Leo Trotzki

 

Gegen den Nationalkommunismus –
Lehren des „Roten“ Volksentscheids

(25. August 1931)


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Wenn diese Zeilen die Leser erreichen, werden bestimmte Passagen vielleicht veraltet sein. Dank der Bemühungen des Stalinschen Apparats, die von allen bürgerlichen Regierungen freundschaftlich unterstützt werden, lebt der Autor unter Bedingungen, die es ihm nicht ermöglichen, auf politische Ereignisse anders als mit einer Verspätung von einigen Wochen zu reagieren. Es muß hinzugefügt werden, daß er gezwungen ist, sich auf unvollständige Informationen zu stützen. Der Leser muß das in Rechnung stellen. Aber auch aus einer wenig günstigen Lage muß man versuchen, einigen Vorteil zu ziehen. Der Möglichkeit beraubt, auf die Ereignisse in all ihrer Konkretheit Tag für Tag zu reagieren, ist der Autor gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Punkte und die Kernfragen zu konzentrieren. Darin liegt die Rechtfertigung dieser Arbeit.
 

Wie alles auf den Kopf gestellt wird

Die Fehler der deutschen Kommunistischen Partei in der Frage des Volksentscheids gehören zu jenen Fehlern, die immer deutlicher als Fehler kenntlich werden und schließlich in die Lehrbücher der revolutionären Strategie als Exempel dafür eingehen, was man nicht tun darf.

An dem Verhalten des Zentralkomitees der deutschen Kommunistischen Partei ist alles fehlerhaft: Falsch ist die Einschätzung der Situation, falsch wird das nächste Ziel gestellt, falsch sind die Mittel, die gewählt werden, es zu erreichen. Außerdem hat es die Parteiführung verstanden, alle „Prinzipien“ auf den Kopf zu stellen, die sie während der letzten Jahre verteidigt hat.

Am 21. Juli wandte sich das Zentralkomitee mit demokratischen und sozialen Forderungen an die preußische Regierung und drohte für den Fall, daß sie nicht befriedigt würden, die Unterstützung des Volksentscheids an. Indem sie diese Forderungen vorschob, machte die stalinistische Bürokratie faktisch der Führungsspitze der sozialdemokratischen Partei den Vorschlag, unter bestimmten Bedingungen eine Einheitsfront gegen den Faschismus zu bilden. Nachdem die Sozialdemokratie diese Bedingungen abgelehnt hatte, bildeten die Stalinisten eine Einheitsfront mit den Faschisten gegen die Sozialdemokratie. Demnach wird die Politik der Einheitsfront nicht nur von „unten“, sondern auch von „oben“ verfolgt. Mithin ist es Thälmann erlaubt, sich an Braun und Severing mit einem „Offenen Brief“ zu wenden, der die gemeinsame Verteidigung der Demokratie und der Sozialgesetzgebung gegen Hitlers Banden vorschlägt. So zerstörten diese Leute – ohne es zu merken – ihre ganze Metaphysik der Einheitsfront „nur von unten“ durch den untauglichsten und skandalösen Versuch einer Einheitsfront „nur von oben“, überraschend für die Massen und gegen den Willen der Massen.

Ist die Sozialdemokratie nur eine Abart des Faschismus, wie kann man den Sozialfaschisten dann ein offizielles Angebot zur gemeinsamen Verteidigung der Demokratie machen? Als sie Kurs auf den Volksentscheid nahm, hat die Parteibürokratie den Nationalsozialisten keinerlei Bedingungen gestellt. Weshalb? Wenn Sozialdemokraten und Nationalsozialisten nur verschiedene Schattierungen von Faschismus darstellen, warum kann man dann den Sozialdemokraten Bedingungen stellen und den Faschisten nicht? Vielleicht, weil zwischen den beiden „Abarten“ gewisse qualitative Unterschiede in bezug auf die soziale Basis und die Methoden des Massenbetrugs bestehen? Aber dann soll man doch nicht die einen wie die anderen Faschisten nennen! Begriffe dienen in der Politik zur Unterscheidung der Dinge, nicht dazu, alles in einen Topf zu werfen.

Kann man aber sagen, daß Thälmann mit Hitler eine Einheitsfront gebildet hat? Die kommunistische Bürokratie bezeichnete Thälmanns Volksentscheid als den „roten“ im Unterschied zu Hitlers schwarzem oder braunem Volksentscheid. Es steht völlig außer Zweifel, daß es sich um zwei Parteien handelt, die einander als Todfeinde gegenüberstehen, und alle Lügen der Sozialdemokratie werden die Arbeiter das nicht vergessen machen. Aber es ist eine Tatsache: in einer bestimmten Kampagne hat die stalinistische Bürokratie die revolutionären Arbeiter in eine Einheitsfront mit den Nationalsozialisten gegen die Sozialdemokratie hineingezogen. Hätte wenigstens die Möglichkeit bestanden, auf den Stimmzetteln die Parteizugehörigkeit der Abstimmenden zu vermerken, so hätte man den Volksentscheid wenigstens damit rechtfertigen können (was in diesem Fall politisch völlig unzureichend gewesen wäre), daß es so möglich sei, die eigenen Kräfte abzuschätzen und sie gleichzeitig vom Faschismus abzugrenzen. Doch die bürgerliche „Demokratie“ hat in Weimar keine Vorsorge dafür getroffen, das Recht der Teilnehmer am Volksentscheid, ihre Parteizugehörigkeit zu vermerken, zu sichern. Alle Abstimmenden verschmelzen ununterscheidbar zu einer Masse, die auf eine bestimmte Frage die gleiche Antwort gibt. Im Rahmen dieser Frage ist die Einheitsfront mit den Faschisten eine unbestreitbare Tatsache.

So wurde von einem Tag auf den andern alles auf den Kopf gestellt.
 

„Einheitsfront“ – aber mit wem?

Welches politische Ziel verfolgte die Führung der KP mit ihrer Schwenkung? Je mehr offizielle Dokumente und Reden der Führer man liest, desto weniger begreift man es. Man sagt uns, die preußische Regierung bahne dem Faschismus den Weg. Das ist völlig richtig. Die Regierung Brüning, fügen die Führer der KPD hinzu, faschisieren die Republik und haben dabei schon ein gutes Stück Arbeit geleistet. Völlig richtig, sagen wir darauf. Aber ohne Braun in Preußen kann sich Brüning im Reich nicht halten, sagen uns die Stalinisten. Auch das ist richtig, erwidern wir. Bis zu diesem Punkt sind wir ganz einer Meinung. Aber welche politischen Konsequenzen ergeben sich daraus? Wir haben nicht die geringste Veranlassung, die Regierung Braun zu stützen, auch nur einen Schatten von Verantwortung für sie vor den Massen zu übernehmen, oder unseren politischen Kampf gegen die Regierung Brüning und ihre preußische Agentur um ein Jota abzuschwächen. Aber noch viel weniger Anlaß haben wir, den Faschisten dabei zu helfen, sich an die Stelle von Brüning und Braun zu setzen. Denn wenn wir zu Recht die Sozialdemokratie anklagen, dem Faschismus den Weg bereitet zu haben, so kann unsere Aufgabe am allerwenigsten darin bestehen, dem Faschismus diesen Weg abzukürzen.

