Leo Trotzki

 

Der junge Lenin


Die Vorbereitung beginnt

Die ausgeschlossenen Studenten wurden aus Überlegungen der politischen Hygiene aus den Universitätsstädten „in die Heimat“ abgeschoben. Aber in Simbirsk, wo Wladimir mehr als 17 Jahre, fast ein Drittel seines Lebens, verbracht hatte, war von den Verwandten niemand mehr übriggeblieben. Gnadenhalber wurde ihm gestattet, sich auf dem ehemaligen Besitz des Großvaters Blank niederzulassen, wo Maria Alexandrowna den fünften Teil geerbt hatte. Im Dezember reiste Uljanow nach Kokuschkino, ungefähr vierzig Kilometer von Kasan; dort lebte er unter geheimer Überwachung bis zum Herbst des nächsten Jahres. Im Dorf traf er die ältere Schwester wieder, die ursprünglich nach Ostsibirien verbannt werden sollte – einfach nur deshalb, weil sie die Schwester Alexanders war, eine andere Begründung gab es nicht -, was nach rastlosem Bemühen der Mutter in eine Verbannung nach Kokuschkino unter offener polizeilicher Überwachung umgewandelt worden war. Etwas später kam aus Kasan auch Marja Alexandrowna mit den jüngeren Kindern. Die Familie wohnte in einem kalten und schlecht eingerichteten Nebengebäude einer der Tanten. Bei den Nachbarn konnte kein großes Verlangen bestehen, sich mit den Uljanows zu treffen. Von Zeit zu Zeit kam der Herr Chef der Landpolizei, um sich zu überzeugen, ob das verbrecherische Element anwesend sei. Die aufgeregten Tanten bewirteten den Polizeichef, wie sich’s gehört, mit Tee und Eingemachtem, vielleicht auch mit Kirschbrand, und damit war die Sache erledigt. Gelegentlich kam auch ein in keiner Hinsicht bemerkenswerter Vetter zu Besuch. Still war es im Winter in Kokuschkino. Der Wind heulte, und Schneestürme verwehten das Haus. Die Mutter seufzte verstohlen. Ab und zu schüttelten die Tanten vorwurfsvoll die Köpfe. Weshalb mußte denn auch wirklich Wladimir sich das Leben verderben? War es denn nicht schon genug mit dem, was sich mit Sascha ereignet hatte? Sie vermieden es übrigens, Saschas Namen auszusprechen.

Wladimir reifte zum Mann, wurde der Mutter gegenüber aufmerksamer, die nach wie vor den unerschöpflichen Quell ihrer Liebe und Sorge an die Kinder verschwendete. Anna, die überhaupt einen unausgeglichenen Charakter hatte, war nach dem, was sie im Gefängnis mitgemacht hatte, noch nervöser als sonst. Die Familie lebte gedrückt, von einem Tag zum anden, ohne zu wissen, was sie von der nächsten Zukunft zu erwarten hatte. Glücklicherweise befand sich im Nebengebäude ein Schrank mit Büchern eines verstorbenen Onkels, der seinerzeit als belesener Mensch gegolten hatte. Solche Onkel, nicht selten vom Typ der Turgenjewschen „überflüssigen Leute“, gab es in vielen Gutsbesitzerfamilien; wenn sie auf den Friedhof übersiedelten, hinterließen sie den Neffen und Nichten zweihundert zufällig zusammengewürfelte Bücher und Bände alter russischer Zeitschriften. Wladimir stürzte sich auf den Bücherschrank des Onkels. Der erste Anlauf zum „ernsten“ Lesen mußte wohl oder übel reichlich ungeordnet sein: Die Auswahl der Bücher war zufällig, es gab niemanden, der einen angeleitet hätte; die jungen Augen liefen gierig hin und her.

Als Wladimir mit den fortschrittlichen Zeitschriften früherer Jahre Bekanntschaft machte, stieß er zum erstenmal auf den Richtungskampf rund um die Frage des wirtschaftlichen Schicksals Rußlands. Die Kenntnis der Publizistik der sechziger und siebziger Jahre, die er auch später ununterbrochen ergänzte, kam ihm in der Folge bei den Debatten mit Volkstümlern und bei den ersten literarischen Arbeiten zustatten. Aber der ländliche Bücherschrank bot zuwenig, man mußte zu einer Kasaner Bibliothek Zuflucht nehmen. Gleichzeitig wurde eine Zeitung abonniert, höchstwahrscheinlich die Moskauer Russkije Wjedomosti (Russische Nachrichten), die im Dämmer der achtziger Jahre als mattes liberales Flämmchen glommen. Offenbar hat Wladimir gerade in der Zeit seines zehnmonatigen Aufenthaltes in Kokuschkino zum erstenmal gelernt, eine Tageszeitung zu lesen – eine schwierige Kunst, die er später so virtuos beherrschte. Um Verbindung mit der Außenwelt aufzunehmen, mußte man auf glückliche Gelegenheiten warten. Die Ankunft eines geflochtenen Korbes mit Büchern, Zeitungen und Briefen war jedesmal ein Ereignis. Wladimir führte übrigens keine Korrespondenz. Nur einmal versuchte er, einen ehemaligen Gymnasialkollegen in seinen jüngsten Zusammenstoß mit den Universitätsbehörden einzuweihen, wobei er im Brief die Gegner mit gewichtigen Worten verprügelte; aber die zur Vorsicht neigende ältere Schwester wies nach, wie unvernünftig es sei, sich und den Adressaten einem Risiko auszusetzen, und obwohl Wladimir es absolut nicht liebte, sich fremden Argumenten zu beugen, verzichtete er doch darauf, den mit Genuß geschriebenen Brief abzusenden.

