Leo Trotzki

 

Der einzige Weg


IX. Der einzige Weg

Kann man erwarten, dass das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei selbständig auf den richtigen Weg einschwenkt? Seine gesamte Vergangenheit zeigt, dass es dazu nicht fähig ist.

Kaum hatte er angefangen, sich zu korrigieren, da sah sich der Apparat vor der Perspektive des „Trotzkismus“. Wenn Thälmann selbst es nicht gleich begriffen hat, hat man es ihm aus Moskau erklärt, dass man den „Teil“ um des „Ganzen“ willen opfern muss, d.h. die Interessen der deutschen Revolution für die Interessen des Stalinschen Apparats. Die schüchternen Versuche einer Revision der Politik wurden wieder zurückgenommen. Die bürokratische Reaktion triumphiert von neuem auf der ganzen Linie.

Das liegt natürlich nicht an Thälmann. Gäbe die heutige Komintern ihren Sektionen die Möglichkeit, zu leben, zu denken und sich zu entwickeln, so hätten sie in den letzten fünfzehn Jahren längst ihre eigenen Führungskader auswählen können. Doch die Bürokratie hat ein System der Führerernennung und der Unterstützung der Ernannten durch künstliche Reklame errichtet. Thälmann ist ein Produkt dieses Systems und zugleich sein Opfer.

Die in ihrer Entwicklung paralysierten Kader schwächen die Partei. Ihre Unzulänglichkeit ergänzen sie durch Repressalien. Die Schwankungen und die Unsicherheit der Partei gehen unvermeidlich auf die gesamte Klasse über. Man kann die Massen nicht zu kühnen Aktionen aufrufen, während die Partei selbst der revolutionären Entscheidungsfähigkeit beraubt ist.

Selbst wenn Thälmann morgen ein Telegramm Manuilskis über die Notwendigkeit einer Wendung zur Einheitsfrontpolitik erhielte, würde der neue Zickzack der Führung wenig Nutzen bringen. Die Führung ist zu sehr kompromittiert. Eine richtige Politik verlangt ein gesundes Regime. Die Parteidemokratie, gegenwärtig ein Spielzeug der Bürokratie, muss wieder Wirklichkeit werden. Die Partei muss eine Partei werden, dann werden ihr die Massen glauben. Praktisch heißt das, einen außerordentlichen Parteitag und einen außerordentlichen Kongress der Komintern auf die Tagesordnung zu stellen.

Dem Parteitag muss selbstverständlich eine allgemeine Diskussion vorausgehen. Alle Apparatschranken müssen beseitigt werden. Jede Parteiorganisation, jede Zelle hat das Recht, jeden Kommunisten, sei er Mitglied der Partei oder ausgeschlossen, in ihre Versammlungen zu berufen und anzuhören, wenn sie dies zur Ausarbeitung ihrer Meinung für notwendig hält. Die Presse muss in den Dienst der Diskussion gestellt, in jedem Parteiblatt täglich genügend Raum für kritische Artikel geboten werden.

Eigene Pressekommissionen, auf Massenversammlungen der Parteimitglieder gewählt, müssen überwachen, dass die Zeitungen der Partei dienen und nicht der Bürokratie.

Die Diskussion wird freilich nicht wenig Zeit und Kraft erfordern. Der Apparat wird sich darauf berufen, in einer so kritischen Periode könne sich die Partei doch nicht den „Luxus der Diskussion“ erlauben. Die bürokratischen Retter meinen, in schwierigen Bedingungen habe die Partei zu schweigen. Die Marxisten hingegen glauben, dass, je schwieriger die Lage, desto wichtiger die selbständige Rolle der Partei ist.

Die Führung der bolschewistischen Partei genoss im Jahre 1917 sehr großes Ansehen. Und trotzdem gab es während des ganzen Jahres 1917 eine Reihe tiefgehender Parteidiskussionen. Am Vorabend der Oktoberumwälzung debattierte die gesamte Partei leidenschaftlich, welcher der beiden Teile des Zentralkomitees recht habe: die Mehrheit, die für den Aufstand, oder die Minderheit, die gegen den Aufstand war. Ausschlüsse oder Repressalien gab es nirgends, trotz der Tiefe der Meinungsverschiedenheiten. In diese Diskussionen wurden die parteilosen Massen hineingezogen. In Petrograd entsandte eine Tagung parteiloser Arbeiterfrauen eine Abordnung in das Zentralkomitee, um dessen Mehrheit zu unterstützen. Gewiss, die Diskussion erforderte Zeit. Dafür aber erwuchs aus der offenen Diskussion ohne Drohungen, Lügen und Fälschungen die allgemeine, unerschütterliche Gewissheit von der Richtigkeit der Politik, eben das, was allein den Sieg möglich machte.

