Leo Trotzki

 

Was Nun?


XII. Die Brandlerianer (KPD-O) und die Stalin-Bürokratie

Zwischen den Interessen des Sowjetstaats und des internationalen Proletariats gibt es und kann es keinen Widerspruch geben. Doch ist es gänzlich falsch, diese Regel auf die Stalinsche Bürokratie zu übertragen. Ihr Regime gerät in immer größeren Widerspruch sowohl mit den Interessen der Sowjetunion als auch mit den Interessen des Weltproletariats.

Hugo Urbahns übersieht der Sowjetbürokratie wegen die sozialen Grundlagen des proletarischen Staates. Gemeinsam mit Otto Bauer konstruiert er den Begriff eines über den Klassen stehenden Staates, findet aber zum Unterschied von Bauer das Muster dafür nicht in Österreich, sondern in der heutigen Sowjetrepublik.

Auf der anderen Seite behauptet Thalheimer, die „trotzkistische Stellung zur Sowjetunion, die den proletarischen Charakter (?) des Sowjetstaates und den sozialistischen Charakter des wirtschaftlichen Aufbaus anzweifelt (?)“ (Arbeiterpolitik, 10. Januar), habe „zentristischen“ Charakter. Damit beweist Thalheimer lediglich, wieweit er in der Gleichsetzung von Arbeiterrats und Sowjetbürokratie geht. Er verlangt, auf die Sowjetunion nicht mit den Augen des internationalen Proletariats zu sehen, sondern ausschließlich durch die Brillengläser der Stalinfraktion. Mit anderen Worten, er urteilt nicht als Theoretiker der proletarischen Revolution, sondern als Lakai der Stalinbürokratie. Ein beleidigter, geächteter Lakai, aber doch ein Lakai, der Begnadigung sucht. Darum wagt er auch in der „Opposition“ nicht, die Bürokratie laut beim Namen zu nennen; dafür kennt diese, wie Jehova, keine Vergebung: „Du sollst meinen Namen nicht unnütz aussprechen“.

Das sind die beiden Pole innerhalb der kommunistischen Gruppierungen: der eine sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht, dem andern wehrt der Wald, die Bäume zu unterscheiden. Es ist indes entschieden nichts Überraschendes daran, daß Thalheimer und Urbahns ihre verwandten Seelen entdecken und in der Tat miteinander einen Block bilden – gegen die marxistische Einschätzung des Sowjetstaates.

Die summarische, zu nichts verpflichtende „Unterstützung“ des „russischen Experiments“ ist in den letzten Jahren eine ziemlich verbreitete und sehr wohlfeile Ware geworden. In allen Weltteilen finden sich nicht wenige radikale und halbradikale, humanistische und pazifistische Auch-“Sozialisten“, Journalisten, Touristen, Künstlerinnen, die für die UdSSR und für Stalin die gleiche vor-behaltlose Billigung wie die Brandlerianer bekunden. Bernhard Shaw [1], der einst Lenin und den Autor dieser Zeilen wütend kritisierte, billigt vollauf Stalins Politik. Maxim Gorki [2], der in der Leninschen Periode zur Kommunistischen Partei in Opposition gestanden hatte, ist jetzt vollständig für Stalin. Barbusse [3], der mit den französischen Sozialdemokraten Hand in Hand geht, unterstützt Stalin. Das amerikanische Wochenblatt The New Masses eine Publikation zweitrangiger kleinbürgerlicher Radikaler, verteidigt Stalin gegen Rakowski. [4] In Deutschland hält es Ossietzky [5], der meinen Artikel über den Faschismus mit Sympathie zitiert, für nötig zu bemerken, ich sei in meiner Kritik gegen Stalin ungerecht. Der alte Ledebour sagt: „Nun stehe ich in betreff der Hauptstreitfrage zwischen Stalin und Trotzki, ob nämlich die Sozialisierung in einem Lande unternommen und glücklich zu Ende geführt werden kann, durchaus auf seiten Stalins.“ Die Zahl solcher Beispiele könnte man endlos vermehren. All diese „Freunde“ der Sowjetunion gehen an die Probleme des Sowjetstaates von außen her als Beobachter, Sympathisierende, Flaneure heran. Selbstverständlich ist es achtenswerter, ein Freund des sowjetischen Fünfjahrplans zu sein, als ein Freund der New Yorker Börse. Dennoch ist die passive, kleinbürgerlich-linke Sympathie weit von Bolschewismus entfernt. Der erste große Mißerfolg Moskaus würde genügen, die Mehrzahl dieses Publikums auseinanderzuwirbeln wie Staub vorm Windstoß.