Der Brief des Zentralkomitees der KPD an alle Zellen vom 27. Juli enthüllt besonders unbarmherzig die Unzulänglichkeit der Leitung, da es sich um ein Produkt kollektiver Untersuchung der Frage handelt. Abgesehen von der Verwirrung und den Widersprüchen besteht die wesentliche Aussage des Briefes in der Behauptung, es gebe letzten Endes keinerlei Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Faschisten, keinerlei Unterschied also zwischen dem Feind, der die Arbeiter unter Ausnutzung ihrer Langmut betrügt und verrät, und jenem, der sie einfach abschlachten will. Die Autoren des Offenen Briefes sehen die Unsinnigkeit einer derartigen Identifizierung, machen plötzlich eine Wendung und präsentieren den roten Volksentscheid als „entschiedene Anwendung der Einheitsfrontpolitik von unten (!) in bezug auf die sozialdemokratischen, christlichen und parteilosen Arbeiter“. Wieso die Beteiligung am Volksentscheid, Seite an Seite mit den Faschisten gegen Sozialdemokratie und Zentrum, eine Anwendung der Einheitsfrontpolitik gegenüber den sozialdemokratischen und christlichen Arbeitern sein soll, – das wird keinem Arbeiter in den Kopf gehen. Es handelt sich offenbar um jene sozialdemokratischen Arbeiter, die sich von ihrer Partei getrennt haben und am Volksentscheid teilnahmen. Wieviele sind das? Unter Einheitsfrontpolitik ist jedenfalls eine gemeinsame Aktion nicht mit jenen Arbeitern, die der Sozialdemokratie den Rücken gekehrt haben, zu verstehen, sondern mit denen, die in ihren Reihen bleiben. Unglücklicherweise gibt es davon noch sehr viele.

Die Frage des Kräfteverhältnisses

Der einzige Satz in der Thälmann-Rede vom 24. Juli, der wie eine ernsthafte Rechtfertigung der Schwenkung aussieht, lautet:

„Darum stellt der rote Volksentscheid unter Ausnutzung der Möglichkeiten einer legalen parlamentarischen Massenaktion einen Schritt vorwärts in der außerparlamentarischen Massenmobilisierung dar“.

Wenn diese Worte irgendeinen Sinn haben, so heißt das: Wir nehmen die parlamentarische Abstimmung zum Ausgangspunkt für unsere revolutionäre Offensive, um auf legalem Wege die Regierung der Sozialdemokratie und der mit ihr verbündeten Parteien der Mitte zu stürzen und später durch den revolutionären Druck der Massen den Faschismus zu stürzen, der der Erbe der Sozialdemokratie werden möchte. Mit anderen Worten: der preußische Volksentscheid ist nur das Sprungbrett für einen revolutionären Sprung. Ja – als Sprungbrett wäre der Volksentscheid vollauf gerechtfertigt. Ob neben den Kommunisten auch Faschisten abstimmen oder nicht, würde jede Bedeutung verlieren in dem Augenblick, wo das Proletariat durch seinen Vorstoß die Faschisten niederwirft und die Macht in seine Hände nimmt. Als Sprungbrett kann man jedes Brett benutzen, auch das des Volksentscheids. Man muß nur die Möglichkeit haben, den Sprung tatsächlich zu machen, nicht in Worten, sondern in Wirklichkeit. Das Problem ist also das Kräfteverhältnis. Auf die Straße gehen mit der Losung „Nieder mit der Brüning-Braun-Regierung!“, wenn – aufgrund des Kräfteverhältnisses – diese Regierung nur durch eine Regierung Hitler-Hugenberg ersetzt werden kann, ist reines Abenteurertum. Die gleiche Parole bekommt jedoch einen völlig anderen Sinn, wenn sie zur Einleitung des unmittelbaren Kampfes des Proletariats um die Macht wird. Im ersten Falle müßten die Kommunisten den Massen als Helfershelfer der Reaktion erscheinen; im anderen würde die Frage, wie die Faschisten gestimmt haben, bevor sie vom Proletariat zerschmettert wurden, alle politische Bedeutung verlieren.

Wir betrachten also die Frage der gemeinsamen Abstimmung mit den Faschisten nicht unter dem Gesichtspunkt irgendeines abstrakten Prinzips, sondern unter dem Aspekt des Kampfes der wirklichen Klassen um die Macht und des Kräfteverhältnisses im jetzigen Stadium dieses Kampfes.
 

Ein Blick auf die russische Erfahrung

Man kann sicher sein, daß im Augenblick des proletarischen Aufstands der Unterschied zwischen der sozialdemokratischen Bürokratie und den Faschisten minimal sein wird, wenn nicht gleich Null. In den Oktobertagen haben die russischen Menschewisten und die Sozialrevolutionäre Hand in Hand mit den Kadetten, den Kornilow-Anhängern und den Monarchisten gegen das Proletariat gekämpft. Die Bolschewiki gingen im Oktober aus dem Vorparlament auf die Straße, um die Massen zum bewaffneten Aufstand aufzurufen. Wenn damals irgendeine Gruppe von Monarchisten gleichzeitig mit den Bolschewiki das Vorparlament verlassen hätte, so hätte das keinerlei politische Bedeutung gehabt, weil die Monarchisten zusammen mit den Demokraten gestürzt wurden.

Zum Oktoberaufstand ist die Partei aber über eine Reihe von Stufen gekommen. Während der Aprildemonstration 1917 hatte ein Teil der Bolschewiki die Losung „Nieder mit der provisorischen Regierung!“ aufgestellt. Das Zentralkomitee wies die Ultralinken sofort zurecht: Wir müssen die Notwendigkeit propagieren, die Provisorische Regierung zu stürzen; aber wir können die Massen noch nicht unter dieser Parole auf die Straße rufen, weil wir noch eine Minderheit in der Arbeiterklasse sind. Würden wir unter diesen Bedingungen tatsächlich die Provisorische Regierung stürzen, könnten wir sie nicht ablösen und würden folglich der Konterrevolution helfen. Man muß die Massen geduldig über den volksfeindlichen Charakter dieser Regierung aufklären, ehe die Stunde für ihren Sturz kommt. Das war die Position der Partei.

In der folgenden Periode war die Parole der Partei: „Nieder mit den Minister-Kapitalisten!“ Das war die Forderung an die Sozialdemokraten, die Koalition mit der Bourgeoisie zu brechen. Im Juli leiteten wir die Demonstration der Arbeiter und Soldaten unter der Losung „Alle Macht den Räten!“, und das hieß in jenem Augenblick: Alle Macht den Menschewiki und Sozialrevolutionären! Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre aber haben uns dann gemeinsam mit den Weißgardisten niedergeschlagen.

Zwei Monate später erhob sich Kornilow gegen die Provisorische Regierung. Im Kampf gegen Kornilow bezogen die Bolschewiki unverzüglich die vordersten Positionen. Lenin war in diesem Augenblick in der Illegalität. Tausende von Bolschewisten saßen in den Gefängnissen. Arbeiter, Soldaten und Matrosen forderten die Befreiung ihrer Führer und der Bolschewiki überhaupt. Die Provisorische Regierung lehnte das ab. Hätte nun nicht das bolschewistische Zentralkomitee der Kerenski-Regierung ein Ultimatum stellen sollen: Sofortige Freilassung der Bolschewiki und Zurücknahme der niederträchtigen Beschuldigung, sie stünden im Dienst der Hohenzollern, und – im Falle der Weigerung Kerenskis – die Weigerung der Bolschewiki, gegen Kornilow zu kämpfen? So hätte sicherlich das Zentralkomitee Thälmann-Remmele-Neumann gehandelt, nicht aber das bolschewistische Zentralkomitee. Lenin schrieb damals:

„Es wäre der größte Irrtum zu glauben, das revolutionäre Proletariat könnte, sozusagen um sich an den Sozialrevolutionären und Menschewiki für deren Mithilfe bei der Niederschlagung der Bolschewiki, bei den Erschießungen an der Front und bei der Entwaffnung der Arbeiter zu ‚rächen‘, es ‚ablehnen‘, sie gegen die Konterrevolution zu unterstützen. Die Frage so stellen, würde erstens bedeuten, spießbürgerliche Moralbegriffe auf das Proletariat übertragen (denn wenn es der Sache nutzt, wird das Proletariat stets nicht nur das schwankende Kleinbürgertum, sondern auch die Großbourgeoisie unterstützen); zweitens wäre es, und das ist das Wichtigste, ein spießbürgerlicher Versuch, den politischen Kern der Sache durch ‚Moralisieren‘ zu verschleiern.“

Hätten wir im August Kornilow keinen Widerstand geleistet und ihm dadurch den Sieg ermöglicht, so hätte er zuallererst die Blüte der Arbeiterklasse ausgerottet und uns damit gehindert, zwei Monate später den Sieg über die Versöhnler zu erringen, und sie nicht nur verbal, sondern wirklich für ihre historischen Verbrechen zu bestrafen.

