreß eingetroffenen Delegierten, in überwiegender Mehrheit Bolschewiki. Trotzki wurde eine Ovation bereitet. Er erklärte, daß er auf einen unblutigen Ausgang des Aufstandes hoffe, da die Macht in ihren Händen sei. Die Bolschewiki sind zu aktiven Handlungen übergegangen. Sie haben die Nikolajewski-Brücke besetzt, dort Panzerwagen aufgefahren. Das Pawlowsker Regiment hat auf der Milljonaja-Straße neben dem Winterpalais Posten aufgestellt, hält alle an, verhaftet und führt ins Smolny-Institut ab. Verhaftet sind Minister Kartaschew und der Geschäftsführer der Provisorischen Regierung, Halperin. Der Baltische Bahnhof ist ebenfalls in den Händen der Bolschewiki. Wenn die Front sich nicht einmischt, verfügt die Regierung über keine Kräfte, den vorhandenen Truppen Widerstand zu leisten.“

Die Vereinigte Sitzung des Exekutivkomitees, von der der Bericht Leutnant Sehers spricht, wurde im Smolny nach Mitternacht eröffnet. Die Delegierten des Sowjetkongresses füllten den Saal als Gäste. Korridore und Gänge sind durch verstärkte Wachen besetzt. Feldgraue Mäntel, Gewehre, in den Fenstern Maschinengewehre. Die Mitglieder der Exekutivkomitees ertranken in der vielköpfigen und feindlichen Masse der Provinzler. Das oberste Organ der „Demokratie“ schien bereits Gefangener des Aufstandes zu sein. Es fehlte die gewohnte Figur des Vorsitzenden Tschcheidse. Es fehlte der unvermeidliche Referent Zeretelli. Eingeschüchtert durch den Gang der Ereignisse, hatten beide einige Wochen vor dem Kampfe ihre verantwortlichen Posten niedergelegt und waren, Petrograd seinem Schicksal überlassend, in ihr heimatliches Georgien abgereist. Führer des Versöhnlerblocks blieb Dan. Er besaß weder die listige Gutmütigkeit Tschcheidses noch die pathetische Beredsamkeit Zeretellis; dafür überragte er beide an starrer Kurzsichtigkeit. Einsam auf der Präsidiumstribüne eröffnete der Sozialrevolutionär Goz die Sitzung. Dan nahm das Wort unter völligem Schweigen des Saales, das Suchanow lau schien und John Reed „fast bedrohlich“. Das Steckenpferd des Redners war eine frischgebackene Resolution des Vorparlaments, die versuchte, dem Aufstand das blasse Echo seiner eigenen Losungen entgegenzustellen, „Es wird zu spät werden, wenn ihr diesen Beschluß nicht beachtet“, sagte Dan, drohend mit dem unvermeidlichen Hunger und der Demoralisierung der Massen. „Niemals war die Konterrevolution so stark wie in diesem Augenblick“, das heißt in der Nacht auf den 25. Oktober 1917! Der erschrockene Kleinbürger sieht angesichts großer Ereignisse nichts als Gefahren und Hindernisse. Seine einzige Kraftquelle ist – das Pathos der Angst. „In den Betrieben und Kasernen hat die Schwarzhundert-Presse bedeutend größeren Erfolg als die sozialistische.“ Wahnsinnige führen die Revolution ins Verderben, wie 1905, „als an der Spitze des Petrograder Sowjets der gleiche Trotzki stand“. Doch nein. Das Zentral-Exekutivkomitee wird einen Aufstand nicht zulassen: „Nur über seiner Leiche werden sich die Bajonette der kämpfenden Parteien kreuzen.“ Von den Plätzen erschallen Rufe: „Aber es ist ja längst eine Leiche.“ Das Treffende dieses Zwischenrufes empfand der ganze Saal: Über der Leiche des Versöhnlertums kreuzten sich bereits die Bajonette von Bourgeoisie und Proletariat. Die Stimme des Redners geht im feindlichen Lärm unter. Die Präsidentenglocke bleibt wirkungslos, Beschwörungen verfangen nicht, Drohungen schrecken nicht. Zu spät, zu spät ...