Wodurch unterscheidet sich die Haltung der Brandlerianer zum Sowjetstaat von der Position all dieser „Freunde“. Höchstens durch geringere Aufrichtigkeit. Solch eine Unterstützung der Sowjetrepublik macht weder heiß noch kalt. Und wenn Thalheimer uns, die Linke Opposition, die russischen Bolschewiki-Leninisten, darüber belehrt, wie man sich zur Sowjetunion stellen soll, kann er nur ein Gefühl von Abscheu erwecken.

Rakowski hat persönlich die Verteidigung der Grenzen des Sowjetstaates geleitet, bei den ersten Schritten der Sowjetwirtschaft geholfen, war an der Ausarbeitung der Politik gegenüber der Bauernschaft beteiligt, war Initiator der Komitees der Bauernarmut in der Ukraine, leitete die Anwendung der NEP unter den spezifischen Bedingungen der Ukraine, kennt alle Wendungen dieser Politik, verfolgt sie auch jetzt, in Barnaul, tagaus tagein mit leidenschaftlicher Spannung, warnt vor Fehlern, weist die richtigen Wege auf. Der in der Verbannung gestorbene alte Kämpe Kote Zinzadse, Muralow, Karl Grünstein, Elsin – Vater und Sohn –, Kasparowa, Kossior, Schumskaja, Dingelstedt, Solnzew Sosnowski, Stopalow, Posnanski, Sermux, der von Stalin erschossene Blumkin, der von Stalin im Kerker zu Tode gefolterte Butow, Dutzende, Hunderte, Tausende anderer, zerstreut in Gefängnissen und Verbannungsorten, sie alle sind Kämpfer der Oktoberumwälzung, des Bürgerkriegs, die am sozialistischen Aufbau sich beteiligt haben, durch keine Schwierigkeiten zu entmutigen und aufs erste Alarmsignal hin bereit sind, ihre Kampfposten einzunehmen. Und die sollten von Thalheimer Treue zum Arbeiterstaat lernen?

Alles, was an der Politik Stalins progressiv ist, wurde von der Linken Opposition formuliert und von der Bürokratie beschimpft. Die Initiative zur Planwirtschaft, zu den hohen Tempi, zum Kampf gegen das Kulakentum, für breitere Kollektivierung, bezahlte und bezahlt die Linke Opposition mit Kerker und Verbannungsjahren. Was haben denn all die vorbehaltlosen Anhänger, Sympathisanten und Freunde, einschließlich der Brandlerianer zur Wirtschaftspolitik der UdSSR beigetragen? Nichts! In ihrer summarischen, unkritischen Unterstützung alles dessen, was in der UdSSR geschieht, liegt keineswegs internationalistischer Enthusiasmus, sondern bloß laue Sympathie: die Sache spielt sich ja außerhalb der Grenzen ihrer eigenen Vaterländer ab. Brandler und Thalheimer glauben und sagen auch mitunter: „Für uns Deutsche wäre Stalins Regime gewiß ungeeignet; aber für die Russen ist es gut genug!“

Der Reformist sieht in der internationalen Lage eine Summe nationaler Situationen – der Marxist betrachtet die nationale Politik als Funktion der internationalen. In dieser kardinalen Frage nimmt die Gruppe KPD-O (Brandlerianer) [6] eine nationalreformistische Position ein, d.h. sie leugnet praktisch, wenn auch nicht in Worten, die internationalistischen Prinzipien und Kriterien der nationalen Politik.

Der nächste Gesinnungsgenosse und Mitarbeiter Thalheimers war Roy [7], dessen politisches Programm für Indien wie für China ganz von der Stalinschen Idee der „Arbeiter und Bauern“-Partei für den Osten ausgeht. Während einer Reihe von Jahren ist Roy als Propagandist einer nationaldemokratischen Partei für Indien aufgetreten. Mit anderen Worten: nicht als proletarischer Revolutionär, sondern als kleinbürgerlicher Nationaldemokrat. Das war seiner aktiven Teilnahme am zentralen Stab der Brandlerianer keineswegs hinderlich. [1*]