Thälmann und Co. arbeiten mit „spießbürgerlichen Moralbegriffen“ wenn sie zur Rechtfertigung ihrer Schwenkung die zahllosen Schandtaten der sozialdemokratischen Führer aufzählen!
 

Mit gelöschten Lichtern

Historische Analogien sind nur Analogien. Von einer Identität der Umstände und der Aufgaben kann keine Rede sein. Doch in der Sprache der Analogien können wir fragen: Stand in Deutschland im Augenblick des Volksentscheids die Frage der Verteidigung gegen Kornilow auf der Tagesordnung oder stand man tatsächlich am Vorabend des Umsturzes des ganzen bürgerlichen Regimes durch das Proletariat? Diese Frage wird nicht durch abstrakte Prinzipien oder polemische Formeln entschieden, sondern durch das Kräfteverhältnis. Wie genau und gewissenhaft haben die Bolschewiki in jeder Phase der Revolution das Kräfteverhältnis studiert, kalkuliert und gemessen! Hat die Leitung der deutschen KP, als sie in den Kampf ging, auch nur versucht, eine vorläufige Bilanz der miteinander ringenden Kräfte zu ziehen? Weder in den Artikeln noch in den Reden finden wir eine solche Bilanz. Wie ihr Lehrer Stalin treiben seine Berliner Schüler eine Politik mit gelöschten Lichtern.

Thälmann hat seine Erwägungen über die entscheidende Frage des Kräfteverhältnisses auf zwei oder drei allgemeine Phrasen beschränkt. „Wir leben nicht mehr 1923“, sagte er in seinem Referat. „Die Kommunistische Partei von heute ist eine Partei von vielen Millionen, die rasend wächst“. Das ist alles! Thälmann hätte nicht klarer zeigen können, in welchem Maße ihm das Verständnis für den Unterschied der Situationen von 1923 und 1931 abgeht! Damals fiel die Sozialdemokratie in Stücke. Die Arbeiter, die die Reihen der Sozialdemokratie noch nicht hatten verlassen können, richteten ihre Augen hoffnungsvoll auf die Kommunistische Partei. Damals war der Faschismus eher eine Vogelscheuche im Küchengarten der Bourgeoisie als eine ernste politische Realität. Der Einfluß der Kommunistischen Partei auf Gewerkschaften und Betriebsräte war 1923 unvergleichlich stärker als heute. Die Betriebsräte erfüllten damals faktisch die Funktionen von Sowjets. Die sozialdemokratische Bürokratie verlor mit jedem Tag an Terrain in den Gewerkschaften.

Die Tatsache, daß die Situation von 1923 von der opportunistischen Führung der Komintern und der KPD nicht genutzt worden ist, lebt bis heute im Bewußtsein der Klassen und Parteien und in ihren gegenseitigen Beziehungen fort. Die Kommunistische Partei, sagt Thälmann, ist heute eine Partei von Millionen. Wir freuen uns darüber und sind stolz darauf. Aber wir vergessen nicht, daß auch die Sozialdemokratie noch immer eine Partei ist, die Millionen von Menschen beeinflußt. Wir vergessen nicht, daß infolge der Kette erschreckender Fehler der Epigonen in den Jahren 1923 bis 1931 die heutige Sozialdemokratie eine viel größere Widerstandskraft bekundet als die von 1923. Wir vergessen nicht, daß der heutige Faschismus, der seine Kraft aus dem Verrat der Sozialdemokratie und den Fehlern der stalinistischen Bürokratie gesogen hat, ein gewaltiges Hindernis auf dem Wege zur Machteroberung durch das Proletariat ist. Die Kommunistische Partei beeinflußt Millionen von Menschen. Aber wegen der früheren Strategie der „dritten Periode“, der Periode der konzentrierten bürokratischen Dummheit, ist die Partei heute noch sehr schwach in den Gewerkschaften und Betriebsräten. Den Kampf um die Macht kann man nicht führen, wenn man sich einzig auf die Stimmen des Volksentscheids stützt. Man muß Stützpunkte in Betrieben und Werkstätten, in den Gewerkschaften und Betriebsräten haben. Thälmann vergißt das alles und ersetzt die Situationsanalyse durch starke Worte.

Nur einer, der vom Mond gefallen wäre, könnte behaupten, die deutsche Kommunistische Partei sei im Juli-August 1931 stark genug gewesen, um den offenen Kampf mit der bürgerlichen Gesellschaft – in Gestalt ihrer beiden Flügel: Sozialdemokratie und Faschismus – aufzunehmen. Die Parteibürokratie glaubt das selbst nicht. Wenn sie zu diesem Argument greift, so nur, weil der Volksentscheid gescheitert ist, und weil sie folglich kein weiteres Examen zu bestehen brauchte. In dieser Verantwortungslosigkeit, in dieser Blindheit und sinnlosen Effekthascherei findet die abenteuerliche Hälfte der Seele des stalinistischen Zentrismus ihren Ausdruck!
 

“Volksrevolution“ statt proletarischer Revolution

Der auf den ersten Blick „unerwartete“ Zickzack vom 21. Juli kam keineswegs wie ein Blitz aus heiterem Himmel, sondern war durch den gesamten politischen Kurs der letzten Periode vorbereitet. Daß die KPD von dem aufrichtigen und glühenden Willen geleitet wird, den Faschismus zu besiegen, die Massen seinem Einfluß zu entreißen, ihn niederzuwerfen und zu vernichten – daran kann natürlich keinerlei Zweifel bestehen. Das Unglück ist, daß die stalinistische Bürokratie mehr und mehr dazu tendiert, den Faschismus mit dessen eigenen Waffen zu bekämpfen: sie borgt Farben von seiner politischen Palette und strengt sich an, ihn auf der Patriotismus-Auktion zu überschreien. Das sind nicht Methoden und Prinzipien einer Klassenpolitik, sondern die Kniffe der kleinbürgerlichen Konkurrenz.

Es ist schwer, sich eine beschämendere prinzipielle Kapitulation vorzustellen als diejenige, die die stalinistische Bürokratie mit ihrer Ersetzung der Losung der proletarischen Revolution durch die der Volksrevolution vollzogen hat. Keine Spitzfindigkeiten, kein Spiel mit Zitaten, keine historische Fälschung kann darüber betrügen, daß es sich um einen prinzipiellen Verrat am Marxismus zum Zwecke besserer Nachahmung der faschistischen Scharlatanerie handelt. Ich bin gezwungen, hier zu wiederholen, was ich darüber vor einigen Monaten geschrieben habe:

Natürlich ist jede große Revolution eine Volksrevolution oder nationale Revolution in dem Sinne, daß sie alle lebensfähigen und schöpferischen Kräfte der Nation um die revolutionäre Klasse schart, die Nation um einen neuen Kern herum organisiert. Aber das ist keine Kampfparole, sondern eine soziologische Beschreibung der Revolution, die ihrerseits genaue und konkrete Begriffe erfordert. „Volksrevolution“ als Slogan ist eine Leerformel, Scharlatanerie; macht man den Faschisten auf diese Art Konkurrenz, so ist der Preis, daß man die Köpfe der Arbeiter mit Verwirrung erfüllt.

