Leo Trotzki

 

Wohin geht Frankreich?

(2. Teil)

 

II
Tagesforderungen und Machtkampf

 

Stagnation der Einheitsfront

Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei lehnt den Kampf für die Nationalisierung der Produktionsmittel als eine mit dem bürgerlichen Staat unverträgliche Forderung ab. Aber den Kampf um die Macht, den Kampf für die Schaffung eines Arbeiterstaates lehnt das Zentralkomitee gleichfalls ab. Diesen Aufgaben hält es ein Programm der „Tagesforderungen“ entgegen.

Die Einheitsfront ist zur Zeit jeglichen Programmes bar. Gleichzeitig sieht die eigene Erfahrung der Kommunistischen Partei auf dem Gebiet des Kampfes für die „Tagesforderungen“ äußerst kläglich aus. Alle Reden, Artikel und Resolutionen über die Notwendigkeit, dem Kapital mit Streiks zu antworten, haben bisher zu nichts, oder zu beinahe nichts geführt. Trotz einer immer gespannteren Lage im Lande herrscht in der Arbeiterklasse gefährliche Stagnation.

Schuld an dieser Stagnation gibt das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei allen außer sich selbst. Wir gedenken niemanden rein zu waschen. Unser Standpunkt ist bekannt. Doch wir glauben, das Haupthindernis auf dem Wege der Entwicklung des revolutionären Kampfes ist heute dieses einseitige, der gesamten Lage widersprechende, beinahe wahnsinnige Programm der „Tagesforderungen“. Wir wollen hier in aller notwendigen Breite die Beweggründe und Argumente des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei beleuchten. Nicht dass diese Argumente ernst und tief wären, im Gegenteil, sie sind miserabel. Aber es handelt sich um eine Frage, von der das Schicksal des französischen Proletariats abhängt

 

Resolution des ZK der Kommunistischen Partei zu den „Tagesforderungen“

Das berufenste Dokument zur Frage der „Tagesforderungen“ ist die programmatische Resolution des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (Siehe L’Humanité vom 24. Februar 1935). Verweilen wir bei diesem Dokument.

Die Aufzählung der Tagesforderungen ist sehr allgemein gehalten: Verteidigung der Löhne, Verbesserung der Sozialversicherungen, Kollektivverträge. „Gegen das teure Leben“, usw. Kein Wort davon, wie unter den Bedingungen der gegenwärtigen sozialen Krise der Kampf für diese Forderungen aussehen kann und soll. Indessen begreift jeder Arbeiter, dass bei zwei Millionen Vollerwerbslosen und Kurzarbeitern der gewöhnliche gewerkschaftliche Kampf für Kollektivverträge eine Utopie ist. Um unter den gegenwärtigen Bedingungen den Kapitalisten ernste Zugeständnisse abzutrotzen, heißt es ihren Willen brechen; das ist nur durch revolutionäre Offensive zu erreichen. Eine revolutionäre Offensive aber, die Klasse gegen Klasse stellt, kann nicht einzig und allein unter ökonomischen Teillosungen entfaltet werden. Man gerät in eine Teufelsmühle. Da liegt die Hauptursache für die Stagnation der Einheitsfront.

Die Bedeutung des allgemeinen marxistischen Satzes: soziale Reformen sind weiter nichts als Nebenprodukte des revolutionären Kampfes, wird in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs am unmittelbarsten und brennendsten. Die Kapitalisten können den Arbeitern in etwas nachgeben nur auf die Gefahr hin, alles zu verlieren.

Aber selbst die größten „Zugeständnisse“, deren der heutige, selber in die Enge getriebene Kapitalismus fähig ist, bleiben absolut bedeutungslos, gemessen an dem Elend der Massen und an der Tiefe der sozialen Krise. Darum muss die dringendste aller Tagesforderungen lauten: Enteignung der Kapitalisten und Nationalisierung (Sozialisierung) der Produktionsmittel. Diese Forderung lässt sich unter der Herrschaft der Bourgeoisie nicht verwirklichen? Allerdings! Eben darum gilt es die Macht zu erobern.

