Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 2: Oktoberrevolution

 

Vorwort

Rußland hat seine bürgerliche Revolution so spät vollzogen, daß es gezwungen war, sie in die proletarische umzuwandeln. Mit anderen Worten: Rußland war hinter den übrigen Ländern so weit zurückgeblieben, daß es, wenigstens auf gewissen Gebieten, diese überholen mußte. Das mag widersinnig erscheinen. Indes ist die Geschichte voll von solchen Paradoxen. Das kapitalistische England hatte andere Länder so weit überholt, daß es gezwungen war, hinter diesen zurückzubleiben. Pedanten glauben, die Dialektik sei müßiges Gedankenspiel. In Wirklichkeit reproduziert sie nur den Entwicklungsprozeß, der in Widersprüchen lebt und sich bewegt.

Der erste Band dieser Arbeit sollte klarmachen, weshalb das historisch verspätete demokratische Regime, das den Zarismus abgelöst hat, sich als völlig lebensunfähig erwies. Der vorliegende Band behandelt die Machteroberung durch die Bolschewiki. Grundlage der Darstellung ist auch hier die Erzählung. Der Leser soll in den Tatsachen selbst einen ausreichenden Stützpunkt für Schlußfolgerungen finden.

Der Autor will damit nicht sagen, daß er soziologische Verallgemeinerungen vermeidet. Die Geschichte hätte keinen Wert, wenn sie uns nichts lehren würde. Die machtvolle Planmäßigkeit der russischen Revolution, die Kontinuierlichkeit ihrer Etappen, die Unüberwindlichkeit des Massenvorstoßes, die Vollendung der politischen Gruppierungen, die Prägnanz der Parolen, all das erleichtert aufs äußerste das Verständnis für die Revolution im allgemeinen und damit auch für die menschliche Gesellschaft. Denn man darf durch den gesamten Verlauf der Geschichte als erwiesen betrachten, daß eine von inneren Widersprüchen zerrissene Gesellschaft nicht nur ihre Anatomie, sondern auch ihre „Seele“ gerade in der Revolution restlos enthüllt.

In einem unmittelbaren Sinne soll die vorliegende Arbeit beitragen zum Verständnis für den Charakter der Sowjetunion. Die Aktualität unseres Themas besteht nicht darin, daß die Oktoberumwälzung sich vor den Augen der heute noch lebenden Generation vollzogen hat – gewiß ist auch dies von nicht geringer Bedeutung –, sondern darin, daß das aus der Umwälzung hervorgegangene Regime lebt, sich weiter entwickelt und vor die Menschheit immer neue und neue Rätsel stellt. In der ganzen Welt verschwindet die Diskussion über das Land der Sowjets nicht von der Tagesordnung. Indes läßt sich das, was ist, nicht begreifen, bevor man sich nicht darüber klar wird, wie das Bestehende entstand. Für große politische Einschätzungen braucht man die historische Perspektive.

Die acht Revolutionsmonate, vom Februar bis Oktober 1917, haben zwei starke Bände erfordert. Die Kritik hat gegen uns im allgemeinen den Vorwurf der Weitschweifigkeit nicht erhoben. Der Maßstab der Arbeit läßt sich eher mit der Einstellung zum Material erklären. Man kann die photographische Aufnahme einer Hand geben: das füllt eine Seite. Um aber die Resultate einer mikroskopischen Untersuchung der Gewebe einer Hand darzustellen, braucht man einen ganzen Band. Der Autor macht sich keine Illusionen in bezug auf Fülle und Abgeschlossenheit der von ihm angestellten Untersuchung. Aber dennoch hatte er in vielen Fällen Methoden anzuwenden, die dem Mikroskop näher sind als dem photographischen Apparat.

In jenen Augenblicken, wo uns schien, daß wir die Langmut des Lesers mißbrauchten, haben wir großzügig Zeugenangaben, Geständnisse von Teilnehmern, nebensächliche Episoden gestrichen; aber danach nicht selten vieles von dem Gestrichenen wiederhergestellt. In diesem Ringen um Details leitete uns das Bestreben, so konkret wie möglich den Prozeß der Revolution selbst zu zeigen. Undenkbar war es im besonderen, nicht zu versuchen, den Vorzug restlos auszunutzen, daß diese Geschichte nach der lebendigen Natur geschrieben wurde.