Ja, das ist der Aufstand. In seiner Antwort namens des Militärischen Revolutionskomitees, der Bolschewistischen Partei und der Petrograder Arbeiter und Soldaten wirft Trotzki endlich die letzten Formalitäten beiseite. Ja, die Massen sind mit uns, und wir führen sie zum Sturm. „Wenn ihr nicht wanken werdet“, ruft er über den Kopf des Zentral-Exekutivkomitees hinweg den Kongreßdelegierten zu, „wird es keinen Bürgerkrieg geben, denn die Feinde werden sofort kapitulieren, und ihr werdet den Platz einnehmen, der euch von Rechts wegen gebührt – den Platz des Herrn der russischen Erde.“ Die bestürzten Mitglieder des Zentral-Exekutivkomitees finden nicht einmal die Kraft zum Protest. Bisher hatte die Verteidigungssprache des Smolny trotz allen Vorgängen einen schwachen Hoffnungsschimmer in ihnen genährt. Jetzt ist auch er erloschen. In diesen tiefen Nachtstunden erhebt der Aufstand hoch das Haupt.

Die an Zwischenfällen reiche Sitzung endete gegen 4 Uhr morgens. Bolschewistische Redner erschienen auf dem Podium, um sofort zum Militärischen Revolutionskomitee zurückzukehren, wo aus allen Enden der Stadt Berichte eintrafen, durchwegs günstige: die Sperrketten in den Straßen wachen; Regierungsämter werden eines nach dem andern besetzt; der Gegner leistet nirgends Widerstand.

Es hieß, die Zentrale des Fernsprechamtes sei besonders stark gesichert. Aber gegen 7 Uhr morgens wurde auch sie von einem Kommando des Kexholmer Regiments kampflos besetzt. Nun brauchten die Aufständischen nicht nur nicht mehr um ihre eigene Verbindung besorgt zu sein, sondern erhielten auch die Möglichkeit, die Telephonverbindung des Gegners zu kontrollieren. Die Apparate des Winterpalais und Hauptstabes wurden übrigens sofort ausgeschaltet.

Fast zu der gleichen Zeit bemächtigte sich eine Matrosenabteilung der Gardeequipage, etwa vierzig Mann des Gebäudes der Staatsbank am Jekaterininski-Kanal. Der Bankbeamte Ralzewitsch erinnert sich, wie die „Matrosenabteilung jählings vorging“ und bei den Telephonapparaten Wachen aufstellte, um die Möglichkeit, Hilfe von außen anzufordern, abzuschneiden. Die Besetzung des Gebäudes erfolgte „ohne jeglichen Widerstand trotz Anwesenheit eines Zuges des Semjonowsker Regiments“. Der Einnahme der Bank wurde in gewissem Sinne symbolische Bedeutung beigemessen. Die Parteikader waren erzogen an der Marx’schen Kritik der Pariser Kommune von 1871, deren Führer bekanntlich nicht gewagt hatten, die Hand gegen die Staatsbank zu erheben. „Nein, wir werden diesen Fehler nicht wiederholen“, sagten sich viele Bolschewiki schon lange vor dem 25. Oktober. Die Kunde von der Besetzung der geheiligtsten aller bürgerlichen Staatsinstitutionen durchflog sogleich die Bezirke, wo sie eine heiße Welle des Triumphes erzeugte.

In den frühen Morgenstunden wurden besetzt der Warschauer Bahnhof, die Druckerei der Birschewyja Wedomosti und, direkt vor Kerenskis Fenstern, die Schloßbrücke, Ein Kommissar des Komitees kam ins Kresty-Gefängnis und zeigte den diensthabenden Soldaten des Wolynsker Regiments eine Order über Freilassung einer Reihe von Gefangenen laut Liste des Petrograder Sowjets. Vergeblich versuchte die Gefängnisadministration, Anweisungen vom Justizminister zu erhalten: der hatte anderes im Kopf. Die befreiten Bolschewiki, darunter der junge Kronstädter Führer Roschal, erhielten sogleich Kampfaufgaben zugewiesen.