Zwischen dem Bücherschrank des Onkels und dem Flechtkorb mit der Kasaner Post floß das Leben unter Polizeiaufsicht dahin. Unmerklich vernarbten die Wunden der Familie, bei den Kindern schnell, bei der Mutter langsam. Wladimir lernte mit dem jüngeren Bruder Dmitrij, ging Schi taufen und verfolgte mit dem Gewehr in der Hand Hasen und anderes Wild – allerdings erfolglos. Über seine Mißerfolge als Jäger schreibt Anna: „Jäger mit Leib und Seele, wie meine beiden anderen Brüder, ist er nie gewesen.“ Damit kann man sich schwerlich einverstanden erklären. Lenin war in Wirklichkeit ein leidenschaftlicher, aber allzu hitziger Jäger: auf diesem Gebiet stand es bei ihm schlecht mit der Disziplin. Die allzu große Hitzigkeit hinderte ihn auch später daran, ein guter Jäger zu werden, obwohl er in der Verbannung doch einigermaßen erfolgreich war.

Es kam der Frühling, der erste, den Wladimir im Dorf erlebte. Er war jetzt achtzehn Jahre alt, das Alter des Frühlings. Jetzt mußte er besser verstehen, warum Sascha die Natur so liebte und das Alleinsein mit ihr. Im Sommer kamen die Vettern und Basen; die Familie erholte sich von den Schicksalsschlägen. Es wurde wieder lebendig in Kokuschkino, es gab gemeinsame Spaziergänge, Schachspiele, es gab Gesang und Jagd.

Unter den sommerlichen Verwandten war niemand, mit dem ein Meinungsaustausch über die erregenden Themen dafürgestanden wäre; dafür konnte man die Vettern ungestraft necken, wenn sie auch älter waren, „paßten sie doch entschieden vor der spitzen Zunge und dem boshaften Spott Wolodjas“.

Im Mai, fünf Monate nach seinem Ausschluß, unternahm Wladimir einen Versuch, sich die Türe der Universität wieder zu öffnen. Der Kurator des Kasaner Lehrbezirkes übermittelte dem Ministerium eine Auskunft, aus der hervorging, daß der ehemalige Student Uljanow „bei hervorragenden Fähigkeiten und sehr guten Kenntnissen einstweilen weder in moralischer noch in politischer Hinsicht als vertrauenswürdige Person anerkannt werden kann“. Das Wörtchen „einstweilen“ sprach dafür, daß der Kurator die Hoffnung nicht aufgegeben hatte. Der Direktor des Departements schrieb, bevor er den Bericht zu Ende gelesen hatte, an den Rand: „Ist das vielleicht der Bruder jenes Uljanow? Er ist ja auch aus Simbirsk“, dann, als er aus dem letzten Teil des Dokuments ersah, daß der „Bittsteller der leibliche Bruder des hingerichteten Uljanow“ war, schrieb er auf der Stelle: „Darf auf keinen Fall aufgenommen werden.“ Unterrichtsminister war Graf Deljanow. Witte charakterisierte ihn als „lieben, guten Menschen“ und gleichzeitig als „Schlaukopf“, der nach allen Seiten lavierte. Bei Uljanow war es nicht nötig, zu lavieren: der Minister lehnte glattweg ab.

Zwei Monate später wandte sich Marja Alexandrowna schon im eigenen Namen an Deljanow. Noch bevor vom „lieben, guten Menschen“ die im voraus sichere Absage kam, reichte Wladimir beim Innenminister ein Bittgesuch ein, ihm zur Fortsetzung der Studien eine Reise ins Ausland zu gestatten. Die Mitteflung über die Absage des Direktors des Polizeidepartements, einen Auslandspaß auszustellen, wurde schon durch die Kasaner Polizei zugestellt: Um diese Zeit hatten die Behörden Wladimir auf Betreiben der unermüdlichen Mutter gestattet, sich wieder in Kasan niederzulassen. Die Familie übersiedelte dorthin im Herbst 1888, mit Ausnahme von Anna, die Kokuschkino erst einige Zeit später verlassen durfte.

Seit dem Tod Ilja Nikolajewitschs lebten die Uljanows von der Pension. Die 1.200 Rubel im Jahr, die von der Staatskasse der Witwe und den Kindern ausbezahlt wurden, waren in der Provinz eine recht ansehnliche Summe; aber bei der zahlreichen Familie mußte man doch recht bescheiden leben. Das beim Verkauf des Simbirsker Hauses erhaltene Geld war die Reserve. Marja Alexandrowna mietete am Stadtrand ein Hinterhaus mit einem Balkon und einem Obstgarten auf einer Anhöhe. Im unteren Stockwerk gab es aus irgendeinem Grund zwei Küchen. Die eine von ihnen, die überflüssig war, nahm Wladimir in Beschlag; hier genoß er relative Einsamkeit und saß bei den Büchern. Für ihn begannen die Jahre der Vorbereitung. Sie dauerten, vom Ausschluß aus der Universität bis zur Abreise nach Petersburg zur revolutionären Arbeit gerechnet, fast sechs Jahre. Hier, an der Wolga, in Kokuschkino, in Kasan, dann im Gouvernement von Samara, formte sich der künftige Lenin. Für den Biographen sind diese kritischen Jahre, 1888 bis 1893, sehr interessant, gleichzeitig aber auch die schwierigsten.