Tausende und Abertausende von Büchern werden jährlich auf den Markt geworfen, um die neue Variante einer persönlichen Liebesgeschichte darzustellen, die Schwankungen eines Melancholikers oder die Karriere eines Ehrgeizigen zu schildern. Prousts Heldin braucht mehrere auserlesene Seiten, um zu fühlen, daß sie nichts fühlt. Man sollte meinen, mindestens mit gleichem Recht Beachtung fordern zu dürfen für kollektive historische Dramen, die hunderte Millionen menschlicher Wesen aus dem Nichtsein emporheben, den Charakter von Nationen verändern und für immer in das Leben der Menschheit eindringen.

Die Genauigkeit der Belege und Zitate des ersten Bandes wurde bisher von niemand bestritten: das wäre auch nicht leicht gewesen. Die Gegner beschränken sich zumeist auf Erwägungen über das Thema, persönliche Voreingenommenheit könne sich in künstlicher und einseitiger Auswahl der Tatsachen und Texte äußern. Unbestreitbar an sich, sagt diese Erwägung nichts aus über das gegebene Werk und noch weniger über dessen wissenschaftliche Methoden. Indes erlauben wir uns entschieden zu behaupten, daß der Koeffizient des Subjektivismus bestimmt, beschränkt und kontrolliert wird weniger vom Temperament des Historikers als vom Charakter seiner Methode.

Die rein psychologische Schule, die das Gewebe der Ereignisse als ein Geflecht freier Tätigkeit von einzelnen Personen oder deren Gruppierungen betrachtet, läßt den größten Raum für Willkür, sogar bei den allerbesten Absichten des Forschers. Die materialistische Methode diszipliniert, indem sie verpflichtet, von den schwerwiegenden Tatsachen der sozialen Struktur auszugehen. Grundlegende Kräfte des historischen Prozesses bilden für uns die Klassen; auf sie stützen sich politische Parteien; Ideen und Parolen treten hervor als Umgangsmünze der objektiven Interessen. Der gesamte Weg der Untersuchung führt vom Objektiven zum Subjektiven, vom Sozialen zum Individuellen, vom Kapitalen zum Konjunkturmäßigen. Der Autorwillkür sind hier harte Grenzen gesetzt.

Wenn ein Bergbauingenieur in unerforschtem Gebiet mittels Bohren Magneteisenerz entdeckt, darf man immer einen glücklichen Zufall annehmen: es empfiehlt sich noch nicht, ein Bergwerk zu bauen. Wenn aber der gleiche Ingenieur auf Grund, sagen wir, von Abweichungen der Magnetnadel zur Schlußfolgerung kommt, in der Erde müßten Erzlager verborgen sein, und dann tatsächlich an verschiedenen Stellen des Gebietes auf Eisenerz stößt, so wird auch der nörgelndste Skeptiker nicht wagen dürfen, dies Zufall zu nennen. Es überzeugt das System, welches das Allgemeine mit dem Einzelfall in Einklang bringt.

Die Beweise für den wissenschaftlichen Objektivismus sind nicht in den Augen des Historikers zu suchen und nicht in dem Klang seiner Stimme, sondern in der inneren Logik der Erzählung selbst: wenn Episoden, Zeugnisse, Ziffern, Zitate mit den allgemeinen Angaben der Magnetnadel der sozialen Analyse übereinstimmen, dann hat der Leser die ernsthafteste Garantie für die wissenschaftliche Fundierung der Schlußfolgerungen. Konkreter: der Autor ist in dem Maße dem Objektivismus treu, wie das vorliegende Buch die Unvermeidlichkeit der Oktoberumwälzung und die Ursachen ihres Sieges tatsächlich aufzeigt.

Der Leser weiß, daß wir in der Revolution vor allem die unmittelbare Einmischung der Massen in die Geschicke der Gesellschaft suchen. Hinter den Ereignissen sind wir Veränderungen des Kollektivbewußtseins zu entdecken bestrebt. Wir lehnen summarische Hinweise auf das „Elementare“ der Bewegung ab, die in den meisten Fällen nichts erklären und nichts lehren. Revolutionen vollziehen sich nach bestimmten Gesetzen. Das heißt nicht, daß die handelnden Massen sich über die Gesetze der Revolution klar Rechenschaft ablegen; aber es heißt, daß die Veränderungen des Massenbewußtseins nicht zufällig sind, sondern einer objektiven Notwendigkeit untergeordnet, die sich theoretisch bestimmen läßt und damit eine Basis für Voraussicht und Führung schafft.