Am gröbsten aber zeigt sich der nationale Opportunismus der Brandlerianer gegenüber der Sowjetunion. Die Stalinbürokratie handelt, wenn man ihnen glaubt, bei sich zu Hause ganz unfehlbar. Aber aus irgendeinem Grunde erweist sich die Führungen der gleichen Stalinfraktion für Deutschland als verhängnisvoll. Aber warum? Geht es doch nicht um einzelne Fehler Stalins infolge seiner Unkenntnis anderer Länder, sondern um einen bestimmten fehlerhaften Kurs, um eine ganze Richtung. Thälmann und Remmele kennen Deutschland, wie Stalin Rußland kennt, wie Cachin, Sémard und Thorez [8] Frankreich. Zusammen bilden sie eine internationale Fraktion und arbeiten die Politik für die ver-schiedenen Länder aus. Doch zeigt sich, daß diese Politik, in Rußland untadelig, in allen übrigen Ländern die Revolution ruiniert.

Brandlers Position wird besonders unglückselig, überträgt man sie ins Innere Rußlands, wo ein Brandlerianer verpflichtet ist, Stalin vorbehaltlos zu unterstützen. Radek, der eigentlich den Brandlerianern inmer näher stand als der Linken Opposition, hat vor Stalin kapituliert. Brandler wußte diesen Akt nur zu billigen. Doch verpflichtete Stalin den Kapitulanten Radek unverzüglich, Brandler und Thalheimer für „Sozialfaschisten“ zu erklären. Die platonischen Anbeter des Stalinschen Regimes in Berlin versuchen nicht einmal, auf diesen erniedrigenden Widersprüchen herauszukommen. Ihr praktisches Ziel ist auch ohne Kommentare klar: „Stellst Du mich an die Spitze der Partei in Deutschland“, sagt Brandler zu Stalin, „verpflichte ich mich, Deine Unfehlbarkeit in russischen Dingen anzuerkennen, unter der Bedingung, daß Du mir gestattest, meine Politik in Deutschland durchzuführen“. Kann man vor solchen „Revolutionären“ Achtung haben?

Aber auch die Kominternpolitik der Stalinbürokratie kritisieren die Brandlerianer äußerst einseitig und theoretisch unredlich. Einziger Fehler dieser Politik scheint der „Ultraradikalismus“ zu sein. Kann man aber den vierjährigen Block Stalins mit Tschiang Kai-schek als ultralinks anklagen? War die Gründung der Bauerninternationale Ultraradikalismus? Kann man den Block mit dem Generalrat der Streikbrecher [9] Putschismus nennen? Die Schaffung von Arbeiter- und Bauernparteien in Asien und der Arbeiter-Farmerpartei [10] in den Vereininigten Staaten?

Weiter: was ist das soziale Wesen des Stalinschen Ultraradikalismus? Handelt es sich um eine vorübergehende Stimmung, um einen Krankheitszustand? Vergeblich sucht man beim Theoretiker Thalheimer eine Antwort auf diese Frage.

Indes ist das Rätsel längst schon durch die Linke Opposition gelöst: es handelt sich um einen ultralinken Zickzack des Zentrismus. Aber gerade diese, durch die Entwicklung der letzten neun Jahre bestätigte Definition können die Brandlerianer nicht anerkennen, weil sie für sie tödlich ist. Sie haben alle rechten Zickzacks der Stalinfraktion mitgemacht, sich aber gegen die linken empört; damit haben sie bewiesen, daß sie der rechte Flügel des Zentrismus sind. Daß sie als verdorrter Ast von ihrem Vaterstamm abgefallen sind, liegt ganz in der Ordnung der Dinge: bei scharfen Wendungen verliert der Zentrismus unweigerlich rechte und linke Gruppen und Tendenzen.

Das Gesagte bedeutet nicht, daß die Brandlerianer in allem geirrt haben. Nein, gegen Thälmann und Remmele hatten sie und haben sie oft recht. Das ist nichts Außergewöhnliches. Opportunisten können im Kampf gegen das Abenteurertum eine richtige Position einnehmen. Umgekehrt kann eine ultralinke Tendenz den Moment des Übergangs vom Kampf um die Massen zum Kampf um die Macht richtig erfassen. In ihrer Kritik an Brandler haben die Ultralinken Ende 1923 so manchen richtigen Gedanken ausgesprochen, was sie 1924-25 nicht hinderte, die gröbsten Fehler zu begehen. Die Tatsache, daß die Brand-lerianer in ihrer Kritik an den Verzerrungen der „dritten Periode“ eine Reihe nicht neuer, aber richtiger Einwände wiederholten, zeugt keineswegs von der Richtigkeit ihrer allgemeinen Position. Die Politik einer jeden Gruppe muß man in verschiedenen Phasen analysieren: in Defensiv- und Offensivkämpfen, in Perioden der Flut wie in Momenten der Ebbe, unter den Bedingungen des Kampfes um die Massen wie in der Situation des direkten Machtkampfes.