Über jeden physischen Ortswechsel des jungen Uljanow gibt es geheime Rapporte der Polizeiinstanzen. Diese Meldungen kennzeichnen wie Fähnchen auf der biographischen Karte seinen äußeren Weg und erleichtern die Arbeit des Forschers. Aber für den inneren Weg Wladimirs in dieser Vorbereitungsperiode, als er noch nicht Schriftsteller war, gibt es keine solchen Fähnchen. Es gibt recht interessante unzusammenhängende Zeugenaussagen, aber sie sind allzu formlos, einige direkt apokryph. An seiner Seite gab es niemanden, der politisch reifer war, als Führer, es gab nicht einmal einen aufmerksamen Beobachter seines inneren Weges. Außer der älteren Schwester, die uns über die Entwicklung des Bruders alles, was sie wußte, mitgeteilt hat, kamen mit Wladimir nur Altersgenossen in Berührung, die im Grunde genommen Schüler waren; und auch von ihnen sind die meisten von der Bühne abgegangen, ohne Erinnerungen zu hinterlassen. Als Schriftsteller trat Wladimir nicht vor 1898 an die Öffentlichkeit; es haben sich überhaupt keine Dokumente seiner Entwicklung erhalten, weder seine so sorgfältigen Konspekte noch persönliche Briefe.

Gegen die sich oft wiederholenden Klagen über die Dürftigkeit der Materialien über die kritischen Jahre Lenins wendet Jelisarowa ein: „Besonders viel kann man auch nicht sagen. Er las, lernte, debattierte.“ Der gereizte Ton dieser Worte unterstreicht nur noch klarer, daß Jelisarowa das geistige Leben Wladimirs nur rein äußerlich beobachtete. Sie stellt sich überhaupt nicht die Frage, was Wladimir las, was er lernte, worüber er debattierte, auch nicht darüber, wie seine Einstellung zu den „Narodniki“ und der „Narodnaja Wolja“ war, wie sich diese Einstellung unter dem Einfluß des Studiums von Marx, der Zusammenstöße mit der Wirklichkeit, der persönlichen Begegnungen und Einflüsse änderte: mit einem Wort, wie der noch uninteressierte Simbirsker Gymnasiast, der kaum erst mit der Orthodoxie gebrochen hatte, sich sorglos an Turgenjew berauschte, in der finsteren Wolgaprovinz zum vollendeten Marxisten, zum unbeugsamen Revolutionär, zum Führer von morgen wurde. „An die Namen seiner Bekannten kann ich mich nicht erinnern“, schreibt Anna, die in das innere Leben Wladimirs ebensowenig eindrang wie früher in den Kreis der Interessen Alexanders. Die Mitteilungen dieser nächsten Zeugin der kritischen Vorbereitungsperiode sind inhaltsarm und wenig zuverlässig, sofern es sich um die geistige Entwicklung Wladimirs handelt.

Die allgemeine Richtung der Entwicklung Wladimirs war freilich keine Ausnahme. Anfang der neunziger Jahre wendete sich die junge Generation der Intelligenz überhaupt entschieden dem Marxismus zu. Auch die historischen Gründe dieser Wendung sind kein Geheimnis: die kapitalistische Umgestaltung Rußlands; das Erwachen des Proletariats; die Sackgasse, in die der selbständige revolutionäre Weg der Intelligenz geraten war. Aber man darf die Biographie nicht in der Geschichte auflösen. Man muß zeigen, wie die allgemeinen historischen Kräfte und Tendenzen sich in der gegebenen Persönlichkeit mit allen ihren individuellen Zügen und Besonderheiten widerspiegelten. Nicht wenige russische junge Männer und Mädchen studierten in jenen Jahren Marx, darunter auch einige an den Wolgaufern. Aber nur einem von ihnen gelang es, die Doktrin so in sich aufzunehmen, daß sie in Fleisch und Blut überging, und ihr gleichermaßen das ganze Denken und Fühlen unterzuordnen und sich damit über sie zu erheben, sich als Meister, die Doktrin aber als Werkzeug zu empfinden. Und dieser eine war Wiadimir Uljanow. Aber bei den wenigen Daten über den Gang seiner Entwicklung in den Vorbereitungsjahren ist die Lage des Biographen noch immer hoffnungslos. Einige wichtige Anhaltspunkte für die Benimmung seines geistigen Gesichtskreises gibt es. Für die Lücken muß man psychologische Hypothesen aufstellen.

Die Familie blieb auch in Kasan ziemlich isoliert, wenn wahrscheinlich doch nicht so wie in den letzten Monaten in Simbirsk. Maria Alexandrowna war aus dem einen Milieu herausgerissen und hatte vorläufig noch kein anderes gefunden. Anna war mit ihren Gedanken nicht bei der Familie: sie schickte sich an, Jelisarow zu heiraten. Wladimir war in Kasan kein Neuling. Er fand einige seiner alten Bekannten und gewann durch sie neue. Nach Hause brachte er offenbar niemanden: Er tat dies auch in den Gymnasialjahren nicht, aber vor allem nach seinem Ausschluß schützte er die Seinen vor verdächtigen Besuchen und möglichen Unannehmlichkeiten. Und auch die radikale Jugend mußte die Familie Alexander Uljanows meiden, um nicht überflüssig die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu lenken.