Am Morgen lieferte man im Smolny eine auf dem Nikolajewski Bahnhof von Pionieren angehaltene Gruppe Junker ein, die mit Lastwagen aus dem Winterpalais nach Proviant ausgefahren waren. Podwojski erzählt: „Trotzki erklärte ihnen, sie würden unter der Bedingung entlassen, daß sie das Versprechen geben, nichts mehr gegen die Sowjetmacht zu unternehmen, sie könnten dann zu ihren Beschäftigungen in die Schule zurückkehren. Die Knaben, die ein Blutgericht erwartet hatten, waren darüber unsäglich erstaunt.“ Inwiefern die sofortige Freilassung richtig war, ist zweifelhaft. Der Sieg war noch nicht abgeschlossen, die Junker stellten die Hauptkraft des Gegners dar. Andererseits war es bei den schwankenden Stimmungen in den Militärschulen wichtig, durch die Tat zu zeigen, daß die Übergabe auf Gnade und Ungnade des Siegers die Junker mit keinen Strafen bedrohe. Die Argumente für und wider hielten sich gleichsam die Waage.

Aus dem von den Aufständischen noch nicht besetzten Kriegsministerium meldete morgens General Lewitzki mittels direkter Leitung ins Hauptquartier dem General Duchonin: „Die Truppenteile des Petrograder Garnison ... gingen zu den Bolschewiki über. Aus Kronstadt trafen Matrosen mit einem leichten Kreuzer ein. Die hochgezogenen Brücken werden von ihnen wieder geschlossen. Die ganze Stadt ist von Wachtposten überzogen, doch finden keine Demonstrationen statt [!]. Die Telephonzentrale ist in den Händen der Garnison. Die im Winterpalais untergebrachten Truppen tun nur formell Dienst, da sie beschlossen haben, aktiv nicht hervorzutreten. Im allgemeinen hat man den Eindruck, als befände sieh die Provisorische Regierung in der Hauptstadt eines feindlichen Staates, der die Mobilisierung durchgeführt, aber aktive Handlungen noch nicht begonnen hat.“ Ein unschätzbares militärisches und politisches Zeugnis! Der General kommt allerdings den Ereignissen zuvor, wenn er sagt, aus Kronstadt seien Matrosen eingetroffen: sie werden erst in einigen Stunden eintreffen. Die Brücke ist tatsächlich von der Aurora geschlossen worden. Naiv ist die am Schluß des Berichtes ausgesprochene Hoffnung, daß die Bolschewiki, „die schon lange die faktische Möglichkeit besitzen, mit uns allen abzurechnen ... nicht wagen werden, der Ansicht der Frontarmee zuwiderzuhandeln“. Illusionen in bezug auf die Front – das war alles, was den Hinterlandsgeneralen wie den Hinterlandsdemokraten übriggeblieben war. Dagegen wird das Bild von der Provisorischen Regierung, die sich „in der Hauptstadt eines feindlichen Staates“ befindet, für immer in die Geschichte eingehen als die beste Erklärung der Oktoberumwälzung.

Im Smolny gingen ununterbrochen Sitzungen. Agitatoren, Organisatoren, Betriebs-, Regiments-, Bezirksleiter kamen für eine – zwei Stunden, mitunter auch nur für einige Minuten, um Neuigkeiten zu erfahren, sich zu überprüfen und auf ihre Posten zurückzukehren. Beim Zimmer Nr. 18, wo die bolschewistische Sowjetfraktion untergebracht war, herrschte ein unbeschreibliches Gedränge. Die vor Müdigkeit erschöpften Besucher schliefen nicht selten im Sitzungssaal ein, den schweren Kopf an eine der weißen Säulen gelehnt, oder im Korridor an der Wand, die Flinte fest im Arm; manchmal streckten sie sich einfach auf dem schmutzigen, nassen Fußboden aus. Laschewitsch empfing die militärischen Kommissare und erteilte ihnen die letzten Anweisungen. Im Raume des Militärischen Revolutionskomitees, in der dritten Etage, verwandelten sich die von allen Seiten zusammenströmenden Meldungen in Befehle: dort schlug das Herz des Aufstandes.