 

Warum befolgen die Massen die Aufrufe der Kommunistischen Partei nicht?

Die Resolution des Zentralkomitees gibt beiläufig zu, dass „es der Partei noch nicht gelungen ist, den Widerstand gegen die Offensive des Kapitals zu organisieren und zu entwickeln“. Aber die Resolution übergeht gänzlich die Frage, warum denn eigentlich trotz den Anstrengungen der KP und der CGTU die Erfolge auf dem Gebiet des ökonomischen Abwehrkampfes so absolut bedeutungslos sind. Am Generalstreik vom 12. Februar, bei dem es absolut nicht um eine „Tagesforderung“ ging, nahmen Millionen Arbeiter und Angestellte teil. Doch an der Abwehr der Kapitalsoffensive beteiligte sich bisher nur ein winziger Bruchteil davon. Veranlasst denn diese verblüffend deutliche Tatsache die „Führer“ der Kommunistischen Partei zu gar keiner Schlussfolgerung? Warum wagen Millionen Arbeiter an einem Generalstreik, an stürmischen Straßenkundgebungen, an Auseinandersetzungen mit den faschistischen Banden teilzunehmen, und lehnen es ab. sich an vereinzelten ökonomischen Streiks zu beteiligen?

„Es gilt“, sagt die Resolution, „die Gefühle zu verstehen, welche die Arbeiter bewegen, die zur Aktion übergehen möchten“. Es gilt zu verstehen ... Zum Unglück aber verstehen die Schreiber der Resolution selber nichts. Wer Arbeiterversammlungen besucht, weiß, dass allgemeine Reden über „Tagesforderungen“ die Zuhörer meistens in einem Zustand kalter Indifferenz lassen, hingegen lösen klare und präzise revolutionäre Losungen eine Welle von Sympathie aus. Dieser Unterschied im Reagieren der Massen charakterisiert aufs klarste die politische Lage im Lande.

„In der gegenwärtigen Periode“, bemerkt unerwarteterweise die Resolution, „erfordert der ökonomische Kampf seitens der Arbeiter schwere Opfer„. Man müsste noch hinzufügen: und nur ausnahmsweise verspricht er positive Resultate. Dabei hat doch der Kampf für die Tagesforderungen zur Aufgabe, die Lage der Arbeiter zu bessern. Wenn die Stalinisten diesen Kampf in den Vordergrund schieben und dafür auf die revolutionären Losungen verzichten, dann meinen sie ohne Zweifel, dass gerade der ökonomische Teilkampf am geeignetsten sei, die breiten Massen in Bewegung zu bringen. Das genaue Gegenteil zeigt sich: auf Appelle zu ökonomischen Streiks reagieren die Massen fast überhaupt nicht. Wie kann man nur in der Politik nicht den Tatsachen Rechnung tragen?

Die Massen begreifen oder fühlen, dass unter den Bedingungen der Krise und der Arbeitslosigkeit ökonomische Teilkonflikte unerhörte Opfer erfordern, die in keinem Falle durch die erreichten Resultate gerechtfertigt werden. Die Massen erwarten und fordern andere, wirksamere Methoden. Ihr Herren Strategen, lernt bei den Massen: sie leitet ein sicherer revolutionärer Instinkt.

 