Die Entwicklung der Losungen der Komintern ist gerade in dieser Frage eindrucksvoll. Seit dem III. Weltkongreß wurde die Losung „Klasse gegen Klasse“ zum populären Ausdruck der proletarischen Einheitsfrontpolitik. Das war völlig richtig: alle Arbeiter sollten sich gegen die Bourgeoisie zusammenschließen. Daraus wurde später ein Bündnis mit den reformistischen Bürokraten gegen die Arbeiter (die Erfahrung des englischen Generalstreiks). Dann mußte die Losung für das entgegengesetzte Extrem herhalten: Keine Abkommen mit den Reformisten, „Klasse gegen Klasse“. Gerade die Losung, die dazu dienen sollte, die sozialdemokratischen Arbeiter enger an die kommunistischen heranzuziehen, erhielt in der „dritten Periode“ die Bedeutung: Kampf gegen die sozialdemokratischen Arbeiter wie gegen eine andere Klasse. Nun die neue Wendung: Volksrevolution anstelle der proletarischen Revolution. Der Faschist Strasser sagt: 95 Prozent der Bevölkerung haben Interesse an der Revolution, folglich ist das keine Klassen-, sondern eine Volksrevolution. Thälmann stimmt in den Chor ein. Die Arbeiter-Kommunisten müßten dem faschistischen Arbeiter sagen: Natürlich werden 95, wenn nicht 98 Prozent der Bevölkerung vom Finanzkapital ausgebeutet. Aber diese Ausbeutung ist hierarchisch organisiert: es gibt Ausbeuter, Nebenausbeuter, Hilfsausbeuter usw. Nur dank dieser Hierarchie herrschen die Oberausbeuter über die Mehrheit der Bevölkerung. Damit sich die Nation tatsächlich um einen neuen Klassenkern reorganisieren kann, muß sie ideologisch reorganisiert werden, und das ist nur möglich, wenn sich das Proletariat selbst nicht im „Volk“ oder in der „Nation“ auflöst, sondern im Gegenteil ein Programm seiner proletarischen Revolution entwickelt und das Kleinbürgertum zwingt, zwischen zwei Regimen zu wählen. Die Losung der Volksrevolution lullt das Kleinbürgertum ebenso wie die breiten Massen der Arbeiter ein, versöhnt sie mit der bürgerlich-hierarchischen Struktur des „Volkes“ und verzögert ihre Befreiung. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Deutschland verwischt die Losung einer Volksrevolution“ die ideologische Demarkation zwischen Marxismus und Faschismus und versöhnt Teile der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums mit der faschistischen Ideologie, da sie ihnen gestattet zu glauben, daß sie keine Wahl treffen müssen, wenn es doch in beiden Lagern um eine Volksrevolution geht.“

„Volksrevolution“ als Mittel „nationaler Befreiung“

Ideen haben ihre Logik. Die „Volksrevolution“ wird als ein Hilfsmittel zur „nationalen Befreiung“ propagiert. Diese Art Fragestellung hat chauvinistischen Tendenzen den Weg in die Partei geöffnet. Es ist natürlich nicht schlimm, daß sich verzweifelte Patrioten aus dem Lager des kleinbürgerlichen Chauvinismus der Partei des Proletariats nähern: verschiedenartigste Elemente kommen auf verschiedenen Wegen und Pfaden zum Kommunismus. In den Reihen der weißgardistischen und Schwarzhundert-Offiziere, die sich allem Anschein nach in den letzten Monaten dem Kommunismus zugewandt haben, gibt es zweifellos – neben Karrieristen und gescheiterten Abenteurern – auch aufrechte und ehrliche Elemente. Die Partei kann selbstverständlich auch solche individuellen Metamorphosen als Hilfsmittel zur Zersetzung des faschistischen Lagers ausnutzen. Das Verbrechen aber, ja, das wirkliche Verbrechen der stalinistischen Bürokratie besteht darin, daß sie sich mit diesen Elementen solidarisiert, deren Stimme mit der der Partei identifiziert, sich weigert, ihre nationalistischen und militaristischen Tendenzen zu entlarven, und statt dessen die durch und durch kleinbürgerliche, reaktionär-utopische und chauvinistische Broschüre Scheringers für ein neues Evangelium des revolutionären Proletariats ausgibt. Dieser schäbigen Konkurrenz mit dem Faschismus entstammt die auf den ersten Blick unerwartete Entscheidung vom 21. Juli: Ihr habt eine Volksrevolution, wir haben auch eine; bei Euch ist die nationale Befreiung ein höchster Wert, bei uns ebenso; Ihr proklamiert den Krieg gegen den westlichen Kapitalismus, wir versprechen dasselbe; bei Euch gibt es einen Volksentscheid, auch wir machen einen, einen noch besseren, einen durch und durch „roten“ Volksentscheid.

Es ist Tatsache, daß der ehemals revolutionäre Arbeiter Thälmann heute alle möglichen Anstrengungen macht, um nicht hinter dem Grafen Stenbock-Fermor zurückzubleiben. Der Bericht über die Versammlung der Parteiarbeiter, in der Thälmann die Schwenkung zum Volksentscheid proklamiert hat, wurde in Die Rote Fahne unter der prätentiösen Überschrift Unter dem Banner des Marxismus veröffentlicht. Aber Thälmanns Schlußfolgerungen gipfeln in dem Gedanken, daß „Deutschland heute ein Spielball in den Händen der Entente ist“. Es geht also vor allem um die „nationale Befreiung“.

Aber in gewissem Sinne sind auch Frankreich, Italien und sogar England „Spielbälle“ in den Händen der Vereinigten Staaten. Europas Abhängigkeit von Amerika, die anläßlich des Hoover-Vorschlags abermals deutlich geworden ist (und morgen noch schroffer und brutaler zutage treten wird), ist für die Entwicklung der europäischen Revolution von weitaus größerer Bedeutung als die Abhängigkeit Deutschlands von der Entente. Darum ist (nebenbei gesagt) die Losung der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa – und nicht nur die isolierte Parole „Nieder mit dem Versailler Vertrag“ – die proletarische Antwort auf die Konvulsionen des europäischen Kontinents.

Aber diese Fragen sind dennoch nur Fragen zweiter Ordnung. Unsere Politik wird nicht davon bestimmt, daß Deutschland ein „Spielball“ in Händen der Entente ist, sondern in erster Linie dadurch, daß das gespaltene, geschwächte und erniedrigte deutsche Proletariat ein Spielball in den Händen der deutschen Bourgeoisie ist. „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“, lehrte früher Karl Liebknecht. Habt Ihr das vergessen, Freunde? Oder taugt diese Lehre vielleicht nicht mehr? Für Thälmann ist sie offensichtlich veraltet. Liebknecht ist durch Scheringer ersetzt worden. Darum ist die Überschrift „Unter dem Banner des Marxismus“ eine bittere Ironie.
 

Der bürokratische Zentrismus – eine Schule der Kapitulation

Vor einigen Jahren warnte die Linke Opposition, die „echt-russische“ Theorie vom Sozialismus in einem Lande werde unweigerlich sozialpatriotische Tendenzen in den übrigen Sektionen der Kommunistischen Internationale heraufbeschwören. Damals schien das eine Phantasie zu sein, eine böswillige Erfindung, eine „Verleumdung“. Aber Ideen haben nicht nur ihre Logik, sondern auch explosive Gewalt. Die deutsche Kommunistische Partei ist vor unseren Augen sehr rasch in die Sphäre des Sozialpatriotismus abgeglitten, d.h. in Tendenzen und Parolen, denen die Komintern bei ihrer Gründung Todfeindschaft geschworen hatte. Ist das erstaunlich? Nein, gesetzmäßig.

Die Methode der geistigen Anpassung an den Gegner und Klassenfeind – die zu Theorie und Psychologie des Bolschewismus in prinzipiellem Gegensatz steht – ergibt sich organisch aus dem Wesen des Zentrismus, aus seiner Prinzipienlosigkeit, Inkonsistenz und seiner leeren Ideologie. So hat die Stalinsche Bürokratie einige Jahre hindurch eine thermidorianische Politik verfolgt, um den Thermidorianern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aus Furcht vor der Linken Opposition begann die Stalinbürokratie dann, stückweise die Plattform der Linken zu imitieren. Um die englischen Arbeiter der Macht des Tradeunionismus zu entreißen, ersetzten die Stalinisten die marxistische Politik durch die des Tradeunionismus. Um den chinesischen Arbeitern und Bauern zu helfen, einen unabhängigen Weg zu finden, trieben die Stalinisten sie in die bürgerliche Kuomintang hinein. Man könnte diese Aufzählung ohne Ende fortsetzen. In großen wie in kleinen Fragen sehen wir stets die gleiche Mimikry, die beständige Nachahmung der Ideen des Gegners, den Versuch, den Feind nicht mit eigenen Waffen zu schlagen – die man leider nicht besitzt –, sondern mit aus dem Arsenal des Feindes gestohlenen.