Wie wird sich die Situation in Deutschland entwickeln? Wird es dem kleinen Rad der Opposition gelingen, rechtzeitig das große Rad der Partei in Bewegung zu bringen? So steht jetzt die Frage. Oft ertönen pessimistische Stimmen. In den verschiedenen kommunistischen Gruppierungen, in der Partei selbst wie an ihrer Peripherie gibt es nicht wenige, die sich sagen: in allen wichtigen Fragen hat die Linke Opposition eine richtige Stellung. Aber sie ist schwach. Ihre Kader sind gering an Zahl und politisch unerfahren. Kann sich denn eine solche Organisation mit einem kleinen Wochenblatt (Permanente Revolution) erfolgreich dem mächtigen Komintern-Apparat entgegenstellen?

Die Lehren der Ereignisse sind stärker als die Stalinsche Bürokratie. Wir wollen vor den Augen der kommunistischen Massen die Interpreten dieser Erfahrungen sein. Darin liegt unsere historische Rolle als Fraktion. Wir verlangen nicht wie Seydewitz & Co., das revolutionäre Proletariat möge uns auf Kredit glauben. Wir weisen uns eine bescheidenere Rolle zu: wir schlagen der kommunistischen Avantgarde unsere Hilfe vor bei der Ausarbeitung der richtigen Linie. Für diese Arbeit sammeln und erziehen wir eigene Kader. Dieses Vorbereitungsstadium lässt sich nicht überspringen. Jede neue Kampfetappe wird die Nachdenklichsten und Kritischsten im Proletariat auf unsere Seite stoßen.

Die revolutionäre Partei beginnt mit einer Idee, einem Programm, das sich gegen die mächtigsten Apparate der Klassengesellschaft richtet. Nicht Kader schaffen die Idee, sondern die Idee schafft die Kader. Die Furcht vor der Macht des Apparats ist einer der hervorstechendsten Züge jenes besonderen Opportunismus, den die Stalinbürokratie hochzüchtet. Die marxistische Kritik ist stärker als jeder Apparat.

Welche organisatorischen Formen die weitere Entwicklung der Linken Opposition annehmen wird, hängt von vielen Umständen ab: von der Wucht der historischen Schläge, dem Grade der Widerstandskraft der Stalinschen Bürokratie, von der Aktivität der einfachen Kommunisten, von der Energie der Opposition selbst. Doch die Prinzipien und Methoden, die wir verfechten, haben sich in den größten Ereignissen der Weltgeschichte bewährt, in Sieg und Niederlage. Sie werden sich Bahn brechen.

Die Erfolge der Opposition in allen Ländern, auch in Deutschland, sind offenkundig. Aber sie treten langsamer ein, als es viele unter uns erwarteten. Man kann das bedauern, darf sich aber darüber nicht wundern. Jeden Kommunisten, der auf die Linke Opposition zu hören beginnt, stellt die Bürokratie zynisch vor die Wahl, entweder die Hetze gegen den „Trotzkismus“ mitzumachen oder aber aus den Reihen der Komintern hinauszufliegen. Für die Parteifunktionäre geht es um Posten und Gehalt – auf diesen Tasten weiß der Stalinsche Apparat meisterlich zu spielen. Doch unermesslich wichtiger sind die Tausende einfacher Kommunisten, die sich zwischen ihrer Ergebenheit für die Ideen des Kommunismus und dem drohenden Ausschluss aus den Reihen der Komintern zerreißen. Daher gibt es in den Reihen der offiziellen Kommunistischen Partei sehr viele unfertige, eingeschüchterte oder versteckte Oppositionelle.

Diese außergewöhnliche Verquickung der historischen Bedingungen erklärt zur Genüge das langsame organisatorische Wachstum der Linken Opposition. Gleichzeitig dreht sich, trotz dieser Langsamkeit, heute mehr denn je das geistige Leben der Komintern um den Kampf gegen den „Trotzkismus“. Die theoretischen Zeitschriften und theoretischen Zeitungsartikel der russischen KP, wie auch der anderen Sektionen der Komintern, sind hauptsächlich dem Kampf gegen die Linke Opposition gewidmet, bald offen, bald maskiert. Noch symptomatischere Bedeutung besitzt jene rasende organisatorische Hetze, die der Apparat gegen die Opposition betreibt: Sprengung ihrer Versammlungen mit Knüppelmethoden; Anwendung jeder Art physischer Gewalt; Kulissenvereinbarungen mit bürgerlichen Pazifisten, französischen Radikalen und Freimaurern gegen die „Trotzkisten“; Ausstreuung giftiger Verleumdungen durch das Stalinsche Zentrum usw.