Wirtschaftskonjunktur und Streikkämpfe

Gestützt auf schlecht verdaute Leninzitate, wiederholen die Stalinisten in einem fort: „Streikkämpfe sind auch in Krisenzeiten möglich“. Sie verstehen nicht, dass es Krise und Krise gibt. In der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus war der Blick der Fabrikanten wie der Arbeiter, selbst während einer scharfen Krise, vorwärts gerichtet, auf die neu bevorstehende Belebung. Die gegenwärtige Krise aber ist die Regel und nicht die Ausnahme. Auf rein wirtschaftlichem Gebiet ist das Proletariat durch furchtbaren Druck der Wirtschaftskatastrophe zu ungeordnetem Rückzug getrieben. Andererseits stößt der Niedergang des Kapitalismus mit aller Wucht das Proletariat auf den Weg des revolutionären politischen Massenkampfes. Doch die Führung der Kommunistischen Partei versucht, diesen Weg aus allen Kräften zu versperren. So wird das Programm der „Tagesforderungen“ in den Händen der Stalinisten ein Werkzeug zur Desorientierung und Desorganisierung des Proletariats. Indessen würde eine politische Offensive (Kampf um die Macht), verbunden mit aktiver bewaffneter Verteidigung (Miliz), mit einem Schlage das Kräfteverhältnis der Klassen umkehren, und dabei nebenher auch den rückständigsten Arbeiterschichten Gelegenheit zu siegreichem wirtschaftlichen Kampf geben.

 

Eventuelle Konjunkturbelebung

Der sterbende Kapitalismus hat, wie wir wissen, auch seine Zyklen, aber absteigende kranke. Der Krise des kapitalistischen Systems kann nur die proletarische Revolution ein Ende bereiten. Die Konjunkturkrise wird unvermeidlich einer neuen kurzen Wiederbelebung Platz machen, wenn nicht inzwischen Krieg oder Revolution eintritt.

Im Falle einer wirtschaftlichen Konjunkturbelebung werden Streikkämpfe ohne Zweifel weit größeren Umfang annehmen können. Darum heißt es aufmerksam den Gang von Handel und Industrie, insbesondere die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt verfolgen, ohne sich auf die Meteorologen der Jouhauxschule zu verlassen, und den Arbeitern in der Praxis zu: helfen, im nötigen Augenblick auf die Kapitalisten Druck auszuüben. Aber selbst im Falle eines ausgedehnten Streikkampfes wäre es ein Verbrechen, sich auf ökonomische Teilforderungen zu beschränken. Die Konjunkturbelebung kann weder lang noch tief sein, denn wir haben ja mit den Zyklen eines unheilbar kranken Kapitalismus zu tun. Die neue Krise – nach der kurzen Wiederbelebung kann noch furchtbarer sein als die gegenwärtige. Alle Grundprobleme werden mit verdoppelter Kraft und Schärfe wieder auftauchen. Wenn man Zeit verliert, kann das Wachstum des Faschismus unaufhaltsam werden.

Aber heute ist die wirtschaftliche Wiederbelebung nur eine Hypothese. Realität sind: Verschärfung der Krise, zweijähriger Militärdienst, Deutschlands Aufrüstung. Kriegsgefahr.

Von dieser Realität heißt es ausgehen.

 

 

Reformistischer Plunder statt revolutionärem Programm

Die Endidee der programmatischen Resolution des Zentralkomitees krönt würdig das ganze Gebäude. Zitieren wir sie wörtlich:

„Während sie täglich kämpfen für die Linderung des Elends der arbeitenden Massen, zu dem diese durch das kapitalistische Regime verdammt sind, unterstreichen die Kommunisten. dass die endgültige Befreiung nur erreicht werden kann durch die Abschaffung des kapitalistischen Regimes und die Errichtung der Diktatur des Proletariats“.

Diese Formel klang nicht schlecht in der Frühzeit der Sozialdemokratie, vor mehr als einem halben Jahrhundert. Die Sozialdemokratie führte damals nicht ohne Erfolg den Kampf der Arbeiter für einzelne Forderungen und Reformen, für das, was man „Minimalprogramm“ nannte, und sie „unterstrich“ dabei, dass die endgültige Befreiung des Proletariats nur durch die Revolution zu verwirklichen sei. Das „Endziel“ des Sozialismus stellte man sich in nebelhafter Ferne der Jahre vor. Diese Vorstellung, die sich schon am Vorabend des Krieges vollständig überlebt hatte, hat das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei unversehens in unsere Epoche verpflanzt, sie Wort für Wort bis zum letzten Komma wiederholend. Und diese Leute berufen sich auf Marx und Lenin!