Die Bezirkszentren widerspiegelten das Bild des Smolny, nur in kleinerem Maßstabe. Auf der Wyborger Seite, gegenüber dem Stab der Roten Garde, auf dem Sampsonjewski-Prospekt, war ein ganzes Lager entstanden: die Straße sperrten mit ihren Pferden bespannte Wagen, Automobile, Lastautos. Die Bezirksinstitutionen wimmelten von bewaffneten Arbeitern. Sowjet, Duma, Gewerkschaften, Fabrikkomitees, alles in diesem Bezirk diente der Sache des Aufstandes. In Betrieben, Kasernen, Ämtern ging im kleinen das gleiche vor sich wie in der gesamten Hauptstadt: die einen wurden abgesetzt, andere ernannt. Reste alter Verbindungen zerrissen, neue gefestigt. Die bis jetzt noch gezögert hatten, nahmen Resolutionen an, in denen sie sich dem Militärischen Revolutionskomitee unterstellten. Menschewiki und Sozialrevolutionäre drückten sich gemeinsam mit den Betriebsadministratoren und Vorgesetzten von Truppenteilen in den Winkeln herum. In ununterbrochenen Versammlungen wurden neue Informationen ausgegeben, die Kampfzuversicht gestärkt, Verbindungen befestigt. Die Menschenmassen gruppierten sich um neue Achsen. Die Umwälzung war im Gange.

Schritt für Schritt haben wir in diesem Buche die Vorbereitung des Oktoberaufstandes zu verfolgen gesucht: Die zunehmende Unzufriedenheit der Arbeitermassen, den Übergang der Sowjets unter das bolschewistische Banner, das Meutern der Armee, den Feldzug der Bauern gegen die Gutsbesitzer, das Überschwemmen der Volksbewegung, die wachsende Furcht und Verwirrung der Besitzenden und Regierenden, endlich den Kampf innerhalb der bolschewistischen Partei um den Aufstand. Die abschließende Umwälzung scheint nach all dem gar zu kurz, zu trocken, zu sachlich, dem historischen Schwang der Ereignisse gleichsam nicht angemessen. Der Leser empfindet eine Art Enttäuschung. Er gleicht einem Bergsteiger, der, während er die Hauptschwierigkeiten noch vor sich wähnt, plötzlich entdeckt, daß er bereits oder beinahe auf dem Gipfel steht. Wo ist der Aufstand? Das Bild des Aufstandes fehlt. Die Ereignisse fügen sich zu keinem Bilde. Die kleinen, im voraus berechneten und vorbereiteten Operationen bleiben im Raum und in der Zeit voneinander getrennt. Sie sind verbunden durch die Einheit von Ziel und Absicht, nicht aber verschmolzen durch den Kampf selbst. Es fehlen große Massenhandlungen, fehlen dramatische Zusammenstöße mit den Truppen. Es fehlt alles, was die an den Ereignissen der Geschichte erzogene Einbildungskraft mit der Vorstellung des Aufstandes verbindet.

Der Gesamtcharakter der Umwälzung in der Hauptstadt wird später neben vielen anderen auch Masaryk Anlaß geben zu schreiben: „Die Oktoberumwälzung ... war keineswegs eine Bewegung der Volksmassen. Diese Umwälzung war das Werk von Führern, die hinter den Kulissen von oben herab arbeiteten.“ In Wirklichkeit hatte dieser Aufstand von allen Aufständen in der Geschichte am stärksten den Charakter einer Massenbewegung. Die Arbeiter brauchten nicht auf die Straße zu gehen, um in eins zu verschmelzen: sie stellten ohnehin politisch und moralisch ein Ganzes dar. Den Soldaten war sogar untersagt worden, die Kasernen ohne Weisung zu verlassen: in diesem Punkte fiel der Befehl des Militärischen Revolutionskomitees mit Polkownikows Befehl zusammen. Aber diese unsichtbaren Massen gehen mehr denn je im Gleichschritt mit den Ereignissen. Betriebe und Kasernen verlieren nicht eine Minute die Verbindung mit den Bezirksstäben, die Bezirke nicht mit dem Smolny. Die Abteilungen der Rotgardisten fühlen hinter sich die Unterstützung der Betriebe. Die in die Kasernen zurückkehrenden Soldatenkommandos finden die Ablösung in Bereitschaft. Nur mit schweren Reserven im Rücken vermochten die revolutionären Abteilungen mit solcher Sicherheit an die Erfüllung ihrer Aufgaben heranzugehen. Die zersplitterten Regierungsposten hingegen, im voraus besiegt durch die eigene Isoliertheit, mußten sogar den Gedanken an einen Widerstand fallen lassen. Die bürgerlichen Klassen hatten Barrikaden, Feuerbrände, Plünderungen, Blutströme erwartet. In Wirklichkeit herrschte Stille, schrecklicher als alle Donner der Welt. Lautlos verschob sich der soziale Boden, einer Drehbühne gleich, die die Volksmassen in den Vordergrund hob und die gestrigen Herren in die Unterwelt hinabtrug.