Einige offizielle Sowjethistoriker haben versucht, so sehr das überraschen mag, unsere Konzeption als idealistisch zu kritisieren. Professor Pokrowski beispielsweise behauptete, daß wir die objektiven Faktoren der Revolution unterschätzten: „Zwischen dem Februar und dem Oktober ging ein kolossaler ökonomischer Zerfall vor sich ... ; während dieser Zeit erhob sich die Bauernschaft ... gegen die Provisorische Regierung“; gerade in diesen „objektiven Verschiebungen“ und nicht in den veränderlichen psychischen Prozessen sei die bewegende Kraft der Revolution zu sehen. Dank einer lobenswerten Schroffheit der Fragestellungen enthüllt Pokrowski am besten die Unzulänglichkeit der vulgär-ökonomischen Erklärung der Geschichte, die nicht selten als Marxismus ausgegeben wird.

Die im Verlauf einer Revolution stattfindenden radikalen Umwälzungen werden in Wirklichkeit hervorgerufen nicht durch jene episodischen Erschütterungen der Wirtschaft, die während der Ereignisse selbst erfolgen, sondern durch jene kapitalen Veränderungen, die sich in den Grundlagen der Gesellschaft während der ganzen vorangegangenen Epoche angehäuft haben. Daß am Vorabend des Sturzes der Monarchie, wie auch zwischen dem Februar und dem Oktober, der ökonomische Zerfall sich beständig vertiefte und dadurch die Massenunzufriedenheit nährte und aufreizte, ist unbestreitbar und wurde von uns niemals außer acht gelassen. Doch wäre es der gröbste Fehler, zu glauben, die zweite Revolution habe acht Monate nach der ersten stattgefunden infolge des Umstandes, daß die Brotration in dieser Zeit von anderthalb auf dreiviertel Pfund gesunken war. In den auf die Oktoberumwälzung folgenden Jahren verschlechterte sich die Ernährungslage der Massen dauernd. Dennoch brachen die Hoffnungen der konterrevolutionären Politiker auf eine neue Umwälzung immer wieder zusammen. Rätselhaft kann diese Tatsache nur dem erscheinen, der einen Aufstand der Massen als „elementar“ ansieht, das heißt als eine von Anführern geschickt ausgenutzte Herdenrebellion. In Wirklichkeit genügt allein das Vorhandensein von Entbehrungen für einen Aufstand nicht – andernfalls könnten die Massen jederzeit in Aufstand treten –; es ist notwendig, daß die endgültig bloßgelegte Unzulänglichkeit des gesellschaftlichen Regimes diese Entbehrungen unerträglich gestaltet und daß neue Bedingungen und neue Ideen die Perspektive eines revolutionären Ausweges eröffnen. Im Namen des großen Zieles, dessen sie sich bewußt geworden, erweisen sich dann die gleichen Massen fähig, doppelte und dreifache Entbehrungen zu ertragen.

Der Hinweis auf den Bauernaufstand als den zweiten „objektiven Faktor“ stellt noch ein augenfälligeres Mißverständnis dar. Für das Proletariat war der Bauernkrieg selbstverständlich ein objektiver Umstand, insofern überhaupt die Handlungen einer Klasse zu äußeren Antrieben für das Bewußtsein der anderen Klasse werden. Doch unmittelbare Ursache des Bauernaufstandes selbst waren die Veränderungen im Bewußtsein des Dorfes; die Aufdeckung ihres Charakters bildet den Inhalt eines Kapitels dieses Buches. Vergessen wir nicht, daß Revolutionen vollbracht werden von Menschen, wenn auch von namenlosen. Der Materialismus ignoriert nicht den fühlenden, denkenden und handelnden Menschen, sondern erklärt ihn. Worin sonst besteht die Aufgabe des Historikers? [1]

Einige Kritiker aus dem demokratischen Lager, geneigt, mit indirekten Indizien zu arbeiten, erblickten im „ironischen“ Verhalten des Autors zu den Versöhnlerführern den Ausdruck unzulässigen Subjektivismus’, der die Wissenschaftlichkeit der Darstellung entehre. Wir gestatten uns, dieses Kriterium nicht als überzeugend zu betrachten. Das Spinozasche Prinzip: „Nicht weinen, nicht lachen, sondern verstehen“, warnt nur vor deplaciertem Lachen und unangebrachten Tränen; doch beraubt es den Menschen, sogar den Historiker, nicht des Rechts auf seinen Teil Tränen und Lachen, wenn sie durch das richtige Verständnis für die Materie selbst gerechtfertigt sind. Die rein individualistische Ironie, die sich wie ein Hauch der Gleichgültigkeit über alle Handhabungen und Gedanken der Menschheit ausbreitet, ist die schlimmste Art Snobismus: sie ist gleichermaßen unecht im künstlerischen Werk wie in der historischen Arbeit. Doch gibt es eine Ironie, die in den Lebensbeziehungen selbst enthalten ist. Die Pflicht des Historikers wie des Künstlers bleibt, sie nach außen zu kehren.