Wenn sie „unterstreichen“, dass die „endgültige Befreiung„ nur durch die Abschaffung des kapitalistischen Regimes zu erreichen sei, so haben sie nichts anderes im Sinn, als mit Hilfe dieser Elementarwahrheit die Arbeiter zu betrügen. Denn sie erwecken bei ihnen die Vorstellung. als sei eine gewisse, wenn auch unbedeutende Besserung im Rahmen des gegenwärtigen Regimes möglich. Sie schildern den faulenden. niedergehenden Kapitalismus so, wie ihre Väter und Großväter den robusten, aufsteigenden. Die Tatsache ist unbestreitbar: die Stalinisten schmücken sich mit dem Plunder des Reformismus.

Die marxistische politische Formel aber muss lauten:

„Indem die Kommunisten (oder Sozialisten) täglich den Massen erklären, dass der faulende Kapitalismus nicht nur keine Besserung ihrer Lage, sondern nicht einmal die Aufrechterhaltung des bisherigen Elendsniveaus gestattet, indem sie offen vor den Massen die Aufgabe der sozialistischen Revolution als die unmittelbare Aufgabe unserer Tage stellen, indem sie die Arbeiter für die Machtergreifung mobilisieren, indem sie die Arbeiterorganisationen mittels der Miliz verteidigen, lassen sie gleichwohl keine Gelegenheit fahren, nebenbei dem Feinde die eine oder andere Teilkonzession abzuringen oder zumindest ihn daran zu hindern, das Lebensniveau der Arbeiter noch weiter zu senken“.

Man vergleiche aufmerksam diese Formel mit den oben zitierten Zeilen der Resolution des Zentralkomitees. Wir hoffen, der Unterschied ist klar: dort Stalinismus, hie Leninismus. Dazwischen ein Abgrund.

 

Sicheres Mittel gegen Arbeitslosigkeit

Lohnerhöhung, Kollektivverträge, Senkung der Lebenskosten ... Aber was mit der Arbeitslosigkeit? Die Resolution des Zentralkomitees weiß auch dafür Abhilfe. Zitieren wir: „Sie (die Kommunisten) fordern die Inangriffnahme öffentlicher Arbeiten. Zu diesem Zweck arbeiten sie konkrete, der jeweiligen Lage am Ort oder im Bezirk angepasste Vorschläge aus, geben sie die Mittel zur Finanzierung dieser. Arbeiten an (Projekt einer Kapitalszwangsabgabe, Anleihen mit Staatsgarantie, usw.)“.

Ist das nicht erstaunlich? Dieses Schwindelrezept ist beinahe Wort für Wort bei Jouhaux abgeschrieben: die Stalinisten verwerfen die fortschrittlichen Forderungen des „Plans“: der CGT und akzeptieren dessen phantastischsten und utopischsten Teil.

Die Hauptproduktivkräfte der Gesellschaft sind von der Krise ganz oder halb lahmgelegt. Die Arbeiter stehen ratlos vor den Maschinen, die sie schufen. Das rettende Zentralkomitee schlägt vor, außerhalb und neben der realen kapitalistischen Wirtschaft eine andere kapitalistische Wirtschaft zu gründen, auf der Grundlage „öffentlicher Arbeiten“.

Man sage uns nicht, es handle sich um episodische Unternehmen: die heutige Arbeitslosigkeit ist keine episodische, keine bloß konjunkturelle, sondern eine strukturelle, bösartigste Äußerung des kapitalistischen Niedergangs. Damit sie verschwinde, schlägt das Zentralkomitee vor, ein System großzügiger öffentlicher Arbeiten zu schaffen, der jeweiligen Gegend angepasst, mittels eines besonderen Finanzierungssystems neben den in Unordnung geratenen Finanzen des Kapitalismus. Mit einem Wort, das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei schlägt dem Kapitalismus weiter nichts vor, als sein Domizil zu wechseln. Und diesen „Plan“ stellt man dem Kampf um die Macht und dem Nationalisierungsprogramm gegenüber! Es gibt keine schlimmeren Opportunisten als erschrockene Abenteurer.