Unter den neuen Bekannten Wladimirs wird die alte Narodowolzin Tschetwergowa genannt, der er, wie erzählt wird, „große Sympathie“ entgegenbrachte. Jelisarowa erinnert bei dieser Gelegenheit daran, daß sich Lenin überhaupt nicht vom „Erbe“ der alten Narodowolzen lossagte; aber hier verfällt sie sichtlich in einen der üblichen Anachronismen: Später, als Lenin die Elemente der revolutionären Vergangenheit kritisch prüfte, übernahm er tatsächlich einen gewissen Teil des Erbes der Narodowolzen: die Unerbittlichkeit im Kampf gegen den Zarismus, den Zentralismus, die Konspiration; aber wenn er sich 1888 vom Narodowolzentum „nicht lossagte“, dann nur deshalb, weil er es noch nicht kritisch unter die Lupe genommen hatte. Die Ideen und Richtungen waren in seinem Kopf noch nicht klar abgegrenzt. Für sich sowie für die anderen blieb er noch der jüngere Bruder Alexander Uljanows, des Helden und Märtyrers. Zur Tschetwergowa blickte er auf wie ein grüner Rekrut zu einem mit Narben bedeckten Veteranen.

Wie und wann stieß Wladimir zum erstenmal auf seinen künftigen Lehrer Marx? Alexander las das Kapital während seiner letzten Ferien. Im Zusammenhang mit dem Schicksal des Bruders konnte der Name Marx für Wladimir plötzlich aus jener Sphäre der Gleichgültigkeit heraustreten, in der so viele menschliche Namen begraben sind. Einer seiner Gymnasialkameraden schreibt, sie hätten in der letzten Gymnasialklasse, nach dem Tod Alexanders, versucht, zu zweit das Kapital aus dem Deutschen zu übersetzen. Wenn diese Erinnerung, die von der älteren Schwester bezweifelt wird, nicht ein einfacher Gedächtnisfehler ist, dann konnte der Versuch auf jeden Fall nur episodischen Charakters gewesen sein und ging nicht über die ersten Seiten hinaus; „Wie hätten schon die grünen Gymnasiasten ein solches Unternehmen durchführen können?“ bemerkt mit Recht Jelisarowa.

Ein anderes Zeugnis, das verläßlicher ist, obwohl es faktische Fehler enthält, datiert die erste Bekanntschaft mit Marx um ungefähr ein Jahr später. Auf Grund von Gesprächen mit Lenin in der Emigration, zur Zeit des imperialistischen Krieges, erzählt Radek: „Schon als Gymnasiast [?] geriet Iljitsch in einen Narodowolzen-Zirkel. Dort hörte er zum erstenmal von Marx. Der Student Mandelstamm, ein künftiger Kadett, hielt eine Rede und entwickelte ... die Anschauungen der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ ... Wie durch einen Nebel erblickte Iljitsch die gewaltige revolutionäre Theorie. Er erwarb den ersten Band des Kapital, der ihm die äußere Welt erschloß.“ Das ereignete sich nicht in Simbirsk, sondern in Kasan; Wladimir war nicht Gymnasiast, sondern relegierter Student. Im übrigen gibt die Erzählung, wenn sie auch stilisiert ist, keinen Anlaß zu besonderen Zweifeln. Auf den Namen Mandelstamms, des künftigen liberalen Advokaten, der in seiner Jugend tatsächlich vorübergehend an den Masern des Marxismus erkrankt war, stoßen wir in diesem Zusammenhang das erstemal: diese interessante Einzelheit konnte Radek nur von Lenin selbst erfahren haben. Die Erwähnung des Narodowolzen-Zirkels bestätigt, daß es den Bruder des Terroristen eben zu diesem Milieu hinzog.

Man darf sich jedoch diesen Kasaner Zirkel auf keinen Fall als eine Verschwörer- und schon gar nicht als eine Terroristen-Organisation vorstellen. Es gruppierten sich einfach einige junge Leute um irgendwen, der unter Polizeiaufsicht stand, vielleicht um die schon erwähnte Tschetwergowa. Wenn man die Worte Radeks, daß Lenin an jenem Abend zum erstenmal den Namen Marx hörte, wörtlich nimmt, dann muß man nicht nur die Erzählung über den Simbirsker Versuch, das erste Kapitel des Kapital aus dem Deutschen zu übersetzen, in das Reich der Fabel verweisen, sondern auch annehmen, daß sich Wladimir im Sommer 1886 absolut nicht für das dicke Buch interessierte, über dem Alexander die Abendstunden zubrachte. Das ist durchaus nicht unmöglich. Mit Turgenjew und dem Schachspiel beschäftigt, ließ der Gymnasiast vielleicht einen flüchtigen Blick über den Einband gleiten, ohne sich auch nur den Namen des Autors zu merken.

Von der ersten russischen Ausgabe des Kapital entfielen auf die Universitätsstadt Kasan wahrscheinlich etwa ein Dutzend Exemplare; die meisten davon wurden aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt oder bei Hausdurchsuchungen konfisziert. Das Buch war schon längst eine Rarität geworden. Ob es Wladimir gelang, den Schatz mit Hilfe von verbannten Narodowolzen oder ansässigen Studenten aus dem Geheimschrank irgendeines gebildeten Liberalen aufzutreiben, wissen wir nicht. Es ist möglich, daß gerade die Suche nach dem Kapital ihn über Mandelstamm oder auf anderen Wegen mit den ersten marxistischen Zirkeln in Berührung brachte.