Das gegenwärtige Parteiregime arbeitet im gleichen Sinne. Wir haben mehr als einmal gesagt und geschrieben, daß die Autokratie des Apparats unvermeidlich die führende Schicht der Komintern demoralisiert, indem sie die fortgeschrittenen Arbeiter erniedrigt und unselbständig macht, revolutionäre Charaktere zermürbt und verdirbt und die proletarische Avantgarde dem Feind gegenüber schwächt. Wer vor jedem Ukas von oben servil den Kopf beugt, ist als revolutionärer Kämpfer unbrauchbar.

Die zentristischen Bürokraten waren Sinowjewisten unter Sinowjew, Bucharinisten unter Bucharin, Stalinisten und Molotowanhänger, als deren Zeit gekommen war. Sie haben ihr Haupt sogar vor Manuilski, Kuusinen und Losowski gebeugt. Sie haben in jeder Phase die Parolen, den Tonfall und die Grimassen des „Chefs“ des Tages nachgemacht, sagten sich auf Kommando von dem los, dem sie gestern Treue geschworen hatten, und pfiffen – zwei Finger im Munde – den in Ungnade gefallenen Chef aus, den sie gestern noch in den Himmel gehoben hatten. In diesem verhängnisvollen Regime wird die revolutionäre Männlichkeit kastriert, das theoretische Bewußtsein leer, das Rückgrat biegsam. Nur Bürokraten, die die Schule Sinowjew Stalins durchlaufen haben, konnten mit solcher Leichtigkeit die Volksrevolution anstelle der proletarischen setzen und, nachdem sie die Bolschewiki-Leninisten für Renegaten erklärt hatten, Chauvinisten vom Typus Scheringer auf ihre Schultern heben.
 

“Revolutionärer Krieg“ und Pazifismus

Scheringer, Stenbock-Fermor und ihresgleichen betrachten die Sache der Kommunistischen Partei großzügig als unmittelbare Fortsetzung des Hohenzollern-Krieges. Die Opfer der niederträchtigsten imperialistischen Schlächterei sind für sie Helden, die für die Freiheit des deutschen Volkes fielen. Sie sind gern bereit, den neuen Krieg um Elsaß-Lothringen und Ostpreußen als einen „revolutionären“ zu bezeichnen. Sie sind – einstweilen in Worten – gewillt, die „Volksrevolution“ zu akzeptieren, sofern sie als Mittel zur Mobilisierung der Arbeiter für ihren „revolutionären“ Krieg dienen kann. Ihr ganzes Programm ist der Revanchegedanke; sollte es ihnen morgen möglich scheinen, dies Ziel mit andern Mitteln zu erreichen, werden sie nicht zögern, den revolutionären Proletariern in den Rücken zu schießen. All das muß klargestellt, nicht verschwiegen werden. Man muß die Wachsamkeit der Arbeiter wecken, nicht einschläfern. Aber was tut die Partei?

In der kommunistischen Fanfare vom 1. August wird, mitten in der Agitation für den roten Volksentscheid, neben einem Porträt Scheringers eine seiner neuen apostolischen Botschaften abgedruckt. Darin heißt es wörtlich: „Die Sache der Toten des Weltkrieges, die ihr Leben für ein freies Deutschland gelassen haben, verrät jeder, der heute gegen die Volksrevolution auftritt, gegen den revolutionären Befreiungskrieg“. Man traut seinen Augen nicht, liest man das auf den Seiten einer Presse, die sich kommunistisch nennt. Und all das wird mit den Namen Liebknecht und Lenin gedeckt. Was für eine lange Peitsche würde Lenin nehmen, um mit einem solchen Kommunismus polemisch abzurechnen! Und er würde sich mit polemischen Artikeln nicht begnügen. Er würde einen außerordentlichen internationalen Kongreß fordern, um die Reihen der proletarischen Avantgarde unbarmherzig vom Krebs des Chauvinismus zu befreien.

„Wir sind keine Pazifisten“, antworten stolz die Thälmann, Remmele usw. „Wir sind prinzipiell für den revolutionären Krieg.“ Sie sind bereit, uns zum Beweis einige Zitate aus Marx und Lenin anzuführen, die die unwissenden „roten Professoren“ in Moskau für ihre Zwecke ausgesucht haben. Man könnte wirklich glauben, Marx und Lenin wären Verkünder des nationalen und nicht des proletarischen Krieges gewesen! Als hätte der Begriff des revolutionären Krieges bei Marx und Lenin etwas gemein mit der nationalistischen Ideologie faschistischer Offiziere und zentristischer Unteroffiziere. Mit der billigen Phrase vom revolutionären Krieg zieht die stalinistische Bürokratie ein Dutzend Abenteurer an, stößt aber Hunderttausende und Millionen von sozialdemokratischen, christlichen und parteilosen Arbeitern ab.

„Ihr empfehlt also, daß wir uns dem sozialdemokratischen Pazifismus anpassen“, wird irgendein besonders tiefsinniger Theoretiker des neuesten Kurses einwenden. Nein, wir sind nicht einmal geneigt, uns den Stimmungen der Arbeiterklasse anzupassen, aber sie in Rechnung stellen – das ist unentbehrlich. Nur wenn man die Stimmungen der breiten Massen des Proletariats richtig einschätzt, kann man sie zur Revolution führen. Aber die Bürokratie, die sich der Phraseologie des kleinbürgerlichen Nationalismus anpaßt, ignoriert die wirkliche Stimmung der Arbeiter, die den Krieg nicht wollen, ihn nicht wollen können und von der kriegerischen Prahlerei der neuen Firma Thälmann-Scheringer-Graf Sternbock-Fermor-Heinz Neumann und Co. abgestoßen werden.

Für den Fall der proletarischen Machteroberung muß der Marxismus natürlich mit der Möglichkeit eines revolutionären Krieges rechnen. Aber aus dieser historischen Möglichkeit, die durch den Gang der Ereignisse nach der Machteroberung aufgezwungen werden kann, eine politische Kampflosung vor der Machteroberung zu machen, ist etwas anderes. Der revolutionäre Krieg als eine unter bestimmten Bedingungen erzwungene Folge des proletarischen Sieges ist eine Sache. Die „Volks“-Revolution als Mittel zum revolutionären Kriege ist ganz etwas anderes, sogar etwas völlig Entgegengesetztes.

Trotz ihrer prinzipiellen Anerkennung des revolutionären Krieges hat bekanntlich die Sowjetregierung den harten Friedensvertrag von Brest-Litowsk unterschrieben. Warum? Weil die Bauern und Arbeiter, abgesehen von einer kleinen revolutionären Schicht, keinen Krieg wollten. Die gleichen Bauern und Arbeiter haben dann die Sowjetrevolution gegen unzählige Feinde heroisch verteidigt. Aber als wir versuchten, den uns von Pilsudski aufgezwungenen Verteidigungskrieg in einen Angriffskrieg umzuwandeln, erlitten wir eine Niederlage, und dieser aus einer falschen Einschätzung der Kräfte geborene Fehler hat die Entwicklung der Weltrevolution sehr schwer getroffen.

Die Rote Armee besteht schon seit 14 Jahren. „Wir sind keine Pazifisten.“ Aber warum proklamiert die Sowjetregierung bei jeder Gelegenheit ihre Friedens-Politik? Warum macht sie Abrüstungs-Vorschläge und schließt Nichtangriffs-Pakte ab? Warum bedient sie sich nicht der Roten Armee als eines Instruments der Weltrevolution? Es scheint, daß es nicht genügt, im Prinzip für den revolutionären Krieg zu sein. Man muß außerdem einen Kopf auf den Schultern haben. Man muß den Umständen, dem Kräfteverhältnis und der Stimmung der Massen Rechnung tragen.