Es kann keine marxistische Führung geben, die sich nur auf die Fragen der Offensive oder Defensive, der Einheitsfront oder des Generalstreiks spezialisiert hat. Die richtige Anwendung aller dieser Methoden ist nur möglich, wenn man fähig ist, die Situation in ihrer Gesamtheit zusammenfassend zu charakteri-sieren, wenn man imstande ist, ihre Triebkräfte zu analysieren, die Phasen und Wendepunkte zu bestimmen und auf dieser Analyse ein System von Aktionen aufzubauen, das der aktuellen Lage entspricht und die nächste Etappe vorbereitet.

Brandler und Thalheimer halten sich schier für patentierte Spezialisten des „Kampfes um die Massen“. Mit ernstester Miene behaupten diese Leute, die Argumente der Linken Opposition zugunsten der Einheitsfrontpolitik seien ... Plagiate an ihnen, den Brandlerianern. Man kann niemandem das Recht auf Ehrgeiz absprechen! Stellt Euch vor, daß, während Ihr Heinz Neumann seine Fehler im Einmaleins erläutert, irgendein glänzender Arithmetiklehrer Euch erklärt, Ihr beginget ein Plagiat an ihm, denn er erläutere in gleicher Weise jahraus jahrein die Geheimnisse der Rechenkunst.

Die Anmaßung der Brandlerianer hat mir jedenfalls in dieser wenig heiteren Lage eine heitere Minute bereitet. Die strategische Weisheit dieser Herren datiert vom Dritten Weltkongreß. Das Abc des Kampfes um die Massen hatte ich dort gegen den damaligen „linken“ Flügel verteidigt. In meinem der Popularisierung Einheitsfrontpolitik gewidmeten Buch Die neue Etappe, das seinerzeit von der Komintern in verschiedenen Sprachen herausgegeben wurde, wird der elementare Charakter der dort verteidigten Ideen in jeder Weise hervorgehoben. „Alles Gesagte“, lesen wir auf Seite 70 der deutschen Ausgabe, „ist vom Standpunkt ernsthafter revolutionärer Erfahrung eine Binsenwahrheit. Aber einige ‚linke‘ Elemente des Kongresses sahen in dieser Taktik eine Verschiebung ‚nach rechts‘ ...“ Unter diesen befand sich neben Sinowjew, Bucharin, Radek, Maslow und Thälmann auch Thalheimer.

Die Beschuldigung des Plagiats ist nicht die einzige Beschuldigung. Dem bei Thalheimer entwendeten geistigen Eigentum gibt die Linke Opposition, wie sich zeigt, eine opportunistische Auslegung. Dieses Kuriosum verdient Beachtung insoweit, als es uns die Möglichkeit bietet, nebenbei auch die Frage der faschistischen Politik besser zu beleuchten.

Ich habe in einer meiner früheren Arbeiten den Gedanken ausgesprochen, Hitler habe keine Möglichkeit, auf parlamentarischem Wege zur Macht zu kommen, selbst zugegeben, er bekäme seine 51% Stimmen – das Anwachsen der ökonomischen und die Verschärfung der politischen Widersprüche würden noch vor Eintreten dieses Moments zur Explosion führen müssen. Im Zusammenhang damit schreiben mir die Brandlerianer den Gedanken zu, die Nationalsozialisten würden von der Szene abtreten, „ohne daß eine außer-parlamentarische Massenaktion der Arbeiter hierzu notwendig wäre“. Worin ist das besser als die Erfindungen der Roten Fahne.

Aus der für die Faschisten bestehende Unmöglichkeit, „friedlich“ an die Macht zu kommen, habe ich die Unvermeidlichkeit anderer Wege der Machtergreifung abgeleitet: entweder den Weg des direkten Staatsstreichs oder den Weg einer Koalitionsetappe mit unvermeidlich folgendem Staatsstreich. Eine schmerzlose selbstliquidierung des Faschismus wäre nur in einem Falle möglich: wenn Hitler 1932 die Politik triebe, die Brandler 1923 getrieben hat. Ohne die nationalsozialistischen Strategen im mindesten zu überschätzen, glaube ich immerhin, daß sie weitblickender und gediegener als Brandler und Co. sind.