Schon um 10 Uhr morgens – am 25. hielt das Smolny es für möglich, der Hauptstadt und dem Lande die Siegeskunde zu geben: „Die Provisorische Regierung ist gestürzt. Die Staatsmacht ist in die Hände des Militärischen Revolutionskomitees übergegangen.“ In gewissem Sinne griff diese Kundgebung stark vor. Die Regierung existierte noch, wenigstens auf dem Territorium des Winterpalais. Es existierte das Hauptquartier. Die Provinz hatte sich nicht geäußert. Der Sowjetkongreß war noch nicht eröffnet. Doch die Leiter des Aufstandes sind keine Geschichtsschreiber: um für die Geschichtsschreiber die Ereignisse vorzubereiten, sind sie gezwungen, vorzugreifen. In der Hauptstadt war das Militärische Revolutionskomitee bereits unbeschränkter Herr der Lage. An der Sanktion des Kongresses konnte kein Zweifel bestehen. Die Provinz wartete auf Petrograds Initiative. Um die Macht restlos zu erobern, mußte man als Macht zu handeln beginnen. In einem Appell an die militärischen Front- und Hinterlandsorganisationen rief das Komitee die Soldaten auf, das Verhalten des Kommandobestandes scharf zu überwachen, Offiziere, die sich der Revolution nicht anschließen, zu verhaften, und vor Gewaltanwendung nicht haltzumachen beim Versuch, feindselige Truppenteile gegen Petrograd zu werfen.

Der am Vorabend von der Front eingetroffene Stankewitsch, oberster Kommissar des Hauptquartiers, unternahm, um im Reiche der Passivität und Auflösung nicht ganz ohne Arbeit zu bleiben, am Morgen an der Spitze einer halben Kompanie Ingenieur-Junker einen Versuch, die Telephonzentrale von den Bolschewiki zu säubern. Bei dieser Gelegenheit erfuhren die Junker zum ersten Male, in wessen Händen sich das Telephonamt befand. „Hier, von denen, stellt sich heraus, kann man Energie lernen“, ruft zähneknirschend der Offizier Sinegub aus, „woher haben sie nur solche Führung!“ Die im Gebäude der Telephonzentrale sitzenden Matrosen könnten mühelos die Junker von den Fenstern aus abschießen. Doch die Aufständischen sind mit allen Kräften bestrebt, Blutvergießen zu vermeiden. Stankewitsch seinerseits untersagt strengstens, das Feuer zu eröffnen: man könnte die Junker beschuldigen, daß sie in das Volk schießen. Der kommandierende Offizier denkt sich: „Wenn wir Ordnung schaffen, wer hat da den Mund aufzutun?“ Und er schließt seine Erwägungen mit dem Ausruf: „Verdammte Komödianten!“ Das eben ist die Formel des Verhältnisses der Offiziere zur Regierung. Aus eigener Initiative schickt Sinegub ins Winterpalais nach Handgranaten und Pyroxylinbomben. In der Zwischenzeit beginnt ein monarchistischer Leutnant mit einem bolschewistischen Fähnrich vor dem Tor der Telephonzentrale eine politische Diskussion: Wie die Helden Homers überhäufen sie einander vor dem Kampfe mit starken Worten. Zwischen zwei – vorläufig nur mit Worten gespeiste – Feuer geraten, lassen die Telephonistinnen ihre Nerven spielen. Die Matrosen schicken sie nach Hause. „Was ist? Frauen? ...“ Mit hysterischen Schreien stürzen sie aus den Toren. „Die öde Morskaja-Straße“, erzählt Sinegub, „belebte sich plötzlich mit laufenden, hüpfenden Kleidern und Hüten.“ Mit der Arbeit an den Apparaten werden die Matrosen schon irgendwie selbst fertig. Im Hofe der Zentrale trifft bald ein Panzerwagen der Roten ein, ohne den erschrockenen Junkern etwas zuzufügen. Diese ihrerseits besetzen zwei Lastautos und verbarrikadieren von außen das Tor der Zentrale. Vom Newski her taucht ein zweiter Panzerwagen auf, dann ein dritter. Das Ganze beschränkte sich auf Manöver und gegenseitige Einschüchterungsversuche. Der Kampf um die Zentrale wird ohne Pyroxylin entschieden: Stankewitsch hebt die Belagerung auf, nachdem er sich freien Abzug für seine Junker ausbedungen hat.