Gilt das schon für eine Arbeiterregierung, die über einen mächtigen Zwangsapparat verfügt, so muß eine revolutionäre Partei noch sehr viel aufmerksamer die Stimmungen der Arbeiter und der werktätigen Massen in Rechnung stellen, weil sie nur durch Überzeugung wirken kann. Die Revolution ist für uns kein Mittel für einen Krieg gegen den Westen, sondern im Gegenteil ein Mittel, um Kriege zu vermeiden, um sie für immer unmöglich zu machen. Wir bekämpfen die Sozialdemokratie nicht, indem wir den Friedenswillen, der jedem Arbeiter eigen ist, lächerlich machen, sondern indem wir ihren falschen Pazifismus entlarven; denn die kapitalistische Gesellschaft, die die Sozialdemokratie Tag für Tag zu retten sucht, ist ohne Krieg undenkbar. Die „nationale Befreiung“ Deutschlands liegt für uns nicht im Krieg mit dem Westen, sondern in der proletarischen Revolution, die Zentral- und Westeuropa erfaßt und sie mit Osteuropa in Form der Vereinigten Sowjetstaaten verbindet. Nur wenn man die Frage so stellt, kann man die Arbeiterklasse einigen und sie zum Attraktionspunkt der verzweifelten kleinbürgerlichen Massen machen. Soll das Proletariat der heutigen Gesellschaft seinen Willen aufzwingen, darf seine Partei sich nicht schämen, eine proletarische Partei zu sein und seine Sprache zu sprechen: nicht die der nationalen Rache, sondern die der proletarischen Revolution.
 

Wie mußten Marxisten urteilen?

Der „Rote Volksentscheid“ ist nicht vom Himmel gefallen; er ist Produkt der weit fortgeschrittenen ideologischen Degeneration der Partei. Aber er bleibt trotzdem das beschämendste Abenteuer, das man je gesehen hat. Der Volksentscheid wurde keineswegs zum Ausgangspunkt für den revolutionären Kampf um die Macht. Er blieb ganz und gar im Rahmen eines parlamentarischen Hilfsmanövers. Durch den Volksentscheid hat sich die Partei eine selbstausgeklügelte, kombinierte Niederlage zugefügt. Sie hat die Sozialdemokratie und damit die Brüning-Regierung gestärkt, die Niederlage der Faschisten verdeckt, die sozialdemokratischen Arbeiter und einen beträchtlichen Teil ihrer eigenen Wähler abgestoßen, und war am Tage nach dem Volksentscheid bedeutend schwächer als vorher. Einen besseren Dienst konnte man dem deutschen und dem Weltkapitalismus nicht erweisen.

Die kapitalistische Gesellschaft befand sich, vor allem in Deutschland, in den letzten anderthalb Jahrzehnten einige Male am Vorabend ihres Zusammenbruchs, hat sich aber jedesmal wieder vor der Katastrophe gerettet. Die ökonomischen und sozialen Vorbedingungen allein genügen nicht zur Revolution. Nötig sind außerdem politische Bedingungen, d.h. ein Kräfteverhältnis, das, wenn es auch den Sieg nicht von vornherein garantiert – solche Situationen gibt es in der Geschichte nicht –, ihn doch möglich und wahrscheinlich macht. Strategischer Kalkül, Kühnheit und Entschlossenheit machen dann diese Möglichkeit zur Wirklichkeit. Aber keine Strategie kann Unmögliches möglich machen.

Statt der allgemeinen Phrasen über die Vertiefung der Krise und die „Veränderung der Situation“ hätte das Zentralkomitee genau aufzeigen müssen, wie das augenblickliche Kräfteverhältnis im deutschen Proletariat, in den Gewerkschaften und Betriebsräten ist, welche Verbindung die Partei zu den Landarbeitern hat usw. Diese Daten erlauben eine genaue Überprüfung und lassen nichts im Dunkeln. Wenn Thälmann den Mut gehabt hätte, alle Elemente der politischen Lage aufzuzählen und abzuwägen, so hätte er den Schluß ziehen müssen, daß die Partei, trotz der ungeheuren Krise des kapitalistischen Systems und trotz des bedeutenden Wachstums des Kommunismus in der letzten Zeit, noch immer zu schwach ist, um eine revolutionäre Lösung anzustreben. Das wollen vielmehr die Faschisten. Alle bürgerlichen Parteien sind – wie die Sozialdemokratie – bereit, dabei zu helfen, denn sie alle fürchten die Kommunisten mehr als die Faschisten. Mit Hilfe des preußischen Plebiszits wollten die Nationalsozialisten den Zusammenbruch des zutiefst labilen staatlichen Gleichgewichts herbeiführen, um die zögernden Schichten der Bourgeoisie zu zwingen, sie – die Faschisten – beim Blutgericht über die Arbeiterschaft zu unterstützen. Den Faschisten dabei zu helfen, wäre für uns eine ungeheuerliche Dummheit. Darum sind wir gegen den faschistischen Volksentscheid. So hätte Thälmann seinen Bericht schließen müssen, wenn ihm ein Rest von marxistischem Bewußtsein geblieben wäre.

Danach hätte man eine Diskussion eröffnen müssen, so breit und offen wie möglich, denn die Herren Führer, selbst so unfehlbare wie Heinz Neumann und Remmele, müssen bei allen Wendungen aufmerksam auf die Stimme der Massen hören. Man muß nicht nur die offiziellen Parolen hören, die der Kommunist mitunter von sich gibt, sondern auch die tieferen Gedanken erraten, die sich hinter diesen Parolen verbergen. Man muß die Arbeiter nicht kommandieren, sondern von ihnen zu lernen verstehen.

Hätte man eine Diskussion geführt, so hätte einer der Teilnehmer vermutlich etwa folgendes gesagt: Thälmann hat recht, wenn er zeigt, daß wir trotz der unzweifelhaften Änderung der Situation angesichts des bestehenden Kräfteverhältnisses die revolutionäre Entwicklung nicht beschleunigen dürfen. Aber gerade darum drängen, wie man sieht, unsere entschiedensten und extremsten Gegner zu einer revolutionären Entscheidung. Werden wir unter diesen Umständen Zeit haben, eine Änderung des Kräfteverhältnisses herbeizuführen, d.h. die Hauptmasse des Proletariats dem Einfluß der Sozialdemokratie zu entreißen und auf diesem Wege die verzweifelnden kleinbürgerlichen Massen dazu zu bringen, das Gesicht dem Proletariat und dem Faschismus den Rücken zuzuwenden?

Gut, wenn das gelingt. Aber was geschieht, wenn die Faschisten gegen unseren Willen in kurzer Frist auf eine Entscheidung drängen? Wird dann die proletarische Revolution eine neue schwere Niederlage erleiden?

Darauf würde Thälmann, wäre er ein Marxist, ungefähr Folgendes antworten: Offensichtlich hängt die Wahl des Zeitpunkts für den entscheidenden Kampf nicht von uns allein ab, sondern auch von unseren Gegnern. Wir sind einer Meinung, daß es die Aufgabe unserer aktuellen Strategie ist, unserm Gegner die Beschleunigung der Entwicklung zu erschweren und nicht zu erleichtern. Wenn unsere Gegner uns den Kampf aufzwingen, werden wir kämpfen, denn es gibt keine schwerere, verhängnisvollere, demütigendere und demoralisierendere Niederlage als die kampflose Aufgabe bedeutender historischer Positionen. Sollten die Faschisten unter den Augen der Volksmassen die Initiative zur Entscheidung ergreifen, so würden sie unter den jetzigen Umständen große Schichten der Arbeiter zu uns stoßen. In diesem Falle hätten wir umso größere Siegeschancen, je eindeutiger wir heute den Arbeitermillionen zeigen, daß wir keineswegs ohne und gegen sie den Umsturz vollziehen wollen. Darum müssen wir den sozialdemokratischen, christlichen und parteilosen Arbeitern offen sagen: die Faschisten – eine kleine Minderheit – wollen die gegenwärtige Regierung stürzen, um die Macht zu übernehmen; wir Kommunisten halten die gegenwärtige Regierung für einen Gegner des Proletariats; aber diese Regierung stützt sich auf Euer Vertrauen und Eure Stimmen; wir wollen diese Regierung im Bunde mit Euch stürzen, nicht aber durch eine Allianz mit den Faschisten gegen Euch. Wenn die Faschisten einen Aufstand versuchen, werden wir Kommunisten bis zum letzten Blutstropfen gegen sie kämpfen, – nicht um die Regierung Braun-Brüning zu verteidigen, sondern um die Erdrosselung und Vernichtung der proletarischen Elite, der Arbeiterorganisationen, der Arbeiterpresse – nicht nur unserer kommunistischen, sondern auch Eurer sozialdemokratischen – zu verhindern. Wir sind bereit, gemeinsam mit Euch jedes Arbeiterhaus, jede Druckerei einer Arbeiterzeitung gegen faschistische Angriffe zu verteidigen. Und wir fordern, daß Ihr Euch verpflichtet, uns zu Hilfe zu kommen, wenn unsere Organisationen bedroht sind. Wir schlagen Euch die Einheitsfront der Arbeiterklasse gegen die Faschisten vor. Je entschlossener und standhafter wir diese Politik durchführen, desto schwerer wird es den Faschisten, uns zu überrumpeln, um so weniger Chancen haben sie, uns im offenen Kampf zu schlagen. – So würde unser fiktiver Thälmann antworten.