Noch tiefsinniger ist Thalheimers zweiter Einwand: Die Frage, ob Hitler auf parlamentarischem oder einem anderen Wege zur Macht gelangen werde, sei überhaupt nicht von Bedeutung, denn sie ändere nichts am „Wesen“ des Faschismus, der seine Macht ohnehin nur auf den Trümmern der Arbeiterorganisationen begründen könne. „Die Arbeiter können es ruhig den Redakteuren des Vorwärts überlassen, Untersuchungen über den Unterschied zwischen der verfassungsmäßigen und nicht verfassungsmäßigen Machtübernahme durch Hitler anzustellen“ (Arbeiterpolitik, 10. Januar). Würden die fortgeschrittenen Arbeiter sich nach Thalheimer richten, so würde Hitler ihnen zweifellos den Gurgel durchschneiden. Für unseren Schullehrer ist nur das „Wesen“ des Faschismus von Wichtigkeit, wie aber dieses Wesen sich durchsetzt, überläßt er den Vorwärts-Redakteuren zur Beurteilung. Das Progrom-“Wesen“ des Faschismus kann sich erst nach seiner Machtübernahme ganz entfalten. Die Aufgabe besteht darin, ihn nicht an die Macht kommen zu lassen. Dazu muß man erst selber die Strategie des Feindes verstehen und sie den Arbeitern darlegen. Hitler macht die größten Anstrengungen, nach außen hin die Bewegung in das Flußbett der Verfassung zu lenken. Nur ein Pedant, der sich als „Materialist“ ausgibt, kann glauben, diese Technik bliebe ohne Einfluß auf das politische Bewußtsein der Massen. Hitlers Verfassungsmäßigkeit dient nicht nur dazu, die Tür für den Block mit dem Zentrum offen zu lassen, sondern auch, die Sozialdemokratie zu täuschen, richtiger: den sozialdemokratischen Führern die Täuschung der Massen zu erleichtern. Wenn Hitler beteuert, er werde auf verfassungsmäßigem Wege die Macht übernehmen, ist es doch klar: die faschistische Gefahr ist heute nicht mehr so groß. Jedenfalls wird noch einige Male Zeit sein, das Kräfteverhältnis bei verschiedenen Wahlen zu überprüfen. Unter der Hülle der verfassungsmäßigen Perspektive, die den Gegner einschläfert, will Hitler sich die Möglichkeit wahren, den Schlag im geeigneten Moment zu führen. Diese Kriegslist, so einfach sie an und für sich auch ist, birgt doch eine gewaltige Kraft in sich., denn sie stützt sich nicht nur auf die Psychologie der Mittelparteien, die die Frage friedlich und legal lösen möchten, sondern, was viel gefährlicher ist, auf die Vertrauensseligkeit der Volksmassen.

Man muß hinzufügen, daß Hitlers Manöver ein zweischneidiges Schwert ist: er täuscht nicht nur seine Gegner sondern auch seine Anhänger. Aber zum Kampf, besonders zum offensiven, ist Kampfgeist erforderlich. Der läßt sich nur dann aufrechterhalten, wenn man seine Armee so erzieht, daß sie die Unvermeidlichkeit des offenen Kampfes versteht. Diese Erwägung spricht ebenfalls dafür, daß Hitler seine Romanze mit der Weimarer Verfassung nicht allzu lange hinausziehen kann, ohne die eigenen Reihen zu demoralisieren. Er wird rechtzeitig das Messer unter dem Braunhemd hervorholen müssen.

Es genügt nicht, das „Wesen“ des Faschismus zu begreifen. Man muß ihn als politisches Phänomen, als bewußten und hinterlistigen Feind einschätzen können. Unser Schullehrer ist zu sehr „Soziologe“, um Revolutionär sein zu können. Ist es nicht klar, daß Thalheimers tiefsinnige Untersuchungen ebenfalls als ein winziges, vorteilhaftes Element in Hitlers Berechnungen eingehen? Wenn man die vom Vorwärts gesäten Verfassungsillusionen mit der Entlarvung der auf diesen Illusionen aufgebauten Kriegslist des Feindes in einen Sack steckt, heißt das, dem Feind einen Dienst erweisen.