Die Stalinisten spüren viel unmittelbarer und wissen besser als die Oppositionellen, in welchem Maße unsere Ideen die Pfeiler ihres Apparats untergraben. Die Selbstverteidigungsmethoden der Stalinschen Fraktion haben jedoch zweischneidigen Charakter. Bis zu einem gewissen Moment wirken sie einschüchternd. Aber sie bereiten zugleich eine Massenreaktion gegen das System der Fälschung und Gewalt vor.

Als im Juli 1917 die Regierung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Bolschewiki zu Agenten des deutschen Generalstabs stempelte, konnte diese niederträchtige Maßnahme in der ersten Zeit eine starke Wirkung auf die Soldaten, die Bauern und die zurückgebliebenen Arbeiterschichten ausüben. Als aber alle weiteren Ereignisse den Bolschewiki eindeutig recht gaben, begannen die Massen sich zu sagen: man hat also die Leninisten bewusst verleumdet, hat also gegen sie so gemein gehetzt, nur weil sie recht hatten? Und die Gefühle des Verdachts gegenüber den Bolschewiki verwandelten sich in Gefühle heißer Ergebenheit und Liebe für sie. Unter anderen Bedingungen vollzieht sich ein solcher Prozess auch jetzt. Durch die ungeheuerliche Anhäufung von Verleumdungen und Repressalien vermag die Stalinsche Bürokratie unleugbar die einfachen Parteimitglieder für eine Zeitspanne einzuschüchtern; gleichzeitig aber bereitet sie eine gewaltige Rehabilitierung für die Bolschewiki-Leninisten in den Augen der revolutionären Massen vor. Gegenwärtig kann es darüber keinen Zweifel mehr geben.

Ja, wir sind heute noch sehr schwach. Die Kommunistische Partei hat noch Massen, aber bereits weder Doktrin noch strategische Orientierung. Die Linke Opposition hat bereits ihre marxistische Orientierung ausgearbeitet, aber noch keine Massen.

Die übrigen Gruppen des „linken“ Lagers haben weder das eine noch das andere. Hoffnungslos siecht der Leninbund dahin, der eine ernsthafte, an Prinzipien orientierte Politik durch die individuellen Phantasien und Launen Urbahns zu ersetzen versuchte. Die Brandlerianer steigen trotz ihrer Apparat-Kader von Stufe zu Stufe hinab; kleine taktische Rezepte können eine revolutionär-strategische Stellungnahme nicht ersetzen. Die SAP hat ihre Kandidatur auf die revolutionäre Führung des Proletariats angemeldet. Ein unbegründeter Anspruch! Selbst die ernstesten Vertreter dieser „Partei“ überschreiten, wie Fritz Sternbergs letztes Buch beweist, nicht die Grenzen des Linkszentrismus. Je beflissener sie eine „selbständige“ Doktrin zu schaffen suchen, desto mehr erweisen sie sich als Schüler Thalheimers. Diese Schule aber ist so hoffnungslos wie ein Leichnam.

Eine neue historische Partei kann nicht einfach deshalb entstehen, weil sich eine Anzahl alter Sozialdemokraten mit großer Verspätung vom konterrevolutionären Charakter der Ebert-Wels-Politik überzeugt haben. Ebenso wenig lässt sich eine neue Partei von einer Gruppe enttäuschter Kommunisten improvisieren, die noch durch nichts ihre Anrechte auf die Führung des Proletariats bewiesen haben. Zur Entstehung einer neuen Partei bedarf es einerseits großer historischer Ereignisse, die den alten Parteien das Rückgrat brechen, andererseits einer auf der Grundlage der geschichtlichen Erfahrung und erprobter Kader ausgearbeiteten prinzipiellen Stellung.

Während wir mit aller Kraft für die Wiedergeburt der Komintern und die Kontinuität ihrer weiteren Entwicklung kämpfen, neigen wir in gar keiner Weise zu einem rein formalen Fetischismus. Das Geschick der proletarischen Weltrevolution steht für uns über dem organisatorischen Schicksal der Komintern. Sollte sich die schlimmere Variante verwirklichen, sollten, allen unseren Bemühungen zum Trotz, die heutigen offiziellen Parteien durch die stalinistische Bürokratie zum Zusammenbruch geführt werden, müsste man in gewissem Sinne wieder von vorn anfangen, dann wird die neue Internationale ihren Stammbaum von den Ideen und Kadern der Linken Kommunistischen Opposition ableiten.

Und darum sind unzureichende Kriterien wie „Pessimismus“ und „Optimismus“ nicht auf unsere politische Arbeit anwendbar. Sie steht über den einzelnen Etappen, den Niederlagen und Siegen. Unsere Politik ist eine Politik auf weite Sicht.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008