Wie dem auch sei: der aus der kaiserlichen Universität ausgeschlossene Student wurde Student an der geheimen Universität von Marx. Und was für ein Student! Der Biograph würde viel darum geben, wenn er durch einen Spalt den jungen Lenin in der Reserveküche des Kasaner Hinterhauses über dem ersten Kapitel des Kapital beobachten könnte. Wenn ihm Anna am Abend unter die Augen kam, erwählte er sie sofort zu seinem Auditorium. Wladimir konnte nicht wie Alexander seine Gedanken in sich verschließen. Sie beherrschten ihn, unterwarfen ihn sich und verlangten, daß er ihnen die anderen unterwarf. Auf der mit alten Zeitungen bedeckten Herdplatte sitzend und wild gestikulierend, entdeckte er seiner älteren Schwester die Geheimnisse des Mehrwerts und der Ausbeutung.

Über den Kasaner Zirkel, an dem Wladimir teilnahm, sind nur sehr spärliche Mitteilungen erhalten. Wohl auf Grund einer Vermutung schreibt Jelisarowa: „Irgendeinen angesehenen Leiter gab es in diesem Zirkel nicht.“ Einige Studenten lasen gemeinsam gute Bücher und tauschten ihre Gedanken über das Gelesene aus. Im Frühling 1889 wurden diese Studien offenbar systematischer. Wladimir war an den Abenden häufiger nicht zu Hause. Er war in diesen Monaten beim Studium des Kapital weiter fortgeschritten und überhaupt reifer geworden; man kann mit Bestimmtheit annehmen, daß er im Zirkel zum Ersten unter Gleichen wurde und seine Verpflichtungen als inoffizieller Leiter sehr ernst nahm und sie gewissenhaft erfüllte. Aber einstweilen handelte es sich erst um die Suche nach dem Weg.

In der Universitätsstadt gab es einige Zirkel dieser Art. Ernster war der Zirkel Fedossejews, der eine zentrale Rolle spielte. Der Leiter des Zirkels, der 1869 geboren war und mit 29 Jahren. sein Leben auf tragische Weise beendete, war eine wirklich bemerkenswerte Gestalt. Wegen revolutionärer Beeinflussung seiner Kameraden war er schon aus der achten Gymnasialklasse ausgeschlossen worden. Diese Lehre besserte ihn nicht im geringsten, im Gegenteil, sie regte ihn zu noch intensiverer Arbeit an. Im Bericht eines örtlichen Gendarmerieoffiziers heißt es: „Fedossejew hatte trotz seiner Jugend bei der hiesigen studierenden Jugend in revolutionärer Hinsicht eine sehr beträchtliche Autorität ...“ Der Zirkel Fedossejews, der über eine kleine illegale Bibliothek verfügte, gründete einen eigenen illegalen Verlag. In diesen finsteren Zeiten war das ein großes und kühnes Unterfangen, dem allerdings eine breitere Entwicklung versagt blieb.

Wladimir, der dem zentralen Zirkel nicht angehörte, erfuhr von diesen Plänen, nahm aber nicht daran teil. Er wollte lernen. Das Schicksal Alexanders rief ihn nicht nur auf den Weg der Revolution, sondern warnte ihn auch vor den Gefahren. Sich Hals über Kopf hineinzustürzen, sich unüberlegt zum Opfer bringen – dieser Gedanke lag ihm schon in diesen jungen Jahren fern. Das Bewußtsein der eigenen Bedeutung war in ihm schon erwacht. Er bereitete sich vor, ohne Hast und ohne verkrampftes Hin und Her. Natürlich nicht deshalb, weil es ihm an Leidenschaft fehlte. Aber die Fähigkeit, die Leidenschaft zu disziplinieren, war eine seiner höchsten, und sie war es, die ihn zum Führer der anderen machte.

In den Winter 1888/89 verlegt Jelisarowa ohne irgendwelchen konkreten Hinweis „den Beginn der Herausarbeitung sozialdemokratischer Uberzeugungen bei Wiadimir Iljitsch“. Die vorsichtige Formulierung „Beginn der Herausarbeitung“ sagt so gut wie nichts. Aber wir haben uns auf jeden Fall weit entfernt von der Behauptung der jüngeren Schwester, daß der sozialdemokratische Weg angeblich schon 1887 gewählt wurde. Doch auch die ältere Schwester eilt den Ereignissen voraus. Es handelte sich vorläufig nur um das Studium der Wirtschaftstheorie von Marx, die auf ihre Art auch die Narodniki anerkannten. Wladimir studierte sie ernster als die anderen, aber er war noch weit entfernt von den notwendigen politischen Schlußfolgerungen. Dafür spricht, wenn auch nur indirekt, seine Beziehung zu Fedossejew. Jelisarowa ist jedoch der Ansicht, daß man „von einem Einfluß des einen auf den anderen nicht sprechen kann“, da es „ungefähr gleichwertige Größen“ waren.