Die Störung des Verhältnisses zwischen Subjektivem und Objektivem bildet, allgemein gesprochen, die Grundquelle des Komischen wie des Tragischen, im Leben wie in der Kunst. Das Gebiet der Politik ist am allerwenigsten von der Wirkung dieses Gesetzes ausgenommen. Menschen und Parteien sind heroisch oder lächerlich nicht an und für sich, sondern in ihrem Verhältnis zu den Umständen. Als die Französische Revolution in das entscheidende Stadium eingetreten war, erwies sich der hervorragendste Girondist als kläglich und lächerlich neben dem einfachen Jakobiner Jean-Marie Roland, eine ehrwürdige Figur als Lyoner Fabrikinspektor, sieht wie eine lebendige Karikatur aus auf dem Hintergrunde des Jahres 1792. Dagegen sind die Jakobiner den Ereignissen gewachsen. Sie mögen Feindschaft, Haß, Entsetzen hervorrufen, nicht aber Ironie.

Jene Heldin bei Dickens, die versucht, mit einem Besen die Meeresflut aufzuhalten, ist wegen des fatalen Mißverhältnisses zwischen Mittel und Ziel eine unverkennbar komische Gestalt. Wollten wir sagen, daß diese Person die Politik der Versöhnlerparteien in der Revolution symbolisiert, es würde als Übertreibung erscheinen. Und dennoch gestand Zeretelli, der tatsächliche Inspirator des Doppelherrschaftsregimes, nach der Oktoberumwälzung Nabokow, einem der liberalen Führer: „Alles, was wir damals unternahmen, war der vergebliche Versuch, mit lächerlichen Holzspänchen einen vernichtenden Elementarstrom aufzuhalten.“ Diese Worte klingen wie bittere Satire; indes sind es die wahrsten Worte, die die Versöhnler über sich selbst gesagt haben. Auf Ironie verzichten bei der Schilderung von „Revolutionären“, die mit Holzspänchen eine Revolution aufzuhalten versuchen, würde heißen, Pedanten zu Gefallen die Wirklichkeit bestehlen und den Objektivismus verraten.

Peter Struve, ein Monarchist aus der Mitte gewesener Marxisten, schrieb in der Emigration: „Logisch in der Revolution und ihrem Wesen treu war nur der Bolschewismus, und deshalb hat er in der Revolution gesiegt.“ Ähnlich urteilt über die Bolschewiki auch Mi1jukow, der Führer des Liberalismus: „Sie wußten, wohin sie gingen, und sie gingen die einmal eingeschlagene Richtung, auf ein Ziel los, das mit jedem neuen mißlungenen Experiment der Versöhnler immer näher rückte.“ Schließlich äußert sich einer von den weniger bekannten weißen Emigranten, der versuchte, auf seine Weise die Revolution zu begreifen, folgendermaßen: „Diesen Weg einschlagen konnten nur eiserne Menschen ... aus ihrem „Beruf“ heraus Revolutionäre, die keine Furcht hatten, den alles verzehrenden Rebellengeist ins Leben zu rufen.“ Von den Bolschewiki kann man mit noch größerem Recht behaupten, was oben von den Jakobinern gesagt wurde: sie sind der Epoche und ihren Aufgaben adäquat: geflucht wurde an ihre Adresse genügend, Ironie aber traf sie nicht: sie konnte nirgendwo einhaken.

Im Vorwort zum ersten Band ist erklärt, weshalb der Autor es für angebrachter hielt, von sich, als Teilnehmer der Ereignisse, in dritter Person zu sprechen und nicht in erster: diese literarische Form, die auch im zweiten Band beibehalten ist, schützt an sich selbstverständlich vor Subjektivismus nicht; doch zwingt sie mindestens nicht dazu. Mehr noch, sie mahnt an die Notwendigkeit, ihn zu meiden.