Wie man zur Realisierung der öffentlichen Arbeiten, zur Kapitalszwangsabgabe, zu den garantierten Anleihen usw. gelangen soll, davon wird kein Wort gesagt. Ohne Zweifel mit Hilfe von ... Petitionen. Das ist die geeignetste und wirksamste Art des Handelns. Den Petitionen halten weder Krisen, noch Faschismus, noch Militarismus stand. Darüber hinaus beleben die Petitionen die Papierindustrie und lindern die Arbeitslosigkeit. Merken wir uns also: Organisierung von Petitionen als der wesentlichste Teil des Arbeitsbeschaffungssystems nach dem Plan von Thorez & Co.

Über wen machen sich diese Herrschaften lustig? Über sich selbst oder über das Proletariat?

 

Die Kommunistische Partei ist eine Bremse

„Man muss staunen, wie passiv das Proletariat nach mehr als hundert Jahren Klassenkampf solche Entbehrungen und Vergewaltigungen erträgt“. Diesen so herablassenden Satz bekommt man auf Schritt und Tritt von Sozialisten oder Schreibtischkommunisten zu hören. Der Widerstand ist nicht stark genug? Diesen Mangel kreidet man dann den Arbeitermassen an. Als stünden die Parteien und Gewerkschaften abseits vom Proletariat, als wären sie nicht seine Kampforgane! Eben weil das Proletariat als das Resultat der mehr als hundertjährigen Geschichte seiner Kämpfe sich politische und gewerkschaftliche Organisationen geschaffen hat, ist es ihm nun schwer und beinahe unmöglich, den Kampf gegen das Kapital ohne und gegen sie zu führen. Allein, was als Triebfeder der Aktion aufgebaut wurde, ist Ballast oder Bremse geworden.

Die gesamte Lage leitet die Arbeiter zu dem Gedanken hin, dass, um ihre Existenzbedingungen zu ändern, es revolutionärer Taten bedarf. Aber gerade weil es sich um den Entscheidungskampf handelt, der Millionen von Menschen mitreißen muss, gehört die Initiative natürlicherweise den leitenden Organisationen, den Arbeiterparteien. der Einheitsfront. Von diesen muss ein klares Programm, müssen die Losungen und die Mobilisierung zum Kampfe ausgehen. Damit die Massen sich erheben, müssen die Parteien selber mit kühner revolutionärer Kampagne im Lande den Anfang machen. Aber den führenden Organisationen, einschließlich der Kommunistischen Partei, fehlt dazu der Mut. Die Kommunistische Partei wälzt ihre Aufgaben und Verpflichtungen auf die Massen ab. Sie verlangt, die durch ihre Schuld einer revolutionären Führung baren Millionen von Menschen mögen erst einmal zersplitterte Kämpfe für Teilforderungen unternehmen und den skeptischen Bürokraten ihre Kampfbereitschaft beweisen. Vielleicht werden sich dann die großen Führer bequemen, das Kommando zum Angriff zu geben. Anstatt die Massen zu lenken, unterzieht das bürokratische Zentralkomitee die Massen einem Examen, gibt ihnen eine schlechte Note und rechtfertigt so seinen Opportunismus und seine Feigheit.

 

Fertige Rezepte „nach Lenin“

Zur Zeit des relativen wirtschaftlichen und politischen Gleichgewichts in Frankreich (1929-1933) rief das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei die „Dritte Periode“ aus und tat es nicht mehr unter der Eroberung der Straße nebst Barrikaden. Heute, während der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise, begnügt es sich mit einem bescheidenen Programm von „Tagesforderungen“. Dieser absurde Widerspruch ist das komplexe Produkt mehrerer Faktoren: des Zurückschreckens vor seinen letzten Fehlern, der Unfähigkeit, den Massen Gehör zu schenken, der bürokratischen Gewohnheit, dem Proletariat eine fertige Marschroute vorzuschreiben, schließlich der ideologischen Anarchie, Ergebnis der unzähligen Zickzacks, Fälschungen, Lügen und Repressalien.