Die Waffe dient überhaupt vorläufig nur als äußeres Zeichen der Macht: sie wird fast nicht angewandt. Unterwegs zum Winterpalais stößt Stankewitschs Halbkompanie auf ein Matrosenkommando mit schußbereiten Gewehren. Die Gegner messen sich nur mit den Blicken. Weder die eine noch die andere Seite will sich schlagen: die eine – im Bewußtsein ihrer Kraft, die andere – im Gefühl ihrer Schwäche. Wo sich jedoch die Gelegenheit bietet, gehen die Aufständischen, besonders die Rotgardisten, an die Entwaffnung des Gegners. Die zweite Halbkompanie der Ingenieur-Junker wurde von Rotgardisten und Soldaten umstellt, mit Hilfe von Panzerwagen entwaffnet und gefangen genommen. Ein Kampf fand allerdings auch dabei nicht statt; die Junker leisteten keinen Widerstand. „So endete“, bezeugt der Initiator, „soviel ich weiß, der einzige Versuch aktiven Widerstandes gegen die Bolschewiki.“ Stankewitsch meint die Operationen außerhalb des Bezirks des Winterpalais.

Gegen Mittag werden die Straßen um das Mariinski-Palais von Truppen des Militärischen Revolutionskomitees besetzt. Die Mitglieder des Vorparlaments versammelten sich eben zu einer Sitzung. Das Präsidium machte den Versuch, die letzten Informationen zu bekommen: die Herzen erstarrten jäh, als sich herausstellte, die Telephone des Palais sind ausgeschaltet. Der Ältestenrat erörterte, was zu tun sei. Die Deputierten flüsterten in den Ecken. Awksentjew versuchte zu trösten: Kerenski sei zur Front gereist, bald werde er zurückkehren und alles gutmachen. Vor der Auffahrt hielt ein Panzerwagen. Soldaten des Litowsker und des Kexholmer Regiments und Matrosen der Gardeequipage betraten das Gebäude, stellten sich die Treppe entlang auf und besetzten den ersten Saal. Der Führer der Abteilung forderte die Versammelten auf unverzüglich das Palais zu verlassen. „Der Eindruck war niederschmetternd“, bestätigt Nabokow. Die Mitglieder des Vorparlaments beschlossen. auseinanderzugehen und „vorübergehend ihre Tätigkeit zu unterbrechen“. Dagegen stimmen achtundvierzig Rechte: sie wissen im voraus, daß sie in der Minderheit bleiben werden. Die Deputierten steigen friedlich die prunkvolle Treppe zwischen zwei Gewehrspalieren hinab. Augenzeugen berichten: „Nichts Dramatisches war an der ganzen Sache.“ – „Gewöhnliche, ausdruckslose, stumpfe, boshafte Physiognomien“, schreibt der liberale Patriot Nabokow über die russischen Soldaten und Matrosen. Unten am Ausgang prüften Wachen die Legitimation und ließen alle hinaus.

„Man erwartete eine Sortierung der Mitglieder und manche Verhaftungen“, schreibt der unter anderen herausgelassene Miljukow, „aber der revolutionäre Stab hatte andere Sorgen.“ Nicht nur das: der revolutionäre Stab hatte wenig Erfahrung. Der Auftrag des Komitees lautete: „Eventuelle Regierungsmitglieder sind zu verhaften.“ Aber es waren keine da. Die Mitglieder des Vorparlaments wurden unbehindert entlassen, darunter auch jene, die bald Organisatoren des Bürgerkrieges werden sollten.

Der parlamentarische Blendling, der sein Dasein um zwölf Stunden früher aushauchte als die Provisorische Regierung, hatte achtzehn Lebenstage hinter sich: Das ist die Frist zwischen Auszug der Bolschewiki aus dem Mariinski-Palais auf die Straße und Eindringen der bewaffneten Straße in das Mariinski-Palais. Unter allen Parodien auf eine Regierung, an denen die Geschichte so reich ist, war „der Rat der russischen Republik“ wohl die lächerlichste.