Eine Organisation kann Bedeutung entweder durch die von ihr erfaßten Massen oder durch den Inhalt der Ideen haben, die sie in die Arbeiterbewegung hineinzutragen fähig ist. Die Brandlerianer besitzen weder das eine noch das andere. Mit welch erhabener Verachtung sprechen Brandler und Thalheimer vom zentristischen Sumpf der SAP! Stellt man in Wirklichkeit diese beiden Organisationen – SAP und KPD-O – nebeneinander, sind alle Vorzüge auf seiten der ersteren. Die SAP ist kein Sumpf, sondern eine lebendige Strömung. Ihre Entwicklung geht von rechts nach links, zum Kommunismus hin. Die Strömung ist nicht rein, sie führt viel Schutt und Schlamm mit sich, sie ist aber kein Sumpf. Die Bezeichnung Sumpf paßt weitaus besser auf die Organisation Brandler-Thalheimers, die durch völligen geistigen Stillstand gekennzeichnet ist.

Im Innern der KPD-O bestand seit langem eine Opposition, die vor allem damit unzufrieden war, daß die Führer in ihrer Politik nicht so sehr den objektiven Umständen sich anzupassen suchten als den Stimmungen des Stalinschen Generalstabs in Moskau.

Daß die Opposition Walcher-Frölich [11] während einer Reihe von Jahren Brandler-Thalheimers Politik toleriert hat, die besonders gegenüber der UdSSR nicht einfach fehlerhaft, sondern bewußt heuchlerisch, politisch unlauter war, wird natürlich niemand der abgespaltenen Gruppe als Plus anrechnen. Tatsache aber ist, daß die Walcher-Frölich-Gruppe schließlich die völlige Hoffnungslosig-keit einer Organisation erkannte, deren Führer sich an der Gnade der Obrigkeit orientieren. Die Minderheit hält eine selbständige und aktive Politik für nötig, die nicht gegen den unglückseligen Remmele gerichtet ist, sondern gegen Kurs und Regime der Stalinbürokratie in der UdSSR und der Komintern. Wenn wir die Position Walcher-Frölich auf Grund noch unzulänglicher Materialien richtig deuten, so bedeutet sie in dieser Frage einen Schritt vorwärts. Doch nach dem Bruch mit einer offensichtlich toten Gruppe ist die Minderheit jetzt vor die Aufgabe einer nationalen und vor allem internationalen Neuorientierung gestellt.

Die abgespaltene Minderheit sieht, soweit ich es beurteilen kann, ihre Hauptaufgabe in nächster Zeit darin, auf den linken Flügel der SAP gestützt die neue Partei für den Kommunismus zu gewinnen, um sodann mit deren Hilfe den bürokratischen Konservatismus der KPD zu zerschlagen. Es ist unmöglich, sich zu diesem Plan in dieser allgemeinen und unbestimmten Form zu äußern, denn die prinzipiellen Grundlagen, auf denen die Minderheit selbst steht, und die Methoden, die sie im Kampf für diese Grundlagen anzuwenden gedenkt, bleiben unklar. Eine Plattform ist nötig! Wir denken nicht an ein Dokument, das die Gemeinplätze des Kommunismus reproduziert, sondern an klare und konkrete Antworten auf jene Kampffragen der proletarischen Revolution, die im Laufe der letzten neun Jahre die Reihen des Kommunismus gespalten haben und noch heute von brennendem Interesse sind. Ohne das könnte man sich in der SAP nur auflösen und deren Entwicklung zum Kommunismus verzögern, statt sie zu beschleunigen.

Die Linke Opposition wird die Entwicklung der Minderheit aufmerksam und unvoreingenommen verfolgen. Die Spaltung einer lebensunfähigen Organisation hat mehr als einmal in der Geschichte den Anstoß für die progressive Entwicklung ihres lebensfähigen Teils gegeben. Wir würden uns sehr freuen, wenn diese Regel sich auch diesmal am Schicksal der Minderheit bewähren sollte. Doch eine Antwort wird erst die Zukunft geben.

 

 

Fußnote von Trotzki

1*. Roy ist von der Macdonald-Regierung soeben für lange Jahre verurteilt worden. Die Kominternblätter fühlen sich nicht verpflichtet, dagegen auch nur zu protestieren: man kann mit Tschiang Kai-schek eng verbündet sein, keinesfalls aber den Brandlerianer Roy gegen die imperialistischen Henker verteidigen.