Für die Frage, die uns beschäftigt, besteht keine Veranlassung, das spezifische Gewicht der Persönlichkeit von zwei jungen Männern zu vergleichen, von denen Fedossejew um ein Jahr älter war. Für uns handelt es sich um die Fristen der Entwicklung in der Richtung zur Sozialdemokratie. Aus allem, was über Fedossejew bekannt ist, geht hervor, daß er Uljanow beträchtlich voraus war. Wie Gorkij mitteilt, der in diesen Jahren an der Wolga lebte und in radikalen Zirkeln verkehrte, erklärte sich Fedossejew schon 1887 mit Unsere Meinungsverschiedenheiten von Plechanow solidarisch. Wenn auch das Gedächtnis Gorkis, wo es sich um Ideen und Daten handelt, nicht allzu zuverlässig ist, so wird sein Zeugnis doch von anderen Zeitgenossen indirekt bestätigt. „Fedossejew war schon damals (1888) ein sich formender Marxist“, schreibt der ehemalige Kasaner Student Lalajanz. In Beantwortung einer ihm gestellten Frage schrieb Lenin selbst einige Jahre vor seinem Tod: „N.J. Fedossejew war einer der ersten, die ihre Zugehörigkeit zur marxistischen Richtung verkündeten.“ Unter dem Einfluß des älteren Sozialdemokraten P. Skworzow lehnte Fedossejew außerdem den Terror der Narodowolzen ab, was in jenen Jahren unter Marxisten nicht üblich war. Gerade das mußte für Alexander Uljanows Bruder ein Stein des Anstoßes sein.

Es besteht alle Ursache, anzunehmen, daß Wladimir an der Peripherie der Propaganda Fedossejews in den marxistischen Interessenkreis geriet; höchstwahrscheinlich erhielt er auch aus diesen Kreisen den geheiligten Band des Kapitals. Wladimir machte jedoch nicht die Bekanntschaft Fedossejews und traf ihn bis zu seiner Abreise aus Kasan kein einziges Mal, obwohl er mit weniger scharf umrissenen Mitgliedern derselben Gruppe engen Kontakt hatte. Diese Tatsache, die von den Memoirenschreibern und Biographen unbeachtet geblieben ist, bedarf der Erklärung. Lenin selbst bemerkt in derselben Auskunft: „Ich hörte von Fedossejew in der Zeit meines Aufenthaltes in Kasan, aber persönlich bin ich mit ihm nicht zusammengekommen.“ Wir werden später sehen, daß Lenin immer auf der Suche nach Bekanntschaften und Verbindungen mit Gleichgesinnten war. Nach einer kurzen Zeitspanne begann er mit demselben Fedossejew einen Briefwechsel über theoretische Fragen des Marxismus und unternahm speziell eine Reise, um zu versuchen, seine persönliche Bekanntschaft zu machen. Warum also suchte Uljanow in Kasan, wo es so einfach war, seine Bekanntschaft zu machen, Fedossejew nicht auf, man möchte fast sagen: warum mied er ihn? Die Annahme, daß Fedossejew, der im damaligen marxistischen „Untergrund“ eine zentrale Stellung einnahm, aus Erwägungen der Konspiration die Bekanntschaft ablehnte, erweist sich als absolut unwahrscheinlich: wie der Kasaner Grigorjew erzählt, wurde der Name Fedossejews unter der Jugend überall und „nicht völlig konspirativ“ genannt; anderseits war Wladimir aus der Universität relegiert und der Bruder eines gehenkten Terroristen: die Rekommandation klang höchst eindrucksvoll. Viel wahrscheinlicher ist, daß Wladimir selbst die Bekanntschaft mied. Als er mit dem Studium des Kapitals begann, hatte er durchaus nicht die Absicht, sich von der Narodowolzen-Tradition loszulösen. Gleichzeitig konnte er sich keineswegs hinreichend beschlagen fühlen, um diese Tradition gegen die Kritik eines Sozialdemokraten zu verteidigen, der den Terror ablehnte. Wenn man dem noch hinzufügt, daß Wladimir es nicht liebte, sich durch fremde Argumente geschlagen zu geben, erst recht, wenn es sich um einen Altersgenossen handelte, dann wird es verständlich, warum er vielleicht vorgezogen hat, sich nicht vor der Zeit den Schlägen des Gegners auszusetzen. Durch andere Mitglieder des Zirkels war er hinreichend auf dem laufenden über die Ideen und Argumente Fedossejews, um sie bei seinem Studium ins Kalkül zu ziehen. Derartige Methoden vorsichtiger Erkundung, die vor allem von der gewaltigen Selbstbeherrschung sowie von jener Eigenschaft sprechen, die in den Worten „auf der Hut sein“ zum Ausdruck kommt, wendete Lenin wiederholt auch in späteren Jahren an. Diese psychologischen Erwägungen sind so überzeugend, daß man die Hypothese aufstellen kann – wir werden für sie bald eine Reihe von Bestätigungen finden -, daß nicht weniger als vier Jahre (1887 bis 1891) die revolutionären Tendenzen Wladimirs keinen sozialdemokratischen Anstrich erhielten und das Studium des Marxismus für ihn nicht eine Trennung von der Fahne des älteren Bruders bedeutete.

Ohne Kenntnis der Werke Plechanows konnte sich Wladimir auch gar nicht ernstlich die Frage der Wahl zwischen der Sozialdemokratie und dem Narodowolzentum stellen. Gewiß, Kamenjew, der erste Redakteur der Werke Lenins, bringt seine Überzeugung zum Ausdruck, daß die Literatur der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“, die damals in den radikalen Kreisen Kasans zirkulierte, „zweifellos Wladimir Iljitsch bekannt wurde“. Aber wir sind absolut nicht überzeugt davon. Wladimir hielt sich in Kasan alles in allem etwa sieben Monate auf. Der Name Plechanow sagte ihm noch nichts. Die Literatur der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ ging zwar von Hand zu Hand, aber nur in einem Exemplar. Wladimir war hinreichend in Anspruch genommen vom Kapital. Und schließlich, wenn ihm auch Unsere Meinungsversehiedenheiten zu. dieser Zeit in die Hände kamen, so hätte er ohne Kenntnis des Abc der politischen Ökonomie und der Geschichte der russischen revolutionären Bewegung mit dem polemischen Buch, das keineswegs für Anfänger gedacht war, kaum viel anfangen können.