Unmittelbarer Verfasser des neuen Programms ist ohne Zweifel Bela Kun, der augenblickliche „Führer“ der Komintern, der in einem fort zwischen Abenteurertum und Opportunismus wechselt. Bei Lenin las er, dass die Bolschewiki unter gewissen Umständen für Streiks und die Menschewiki dagegen waren, und im Handumdrehen hat er auf diesen Fund seine „realistische“ Politik gegründet. Doch zu seinem Unglück hat Bela Kun Lenin ... auf der unrechten Seite aufgeschlagen.

In gewissen Perioden der revolutionären Bewegung des russischen Proletariats haben wirtschaftliche Streiks wirklich eine gewaltige Rolle gespielt. Nur war der russische Kapitalismus damals nicht morsch, sondern wuchs und stieg rasch empor. Das russische Proletariat war ein unbeschriebenes Blatt und Streiks waren seine erste Form des Erwachens und der Betätigung. Und im Übrigen fielen die breiten Überschwemmungen der Streiks jedes mal mit einem Konjunkturaufschwung der Industrie zusammen.

Keine dieser Voraussetzungen ist in Frankreich vorhanden. Das französische Proletariat ist durch eine grandiose Schule der Revolution, des gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampfes gegangen und ist Träger all des positiven und negativen Erbes dieser reichen Vergangenheit. Schwerlich ist in Frankreich ein spontanes Anschwellen der Streikbewegungen zu erwarten, sogar in einer Periode wirtschaftlichen Aufschwungs, geschweige denn zu einer Zeit, wo eine Konjunkturkrise die offenen Wunden des: kapitalistischen Niedergangs noch vertieft.

Nicht weniger wichtig ist die andere Seite der Frage. Während der ersten stürmischen Streikbewegung in Russland gab es eine Fraktion in der russischen Sozialdemokratie, die sich auf ökonomische Teilforderungen zu beschränken suchte: die sogenannten „Ökonomisten“. Ihrer Meinung nach sollte man die Losung „Nieder mit dem Selbstherrschertum!“ zurückstellen bis zum Anbruch einer „revolutionären Situation“. Lenin hielt die „Ökonomisten“ für elende Opportunisten. Er zeigte, dass es gilt, die revolutionäre Situation selbst während der Periode der Streikbewegung aktiv vorzubereiten.

Ist es schon überhaupt absurd, die verschiedenen Etappen und Episoden der russischen revolutionären Bewegung mechanisch auf Frankreich zu übertragen, so ist ganz und gar unmöglich, es zu tun auf die Art Bela Kuns, der weder von Russland, noch von Frankreich, noch vom Marxismus eine Ahnung hat. Man soll in Lenins Schule die Methode des Handelns lernen, und nicht den Leninismus zu Zitaten und Rezepten verzapfen, die für alle Lebenslagen gleich passen.

 

 

„Frieden, Brot und Freiheit!“

Nach der Meinung der Stalinisten ist die Lage in Frankreich also nicht revolutionär, revolutionäre Losungen sind darum nicht angebracht, die ganze Aufmerksamkeit heißt es auf ökonomische Streiks und Teilforderungen richten. So das Programm. Ein opportunistisches und lebloses Programm, aber ein Programm.

Daneben gibt es aber noch ein anderes. Tag für Tag wiederholt die Humanité die dreifache Losung: „Friede, Brot, Freiheit!“ Unter dieser Fahne, sagt die Humanité, haben 1917 die Bolschewiki gesiegt. Im Kielwasser der Stalinisten wiederholt der Sozialist Just denselben Gedanken. Sehr richtig. 1917 aber war in Russland die Lage ausgesprochen revolutionär. Wieso denn taugen Losungen, die den Sieg einer proletarischen Revolution sicherten, als „Tagesforderungen“ einer nichtrevolutionären Situation? Mögen die Weisen der Humanité uns einfachen Sterblichen dies Geheimnis erklären.

Was uns betrifft, erinnern wir daran, welche „Tagesforderungen“ die dreifache Losung der Bolschewiki umschloss.