Nachdem er das unglückselige Gebäude verlassen hatte, begab sich der Oktobrist Schidlowski in die Stadt, um die Kämpfe zu beobachten: diese Herren glaubten, das Volk würde sieh zu ihrer Verteidigung erheben. Kämpfe waren jedoch nicht zu entdecken. Dagegen lachte, nach Schidlowskis Worten, das gesamte Publikum in den Straßen – die auserwählte Menge des Newski-Prospektes. „Haben Sie gehört: die Bolschewiki haben die Macht ergriffen? Das ist doch nicht länger als für drei Tage! Ha ha ha.“ Schidlowski beschloß, in der Hauptstadt zu bleiben „für die Frist, die die öffentliche Meinung der bolschewistischen Herrschaft zubilligte“. Die drei Tage haben sich bekanntlich stark in die Länge gezogen.

Zu lachen hat das Publikum des Newski übrigens erst gegen Abend begonnen. Am Morgen war die Stimmung derart besorgt gewesen, daß in den Stadtvierteln der Bourgeoisie sich nur wenige entschlossen, auf die Straße zu gehen. Gegen 9 Uhr lief der Journalist Knischnik auf den Kamenoostrowski-Prospekt nach Zeitungen, aber Zeitungsverkäufer waren nicht da. In einem kleinen Haufen Bürger erzählte man sich, in der Nacht hätten die Bolschewiki Telephon, Telegraph und Bank besetzt. Eine Soldatenpatrouille hörte zu und ersuchte das Publikum, keinen Lärm zu machen. „Aber auch ohnehin waren alle eigentümlich still.“ Es marschierten bewaffnete Arbeiterabteilungen vorbei. Die Trams verkehrten wie üblich, das heißt langsam. „Die Seltenheit an Passanten bedrückte mich“, schreibt Knischnik über seine Eindrücke auf dem Newski. In den Restaurants wurde gespeist, aber vorwiegend in den hinteren Räumen. 12 Uhr mittags krachte die Kanone nicht lauter und nicht leiser als sonst von den Mauern der von den Bolschewiki verläßlich besetzten Peter-Paul-Festung. Mauern und Zäune waren mit Aufrufen beklebt, die vor Demonstrationen warnten. Doch andere Aufrufe schoben sich bereits vor, die den Sieg des Aufstandes verkündeten. Man fand noch keine Zeit, sie anzukleben, und warf sie aus Automobilen ab. Die Soeben gedruckten Flugblätter rochen nach frischer Farbe, wie die Ereignisse selbst.

Abteilungen der Roten Garde sind aus ihren Bezirken ausmarschiert. Der Arbeiter mit Gewehr, Bajonett über Mütze oder Hut hinausragend, Riemen über Zivilmantel, dieses Bild ist untrennbar vom 25. Oktober. Vorsichtig und noch unsicher brachte der bewaffnete Arbeiter Ordnung in die Hauptstadt, die er sich erobert hatte.

Die Ruhe in den Straßen erfüllte mit Ruhe die Herzen. Die Bürger begannen, sich in den Straßen zu sammeln. Gegen Abend herrschte unter ihnen weniger Unruhe als in den vorangegangenen Tagen. Die Arbeit in den staatlichen und öffentlichen Ämtern hatte allerdings aufgehört. Viele Geschäfte aber blieben geöffnet, manche schlossen, doch eher aus Vorsicht als aus Notwendigkeit. Aufstand? Macht man denn so Aufstand? Es vollzieht sich einfach eine Ablösung der Februar- durch die Oktober-Wachen.

Gegen Abend war der Newski mehr denn je von jenem Publikum erfüllt, das den Bolschewiki drei Tage Leben verhieß. Die Soldaten des Pawlowsker Regiments flößten, obwohl ihre Sperrketten durch Panzerwagen und sogar Flugzeugabwehrkanonen verstärkt waren, keine Angst mehr ein. Gewiß, irgend etwas Ernstes geht beim Winterpalais vor, und man wird dort nicht durchgelassen. Aber der ganze Aufstand kann sich doch nicht auf dem Schloßplatz konzentrieren? Ein amerikanischer Journalist sah, wie Greise in kostbaren Pelzen den Pawlowskern die Fäuste zeigten und aufgeputzte Frauen die Soldaten mit kreischenden Stimmen beschimpften. „Die Soldaten parierten schwach mit verlegenem Lächeln.“ Sie fühlten sich offensichtlich unbehaglich auf dem eleganten Newski, dem es erst bevorstand, sich in den „Prospekt des 25. Oktober“ zu verwandeln.