Darüber, wann Wladimir sich mit der russischen sozialdemokratischen Literatur zu befassen begann, haben wir, wenn wir von den Mutmaßungen Kamenjews absehen, einzig und allein einen positiven Hinweis desselben Radek: Lenin erzählte ihm auf einem gemeinsamen Spaziergang, daß er nicht nur das Kapital, sondern auch den Anti-Dühring von Engels schon studiert hatte, bevor es ihm gelang, die von der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ herausgegebenen Schriften in die Hand zu bekommen. Man kann als nachgewiesen betrachten, daß Wladimir den Anti-Dühring nicht früher als im Herbst 1890 in Petersburg zu lesen bekam; die Bekanntschaft mit den Werken Plechanows, ohne die man nicht zur Sozialdemokratie kommen konnte, fällt daher in das Jahr 1891. Wenn man nicht die begeisterten Anachronismen beiseite räumt, kann man die tatsächlichen Meilensteine der Entwicklung nicht feststellen und auch nicht annähernd zeigen, wie dieser junge Mann, der sich mit neunzehn Jahren an die Beschäftigung mit den Gesellschaftswissenschaften machte, binnen vier Jahren als von Kopf bis Fuß gerüsteter junger Kämpfer auf den Schauplatz trat. Die eben erwähnten Daten werden sich für uns im weiteren mit lebendigerem Inhalt füllen. Einstweilen wiederholen wir nur: bei Lenin gab es keinerlei Frühreife, sein Genie war organisch, hartnäckig, auf gewissen Etappen sogar langsam, weil es tief war. Wie soll man da nicht den Memoirenschreibern, Biographen, Verehrern und Schwestern aufs neue raten: treibt Lenin nicht mit Kinderpeitschen an, laßt ihn seinen eigenen Schritt gehen, er kommt schon auf den Weg, und, ihr könnt es glauben, zur richtigen Zeit!

Der in Kasan verbrachte Winter war eine Zeit hitziger Schach-begeisterung. Zwei Umstände begünstigten diese Fieberhitze: das jugendliche Alter, das nach Gymnastik aller Art verlangt, nach verschwenderischer Verausgabung der physischen und geistigen Kräfte, und die unklare Situation: Wladimir war ein relegierter Student und wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Für einen Amateur beträchtliche Erfolge hatte er schon im Gymnasium erzielt, wo er den Vater weit überholte. Als Alexander das letztemal auf Ferien kam, kämpften die Brüder an den Abenden – hartnäckig, schweigsam, konzentriert. Im Spiel mit Dmitrij, dem jüngeren Bruder, und überhaupt mit schwächeren Spielern, kannte Wladimir nicht jene zur Nachlässigkeit führende Großmut, die es dem Gegner gestattet, Züge zurückzunehmen, womit man ihn und sich selbst demoralisiert. Die Beachtung der Spielregeln gehörte für ihn zu den wesentlichen Elementen für den eigentlichen Genuß des Spieles. Mangel an Scharfblick und Schlamperei mußten bestraft und nicht prämiiert werden. Das Spiel ist eine Repitition des Kampfes, und im Kampf gibt es kein Zurücknehmen von Zügen. Wladimir besuchte regelmäßig den Kasaner Schachklub und erprobte zu Hause seine Kräfte im Blindspiel. In diesem Winter vermittelte ihm Jelisarow eine Briefpartie mit dem Samarer Advokaten Chardin; einem hervorragenden Amateur. Das Duell, das auf Postkarten geführt wurde, kam zu einem kritischen Moment. Wladimir schien es, er habe mit seinem letzten Zug den Gegner in eine ausweglose Lage getrieben. Während er auf die Antwort wartete, stellte er immer wieder die Figuren auf und überzeugte sich aufs neue: für den Gegner gab es keine Rettung. Chardin antwortete mit einem so unerwarteten Zug, daß Wladimir zuerst völlig verblüfft war, dann aber nach sorgfältiger Analyse anerkennend ausrief: „N-ja, das ist ein Spieler, eine verfluchte Stärke!“ Fremde Stärke, selbst beim Gegner, bereitete ihm immer ein ästhetisches Vergnügen. Drei Jahre später sollte der Advokat Chardin Chef des vereidigten Rechtsanwaltsgehilfen Wiadimir Uljanow werden.

In die Kasaner Periode fällt eine interessante Episode, die von der Schwester erzählt wird. Wladimir begann zu rauchen, wahrscheinlich unter dem Einfluß der Zirkelgenossen, die die nebelhaften Debatten über den Kapitalismus mit unvermeidlichen Rauchwolken umgaben. Die Mutter war beunruhigt wie jede Mutter; als die Argumente hinsichtlich Gesundheit nichts fruchteten, berief sich Maria Alexandrowna darauf, daß man der Familie keine unnützen Ausgaben verursachen dürfe, wenn man kein eigenes Einkommen hat. Wladimir empfand offenbar sehr scharf den in den Worten der Mutter versteckten Vorwurf wegen der enttäuschten Hoffnungen. Er hörte sofort auf zu rauchen, und zwar endgültig, fürs ganze Leben.