„Frieden!“ bedeutete 1917, im Kriege: Kampf gegen alle patriotischen Parteien von den Monarchisten bis zu den Menschewiki, Forderung der Veröffentlichung aller Geheimverträge, revolutionäre Mobilisierung der Soldaten gegen die Vorgesetzten und Organisierung der Verbrüderung an der Front. „Frieden!“ bedeutete dem österreichischen und deutschen Militarismus einerseits, dem der Entente andererseits den Kampf anzusagen. Die Losung der Bolschewiki bezeichnete also die kühnste und revolutionärste Politik, die die Geschichte der Menschheit je gekannt hat.

1935, im Bunde mit Herriot und den bürgerlichen „Pazifisten“ d.h. mit heuchlerischen Imperialisten, für den Frieden „kämpfen“ bedeutet weiter nichts, als für den Status quo einzutreten, der der französischen Bourgeoisie im Augenblick dienlich ist. Bedeutet Einlullen und Demoralisierung der Arbeiter mit Illusionen über „Abrüstung“ und „Nichtangriffspakte“, mit der Völkerbundslüge, bedeutet Vorbereitung erneuter Kapitulation der Arbeiterparteien in dem Augenblick, wo es der französischen Bourgeoisie oder ihren Rivalen gut erscheinen wird, den Status quo umzustoßen.

„Brot!“ Das bedeutete für die Bolschewiki 19l7: Enteignung der Großgrundbesitzer und Spekulanten vom Boden und von den Getreidevorräten, und Getreidehandelsmonopol in den Händen der Arbeiter- und Bauernregierung. Was bedeutet die Losung „Brot!“ bei den französischen Stalinisten von 1935? Bloßes Nachplappern des Wortes!

„Freiheit“ Die Bolschewiki zeigten den Massen, dass die Freiheit nur Schein ist, solange Schule, Presse und Versammlungsräume in den Händen der Bourgeoisie verbleiben. „Freiheit!“ hieß: Übernahme der Macht durch die Sowjets, Enteignung der Großgrundbesitzer, Arbeiterkontrolle der Produktion.

„Freiheit!“ im Bunde mit Herriot und den ehrbaren Damen beiderlei Geschlechts von der Liga für Menschenrechte bedeutet: Unterstützung der halb bonapartistischen, halb parlamentarischen Regierungen, und weiter nichts. Die Bourgeoisie braucht gegenwärtig nicht nur die Banden La Rocques, sondern auch das „linke“ Ansehen Herriots. Das Finanzkapital bewaffnet die Faschisten. Die Stalinisten stellen das linke Ansehen Herriots mittels der Maskeraden der „Volksfront“ wieder her. Dazu dienen im Jahre 1935 die Losungen der Oktoberrevolution!

 

Drachen und Flöhe

Als einziges Beispiel für die neue „realistische“ Politik erzählt die Resolution des Zentralkomitees, wie die Arbeitslosen von Villejuif in die Volksküche der Croix de Feu Suppe essen gehen und dabei rufen: „La Rocque an den Galgen!“ Wie viele die Suppe essen und wie viele rufen, wird uns nicht gesagt: Zahlen können die Stalinisten nun einmal nicht vertragen. Aber nicht darum handelt es sich ... Wie tief muss eine „revolutionäre“ Partei gesunken sein, um in einer programmatischen Resolution für die proletarische Politik kein anderes Beispiel zu finden als die ohnmächtigen Rufe bedrückter und ausgehungerter Arbeiter, die gezwungen sind, sich von den Brosamen der faschistischen Wohltätigkeit zu nähren. Und diese Führer empfinden nicht ihre Niedrigkeit und ihre Schande!

Marx zitierte einmal, als er von gewissen seiner Schüler sprach, Heines Worte: „Ich habe Drachen gesät und Flöhe geerntet“. Wir fürchten, die Gründer der Dritten Internationale müssen dieselben Worte wiederholen ... Indessen, unsere Epoche verlangt nicht nach Flöhen, sondern nach Drachen!

 


Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008