Claude Anet, offiziöser französischer Journalist in Petrograd, war ehrlich erstaunt: die unvernünftigen Russen machen eine Revolution anders, als er aus alten Büchern herausgelesen. „Die Stadt ist ruhig!“ Anet unterhält sich telephonisch, empfängt Besuche, geht aus. Soldaten, die ihm auf der Mojka den Weg kreuzen, marschieren in voller Ordnung, „wie unter dem alten Regime“. Auf der Milljonaja-Straße zahlreiche Patrouillen. Nirgendwo fällt ein Schuß. Der Riesenplatz des Winterpalais ist zu dieser Mittagsstunde fast leer. Patrouillen auf der Morskaja-Straße und dem Newski-Prospekt. Die Soldaten in guter Haltung und tadelloser Uniform. Auf den ersten Blick scheint es unzweifelhaft, daß es Regierungstruppen sind. Auf dem Mariinski-Platz, von wo aus Anet ins Vorparlament zu gelangen beabsichtigte, halten ihn Soldaten und Matrosen auf, „fürwahr sehr höflich“. Die beiden ans Palais grenzenden Straßen sind durch Autos und Wagen verbarrikadiert Auch ein Panzerwagen ist dabei. All das untersteht dem Smolny. Das Militärische Revolutionskomitee schickte in die Stadt Patrouillen aus, stellte Wachen, löste das Vorparlament auf, herrschte über die Hauptstadt, schuf eine „seit Revolutionsbeginn nicht mehr erlebte“ Ordnung. Abends berichtet die Portierfrau dem französischen Mieter, man habe aus dem Sowjetstab Telephonnummern abgegeben, durch die man bei eventuellen Überfällen, verdächtigen Haussuchungen und so weiter jederzeit militärische Hilfe anfordern könne. „Wahrlich, wir waren niemals besser geschützt.“

Um 2 Uhr 35 mittags – die ausländischen Journalisten blickten auf die Uhr, den russischen stand der Sinn nicht danach – wurde eine außerordentliche Sitzung des Petrograder Sowjets eröffnet mit einem Bericht Trotzkis, der im Namen des Militärischen Revolutionskomitees erklärte, die Provisorische Regierung bestehe nicht mehr. „Man hat uns gesagt, der Aufstand werde die Revolution in Blutströmen ertränken ... Uns ist kein einziges Opfer bekannt.“ Es gab in der Geschichte kein Beispiel einer revolutionären Bewegung, an der so gewaltige Massen beteiligt gewesen wären und die so unblutig verlief „Das Winterpalais ist noch nicht genommen, doch sein Schicksal wird sich in den nächsten Minuten entscheiden.“ Die nächsten zwölf Stunden werden beweisen, daß diese Voraussage zu optimistisch war.

Trotzki teilt mit: von der Front rücken Truppen an gegen Petrograd, man muß sofort Sowjetkommissare an die Front und ins ganze Land schicken zur Informierung über die stattgefundene Umwälzung. Aus dem kleinen rechten Sektor ertönen Stimmen: „Ihr greift dem Willen des Sowjetkongresses vor.“ Der Berichterstatter antwortet: „Der Wille des Kongresses ist im voraus bestimmt durch die gewaltige Tatsache des Aufstandes der Petrograder Arbeiter und Soldaten. Uns bleibt jetzt nur übrig, unseren Sieg zu entwickeln.“

Lenin, der hier zum ersten Male nach dem Verlassen seines Verstecks öffentlich auftrat, entwarf in seiner Rede kurz das Programm der Revolution: den alten Staatsapparat zerschlagen; ein neues Regierungssystem vermittels der Sowjets schaffen; Maßnahmen ergreifen zur sofortigen Beendigung des Krieges, gestützt auf die revolutionäre Bewegung in den anderen Ländern; das gutsherrliche Eigentum abschaffen und damit das Vertrauen der Bauern gewinnen; eine Arbeiterkontrolle über die Produktion errichten. „Die dritte russische Revolution muß im Endresultat zum Siege des Sozialismus führen.“

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003