Anmerkungen

1. George Bernhard Shaw (1856-1950): irischer Dramatiker und Schriftsteller; Gründer der Gesellschaft der Fabier in England; die an einer allmählichen Reform der Gesellschaft glaubte; wurde zum begeisterten Anhänger der stalinisierten Sowjetunion.

2. Maxim Gorki (1868-1936): russischer Schriftsteller; Sympathisant der Bolschewiki während der Jahren vor und nach der 1905er Revolution; Gegner der Oktoberrevolution; später unterstützte die neue Regierung; verließ Rußland 1922, angeblich aus Gesundheitsgründen; kehrte 1932 zurück; gab allgemeine Unterstützung der Stalinschen Politik.

3. Henri Barbusse (1873-1935): französischer Romanautor; Pazifist; trat der KPF 1923 bei; schrieb Biographien von Stalin und Christus.

4. Christian Rakowski (1873-1942): rumänischer Sozialist; wurde führender Bolschewik; Vorsitzender der Ukrainischen Sowjetrepublik 1919-23; enger Freund und Mitarbeiter von Trotzki; mit der Linken Opposition 1927 aus der Partei ausgeschlossen; widerrief 1934; zu 20 Jahren Gefängnisstrafe in den Moskauer Schauprozessen verurteilt; starb im Gefängnis.

5. Carl von Ossietsky (1889-1938): deutscher Schriftsteller; Pazifist; Redakteur von Die Weltbühne; Angeklagter in einem spektakulären Gerichtsverfahren wegen Hochverrat; nach seiner Gefängnisstrafe von den Nazis gefangen; Träger des Nobelpreis für den Frieden 1936.

6. Kommunistische Partei Deutschlands – Opposition: gegründet von Heinrich Brandler und August Thalheimer nach ihrem Ausschluß aus der KPD; unterstützte die Politik Bucharins; kritisch gegenüber der Politik der Stalinisten in Deutschland, lehnte es aber ab, die stalinistische Politik in anderen Weltteilen zu verurteilen.

7. M.N. Roy (1893-1953): führender indischer Kommunist, der Zusammenarbeit mit bürgerlichen Nationalisten im Kampf um die Unabhängigkeit vorschlug; Anhänger von Bucharin und der Rechten Opposition; eingesperrt von der britischen Regierung.

8. Maurice Thorez (1900-64): stalinistischer Führer der Kommunistischen Partei Frankreichs ab 1930 bis zu seinem Tod; Minister in der ersten De Gaulle-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg; spielte wichtige Rolle in der reibunglose Restauration der bürgerlichen Ordnung.

9. Hier ist der Generalrat des britischen Trades Union Congress gemeint, der der Generalstreik 1926 verraten hat.

10. Arbeiter-Farmerpartei: 1919 wurde eine Labor Party (später Farmer-Labor Party genannt) von verschiedenen gewerkschaftlichen Organisationen gegründet; anfänglich von der Kommunistischen Partei der USA ignoriert; nach einer politischen Wendung 1922 gewann die KPUSA die Kontrolle über diese Organisation; viele gewerkschaftliche Organisationen traten dann aus; unterstützte die Präsidentschaftskampfgne des Kandidaten der Republican Party Lafollette.

11. Jakob Walcher (1887-1970): Spartakist; Gründungsmitglied der KPD; Mitglied des ZK 1919-23; ausgeschlossen aus der KPD 1928; Mitbegründer der KPO; führte die Abspaltung 1931, um der SAP beizutreten; ab 1933 Exil in Frankreich und in den USA; kehrte 1946 nach Berlin zurück; Mitglied der SED; 1946-49 Redakteur einer Gewerkschaftszeitung;1949 gemaßregelt; 1952 aus der SED ausgeschlossen; 1956 rehabilitiert. – Paul Frölich (1884-1953): ab 1902 Mitglied der SPD; Führer der Linksradikalen in Bremen; Mitbegründer der KPD; 1919-24 Mitglied der Zentrale der KPD; Reichstagsabgeordneter 1921-24 und 1928-30; ausgeschlossen aus der KPD 1928; danach Mitglied der KPO und dann der SAP; ab 1934 Exil; kehrte 1950 zurück; wurde Mitglied der SPD; schrieb wichtige Biographie von Rosa Luxemburg.

 


Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008