Aber an diesem Punkt ergreift ein zutiefst von den großen Ideen Heinz Neumanns durchdrungener Redner das Wort. – Bei einer solchen Politik, sagt er, kommt nichts heraus. Die sozialdemokratischen Führer werden den Arbeitern sagen: Glaubt den Kommunisten nicht, es geht ihnen gar nicht um die Rettung der Arbeiterorganisationen, sondern nur um die Macht, sie halten uns für Sozialfaschisten und machen zwischen uns und den Nationalisten keinen Unterschied. Die von Thälmann vorgeschlagene Politik macht uns in den Augen der sozialdemokratischen Arbeiter nur lächerlich.

Darauf müßte Thälmann antworten: Die Sozialdemokraten als Faschisten zu behandeln, ist offensichtlich eine Dummheit, die uns selber in jedem entscheidenden Augenblick verwirrt und uns hindert, den Weg zu den sozialdemokratischen Arbeitern zu finden. Auf diesen Unsinn zu verzichten, ist das Beste, was wir tun können. Auf die Anschuldigung, daß wir unter dem Vorwand der Verteidigung der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen die Macht erobern wollen, sagen wir den sozialdemokratischen Arbeitern: ja, wir wollen die Macht erobern, aber dazu brauchen wir die Mehrheit der Arbeiterklasse. Der Versuch, gestützt auf eine Minderheit die Macht zu ergreifen, wäre schimpfliches Abenteurertum, mit dem wir nichts gemein haben. Wir können die Mehrheit der Arbeiter nicht zwingen, mit uns zu gehen, wir können sie nur überzeugen. Wenn die Faschisten die Arbeiterklasse zertrümmern, kann von einer Machteroberung durch die Kommunisten keine Rede mehr sein. Die Arbeiterklasse und ihre Organisationen gegen die Faschisten verteidigen, heißt für uns: die Möglichkeit sichern, die Arbeiterklasse zu überzeugen und sie für uns zu gewinnen. Darum können wir nur dann zur Macht kommen, wenn wir alle Elemente der Arbeiterdemokratie im kapitalistischen Staat – notfalls mit Waffengewalt – verteidigen.

Thälmann könnte dem noch hinzufügen: Um das feste, unerschütterliche Vertrauen der Mehrheit der Arbeiter zu gewinnen, müssen wir uns vor allem hüten, ihr Sand in die Augen zu streuen, unsere Stärke zu übertreiben, die Augen vor den Tatsachen zu schließen oder – schlimmer noch – sie zu entstellen. Man muß aussprechen, was ist. Unsere Feinde können wir nicht täuschen, sie haben tausend Mittel, die Wahrheit festzustellen. Wenn wir die Arbeiter betrügen, betrügen wir uns selbst. Machen wir uns stärker als wir sind, schwächen wir uns. Darin, Freunde, liegt kein „Mangel an Glaube“, kein „Pessimismus“. Wie können wir Pessimisten sein, wo vor uns ungeheure Möglichkeiten liegen? Wir haben eine unermeßliche Zukunft. Das Schicksal Deutschlands, das Schicksal Europas, das Schicksal der ganzen Welt hängt von uns ab. Und wer auf die revolutionäre Zukunft setzt, braucht keine Illusion. Der marxistische Realismus ist Voraussetzung des revolutionären Optimismus.

So hätte Thälmann geantwortet, wäre er ein Marxist. Aber unglücklicherweise ist er keiner.
 

Warum schwieg die Partei?

Aber wie konnte die Partei schweigen? Die Thälmann-Rede, die in der Frage des Volksentscheids eine Schwenkung um 180 Grad bedeutete, wurde diskussionslos hingenommen. So war es von oben empfohlen worden, und eine Empfehlung ist ein Befehl. Alle Berichte der Roten Fahne bezeugen, daß in allen Parteiversammlungen „einstimmig“ dem Volksentscheid zugestimmt wurde. Diese Einstimmigkeit wird als Beweis für die besondere Stärke der Partei ausgegeben. Wann und wo hat es in der Geschichte der revolutionären Bewegung je einen solchen sprachlosen „Monolithismus“ gegeben? Die Thälmann und Remmele schwören auf den Bolschewismus. Aber die gesamte Geschichte des Bolschewismus ist eine Geschichte heftiger innerer Kämpfe, in denen die Partei sich ihre Anschauungen bildete und ihre Methoden schmiedete. Die Geschichte des Jahres 1917, des bedeutendsten Jahres der Parteigeschichte, ist erfüllt von heftigen inneren Kämpfen, ebenso die Periode der ersten fünf Jahre nach der Machteroberung, und all das ohne Spaltung, ohne einen einzigen bedeutenden Ausschluß aus politischen Gründen. Und dabei standen an der Spitze der bolschewistischen Partei Führer von anderem Format, von anderer Härte und anderer Autorität als Thälmann, Remmele und Neumann. Wie kommt es aber heute zu diesem schrecklichen „Monolithismus“, zu dieser unheilvollen Einstimmigkeit, die jede Wendung der unglückseligen Führer in ein unumstößliches Gesetz für eine riesige Partei verwandelt?

„Keine Diskussion!“ Denn, wie Die Rote Fahne erklärt, „man braucht in dieser Situation nicht Reden, sondern Taten“. Empörende Heuchelei! Die Partei muß „Taten“ vollbringen und darauf verzichten, sie vorher zu diskutieren. Und um welche „Tat“ handelt es sich in diesem Fall? Es geht darum, ein Kreuz in ein Kästchen eines amtlichen Formulars zu machen, wobei nicht einmal die Möglichkeit besteht, bei der Stimmzählung die proletarischen Kreuzchen von den Hakenkreuzen zu trennen. Akzeptiere ohne Zögern, ohne Nachdenken, ohne Einwände, sogar ohne Unruhe im Blick den neuen Sprung der gottgewollten Führung oder – Du bist ein Renegat und Konterrevolutionär. Das ist das Ultimatum, das die internationale stalinistische Bürokratie wie einen Revolver an die Schläfe jedes fortgeschrittenen Arbeiters hält.

Äußerlich mag es scheinen, daß die Masse sich mit diesem Regime abfindet und alles herrlich läuft. Aber nein! Die Masse ist kein Ton, den man formt, wie man will. Sie reagiert auf ihre Art, langsam, aber umso gründlicher, auf die Fehler und Dummheiten der Führung. Sie opponierte auf ihre Art der „dritten Periode“, indem sie die unzähligen roten Tage boykottierte. Sie verläßt die französischen Einheitsgewerkschaften, wenn sie sich nicht auf normalem Wege den Experimenten Losowski-Monmousseaus widersetzen kann. Da sie die „Idee“ des „Roten Volksentscheids“ nicht akzeptierten, haben sich Hunderttausende und Millionen von Arbeitern nicht daran beteiligt. Das ist der Lohn für die Verbrechen der zentristischen Bürokratie, die den Klassenfeind würdelos imitiert, die eigene Partei aber fest an der Gurgel hält.
 