In vielen Fällen blieben wir zweifelnd davor stehen, ob das eine oder andere Urteil eines Zeitgenossen, das die Rolle des Autors dieses Buches im Gang der Ereignisse charakterisiert, anzuführen sei oder nicht. Man hätte mühelos auf manche Zitate verzichten können, ginge es nicht um etwas Größeres als um die konventionellen Regeln des guten Tones. Der Autor dieses Buches war Vorsitzender des Petrograder Sowjets, nachdem die Bolschewiki darin die Mehrheit erobert hatten; dann Vorsitzender des Militärischen Revolutionskomitees, das die Oktoberumwälzung organisierte. Diese Tatsachen kann und will er aus der Geschichte nicht streichen. Die heute in der USSR regierende Fraktion hat in den letzten Jahren zahllose Artikel und nicht wenig Bücher dem Autor der vorliegenden Arbeit gewidmet, wobei sie sich die Aufgabe stellte, nachzuweisen, daß seine Tätigkeit stets gegen die Interessen der Revolution gerichtet war: die Frage, weshalb die bolschewistische Partei einen so hartnäckigen „Gegner“ in den kritischsten Jahren auf die verantwortlichsten Posten stellte, bleibt dabei offen. Die retrospektiven Streitigkeiten völlig zu verschweigen, hätte gewissermaßen bedeutet, auf die Wiederherstellung des tatsächlichen Verlaufs der Ereignisse zu verzichten. Zu welchem Zwecke? Die Vorspiegelung der Uninteressiertheit benötigt nur, wer sich zum Ziele stellt, dem Leser verstohlen Schlußfolgerungen zu suggerieren, die sich nicht aus Tatsachen ergeben. Wir ziehen es vor, die Dinge bei ihrem vollen Namen zu nennen, im Einklang mit dem Wörterbuch.

Wir wollen nicht verheimlichen, daß es für uns dabei nicht nur um die Vergangenheit geht. Wie die Gegner, indem sie die Person angreifen, das Programm treffen wollen, so verpflichtet der Kampf um ein bestimmtes Programm die Person, ihren tatsächlichen Platz in den Ereignissen wiederherzustellen. Wer in dem Kampf um große Aufgaben und um den eigenen Platz unter dem Banner nichts zu sehen fähig ist als persönliche Eitelkeit, den können wir nur bedauern, ihn zu überzeugen versuchen wir nicht. Jedenfalls sind von uns alle Maßnahmen getroffen worden, damit „persönliche“ Fragen in diesem Buche nicht mehr Raum einnehmen, als ihnen von Rechts wegen zukommt.

Manche Freunde der Sowjetunion – nicht selten sind es nur Freunde der heutigen Sowjetbehörden und nur so lange, wie diese an der Macht bleiben – legten dem Autor seine kritische Stellung zur bolschewistischen Partei oder zu deren einzelnen Führern zur Last. Keiner jedoch hat auch nur den Versuch unternommen, das von uns gegebene Bild vom Zustand der Partei während der Ereignisse zu widerlegen oder zu korrigieren. Jene „Freunde“, die sich berufen fühlen, die Rolle der Bolschewiki in der Oktoberumwälzung gegen uns zu verteidigen, seien gewarnt, daß unser Buch nicht lehrt, wie man eine siegreiche Revolution hinterher liebt in Gestalt der von ihr hervorgebrachten Bürokratie, sondern nur, wie eine Revolution vorbereitet wird, wie sie sich entwickelt und wie sie siegt. Die Partei ist für uns kein Apparat, dessen Unfehlbarkeit durch Staatsrepressalien geschützt wird, sondern ein komplizierter Organismus, der, wie alles Lebendige, sich in Widersprüchen entwickelt. Die Aufdeckung dieser Widersprüche, darunter auch der Schwankungen und Fehler des Stabes, verringert, unserer Ansicht nach, nicht im geringsten die Bedeutung jener gigantischen historischen Arbeit, die die bolschewistische Partei als erste in der Weltgeschichte auf ihre Schultern geladen hat.

L. Trotzki
Prinkipo, 13. Mai 1932


Fußnote von Trotzki

1. Die Nachricht vom Tode M.N. Pokrowskis, mit dem wir auf den Seiten beider Bände mehr als einmal zu polemisieren gezwungen waren, kam, als wir unsere Arbeit bereits abgeschlossen hatten. Zum Marxismus aus dem liberalen Lager schon als fertiger Gelehrter gekommen, bereicherte Pokrowski die neueste historische Literatur durch wertvolle Arbeiten und Unternehmen; doch die Methode des dialektischen Materialismus hat er sich nie restlos angeeignet. Es ist Sache einfachster Gerechtigkeit, hinzufügen, daß Pokrowski nicht nur ein Mensch von außerordentlichem Wissen und hoher Begabung war, sondern auch von tiefer Ergebenheit für die Sache, der er diente.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008