Was sagt Stalin?

Hat Stalin wirklich den neuen Zickzack im voraus sanktioniert? Niemand weiß es, wie auch niemand Stalins Meinung über die spanische Revolution kennt. Stalin schweigt. Wenn bescheidenere Führer wie Lenin Einfluß auf die Politik einer Bruderpartei nehmen wollten, hielten sie Reden oder schrieben Artikel. Sie hatten eben etwas zu sagen. Stalin hat nichts zu sagen. Er möchte den geschichtlichen Prozeß wie einzelne Menschen überlisten. Er denkt nicht daran, wie man dem deutschen oder dem spanischen Proletariat helfen könnte, einen Schritt vorwärts zu machen, sondern nur daran, wie er sich einen politischen Rückzug sichern kann.

Stalins Haltung zu den deutschen Ergebnissen von 1923 ist ein unübertreffliches Beispiel seiner Zweideutigkeit in den Grundfragen der Weltrevolution. Erinnern wir daran, was er im August 1923 an Sinowjew und Bucharin schrieb:

„Sollen die Kommunisten (im gegebenen Stadium) die Machtergreifung ohne die SPD anstreben, sind sie dafür schon reif – das ist meiner Ansicht nach die Frage. Als wir die Macht übernahmen, hatten wir in Rußland folgende Reserven: a) Frieden, b) Land für die Bauern, c) Unterstützung seitens einer gewaltigen Mehrheit der Arbeiterklasse, d) die Sympathie der Bauernschaft. Das alles haben die deutschen Kommunisten gegenwärtig nicht. Gewiß haben sie in der Nachbarschaft ein Sowjetland, was wir nicht hatten, aber was können wir ihnen in diesem Augenblick geben? Wenn jetzt in Deutschland die Macht sozusagen fällt, und die Kommunisten sie auffangen, werden sie mit Krach durchfallen. Das „im besten Falle“. Im schlimmsten wird man sie kurz und klein schlagen und zurückwerfen ... Meiner Ansicht nach muß man die Deutschen zurückhalten, keinesfalls aber ermuntern.“

Stalin stand demnach rechts von Brandler, der im August-September 1923 der gegenteiligen Ansicht war, die Machteroberung sei in Deutschland ohne weiteres möglich, aber die Schwierigkeiten würden am Tag nach der Machtergreifung anfangen. Heute ist die offizielle Meinung der Komintern, daß die Brandlerianer im Herbst 1923 eine außerordentlich günstige revolutionäre Situation verpaßt haben. Der oberste Ankläger der Brandlerianer ist ... Stalin. Hat er sich aber mit der Komintern wegen seiner eigenen Position von 1923 auseinandergesetzt? Nein. Dafür besteht auch nicht die geringste Notwendigkeit: es genügt, den Sektionen der Komintern zu verbieten, diese Frage aufzuwerfen.

Stalin wird zweifellos versuchen, auch die Frage des Volksentscheids in gleicher Weise zu behandeln. Thälmann [1] könnte ihn, selbst wenn er es wagte, nicht überführen. Stalin hat durch seine Agenten das deutsche Zentralkomitee angespornt und sich selbst schlau im Hintergrund gehalten. Im Falle eines Erfolges der neuen Politik hätten alle Manuilskis und Remmeles erklärt, die Initiative sei von Stalin ausgegangen. Und im Falle eines Mißerfolgs hat Stalin jede Möglichkeit, einen Schuldigen zu finden. Das ist die Quintessenz seiner Strategie. Auf dem Gebiet ist er stark.
 

Was sagt die Prawda?

Aber was sagt die Prawda, das Hauptorgan der Hauptpartei der Kommunistischen Internationale? Die Prawda hat der Situation in Deutschland keinen einzigen ernsthaften Artikel, keine einzige Analyse gewidmet. Aus Thälmanns großer programmatischer Rede druckte sie schamhaft nur ein halbes Dutzend hohler Phrasen ab. Was könnte die heutige, der Bürokratie hörige Prawda, eine Prawda ohne Kopf und Rückgrat, in Widersprüche verwickelt, auch sagen?
 

Worüber kann die Prawda reden, wenn Stalin schweigt?

Am 24. Juli erklärte die Prawda die Berliner Wendung folgendermaßen: „Die Nichtbeteiligung am Volksentscheid hätte bedeutet, daß die Kommunisten für den heutigen, reaktionären Landtag sind“. Die ganze Sache läuft hier auf ein simples Mißtrauensvotum heraus. Aber warum haben dann die Kommunisten nicht die Initiative zum Volksentscheid ergriffen; warum haben sie monatelang dagegen gekämpft und warum sind sie am 21. Juli plötzlich davor auf die Knie gefallen? Das Prawda-Argument ist ein verspätetes Argument des parlamentarischen Kretinismus, nichts weiter.

Am 11. August, nach dem Volksentscheid, änderte die Prawda die Argumentation: „Der Sinn der Beteiligung am Volksentscheid bestand für die Partei in der außerparlamentarischen Mobilisierung der Massen.“ Aber gerade für diesen Zweck, für die außerparlamentarische Mobilisierung der Massen, war ja der 1. August bestimmt. Wir wollen uns heute nicht mit der Kritik der roten Kalendertage aufhalten. Jedenfalls hatte am 1. August die Kommunistische Partei die Massen unter eigenen Parolen und unter eigener Leitung mobilisiert. Warum war acht Tage später eine neue Mobilisierung nötig, und zwar eine, bei der die Mobilisierten einander nicht sehen konnten, keiner sie zählen konnte, und wo weder sie selbst, noch ihre Freunde, noch ihre Feinde in der Lage waren, sie von ihren Todfeinden zu unterscheiden?

Am nächsten Tag, in der Nummer vom 12. August, erklärte die Prawda nicht mehr und nicht weniger als: „Die Resultate der Abstimmung bedeuten ... den schwersten Schlag, den die Arbeiterklasse der Sozialdemokratie bisher zugefügt hat.“ Wir wollen hier nicht die Zahlen der Volksentscheid-Statistik anführen. Sie sind jedermann bekannt (außer den Lesern der Prawda) und schlagen der albernen und beschämenden Prahlerei der Prawda ins Gesicht. Diese Leute halten es für ganz in der Ordnung, den Arbeitern etwas vorzulügen und ihnen Sand in die Augen zu streuen.

Der offizielle Leninismus ist von der Bürokratie der Epigonen zerstampft und zertreten worden. Aber der nicht-offizielle Leninismus lebt. Die losgelassenen Bürokraten sollen nicht glauben, daß ihnen alles straflos durchgehen wird. Die wissenschaftlich begründeten Ideen der proletarischen Revolution sind stärker als der Apparat, stärker als jede Geldkasse, stärker als die grausamste Unterdrückung. Was Apparat, Finanzmittel und Repressalien angeht, waren unsere Klassenfeinde unvergleichlich stärker als die heutige stalinistische Bürokratie. Trotzdem haben wir sie auf dem russischen Territorium besiegt. Wir haben gezeigt, daß man sie besiegen kann. Das revolutionäre Proletariat wird sie überall besiegen. Dazu braucht es eine richtige Politik. Im Kampf gegen den stalinistischen Apparat wird sich die proletarische Avantgarde ihr Recht erkämpfen, die Politik von Marx und Lenin zu verfolgen.

 

Fußnote

1. Die Frage, ob Thälmann tatsächlich gegen die letzte Wendung war und sich nur Remmele und Neumann, die Unterstützung in Moskau gefunden hatten, unterwerfen mußte, ist für uns hier als eine rein persönliche und episodische Frage ohne Interesse – es handelt sich um das System. Thälmann hat nicht gewagt, an die Partei zu appellieren, und trägt folglich die volle Verantwortung.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008