Die Angst, Wladimir könnte „hineinsausen“, veranlaßte die Mutter, wie Anna berichtete, ein „kleines Gehöft im Samarer Gouvernement zu erwerben und die Bewilligung herauszuschlagen, im Sommer dorthin zu übersiedeln“. Die Erzählung Annas leidet an Unvollständigkeit. Das „kleine Gehöft“ verfügte – wie der Gouverneur Swerbejew sofort dem Polizeidepartement meldete – über ein Grundstück von neunzig Hektar und eine Mühle: bloß für einen Sommeraufenthalt war das etwas zuviel. Tatsächlich verfolgte Maria Alexandrowna wirtschaftliche, Ziele: Man mußte doch an Mittel für den Unterhalt der Familie denken. Der Vater Maria Alexandrownas befaßte sich, wenn er auch seiner Ausbildung nach Arzt war, in Kokuschkino mit der Landwirtschaft, und ihre Mutter stammte offenbar von deutschen Kolonisten an der Wolga, die vorbildliche Landwirte waren. Seit jeher oblag Maria Alexandrowna in der Familie die Sorge um den Obst- und Gemüsegarten. Kein Wunder, daß sie auf den Gedanken kam, ein Grundstück zu kaufen und auf diesem dauernd seßhaft zu werden. Die Verwandlung Wladimirs in einen Grundbesitzer und Landwirt hätte noch den zusätzlichen Vorteil gehabt, daß sie ihn vor den politischen Leidenschaften und Gefahren bewahrt hätte.

Anna schickte sich um diese Zeit an, einen Universitätskollegen Alexanders, den ehemaligen Petersburger Studenten Jelisarow, zu heiraten. Ihm oblag es auch, ein Grundstück in seiner Heimat, dem Samarer Gouvernement, zu kaufen. Nicht ohne Hilfe seines Bruders, eines Kulaken, entledigte sich Jelisarow erfolgreich des Auftrages und erwarb durch einen Gelegenheitskauf vom Goldbergwerksbesitzer Sibirjakow ein Anwesen. Eine großzügige russische Natur, ein reicher Aufklärer und linker Liberaler, beabsichtigte Sibirjakow ursprünglich im Samarer Gouvernement vorbildliche Wirtschaften, Musterfarmen und Schulen zu gründen. Aus all diesen Plänen wurde nichts, und der gigantische Besitz mußte stückweise verkauft werden. Für das Grundstück von 90 Hektar, mit einer Mühle und einem Gehöft, fünfzig Kilometer von Samara entfernt, wurden 7.500 Rubel bezahlt. Für jene Zeit nicht wenig Geld: es setzte sich zusammen aus dem Erlös für das Simbirsker Haus und vielleicht auch dem Anteil Maria Alexandrownas am Gut in Kokuschkino. So wurden die Uljanows kleine Gutsbesitzer in der Steppe.

Wenn Jelisarowa die wirtschaftliche Seite der Operation verschweigt, so will sie damit offenbar die Gestalt Wladimirs vor der Berührung mit der Prosa des Alltags bewahren. Tatsächlich aber entfernt sie nur aus der Kette seines Lebens ein sehr interessantes Glied. Glücklicherweise übermittelt uns Krupskaja dazu eine flüchtige, aber äußerst wertvolle Bemerkung von Lenin selbst: „Die Mutter wollte, daß ich mich auf dem Land mit der Wirtschaft beschäftige. Ich habe angefangen, aber ich habe gesehen, es geht nicht: die Beziehungen zu den Muschiks werden abnormal.“ Mehr wissen wir nicht über diese Episode. Nur aus späteren Briefen Wladimirs an die Mutter ist ersichtlich, daß die wirtschaftlichen Beziehungen und Schwierigkeiten von Alakajewka ihm nicht ganz fremd waren. Seien wir Krupskaja doppelt dankbar für die zwei knappen Zeilen: erfahren aus ihnen, daß Wladimir praktisch daranging, die wirtschaftlichen Pläne der Mutter durchzuführen, sich aber aus eigener Erfahrung überzeugen konnte, daß „die Beziehungen zu den Muschiks abnormal wurden“. Diese Episode ist weit wichtiger als das in Vers und Prosa besungene nächtliche Viehhüten mit den Bauernkindern und die Begegnungen des Gymnasiasten mit den Muschiks von Kokuschkino auf seinen Spaziergängen. Den Versuchen Wladimirs in der Landwirtschaft war offenbar nur der erste Sommer gewidmet, da er im Frühling 1890 schon die Erlaubnis zur Ablegung der Prüfungen erhielt und die wirtschaftlichen Pläne natürlich fallengelassen wurden. Aber sie gingen für die Formung der Persönlichkeit Wladimirs nicht spürlos vorüber. Eine – wenn auch nur kurze – Zeit beobachtete er nicht bloß die Bauern, sondern kam mit ihnen auf dem Boden von Arbeitsbeziehungen in Berührung. Und das ist durchaus nicht ein und dasselbe! Eigenes Inventar und ständige Arbeitskräfte gab es auf dem Anwesen nicht, die Bodenbearbeitung konnte nur auf Grund von Abmachungen mit Bauern des benachbarten Alakajewka, eines wahrhaft jämmerlichen und armen Dörfleins, durchgeführt werden. Von vierunddreißig Bauern hatten neun weder Pferde noch Kühe; vier hatten nicht einmal eine eigene Hütte, die Parzellen waren armselig; Schule gab es keine, nur eine Schenke; von der zweihundert Seelen zählenden Bevölkerung hatten nur vier Knaben irgendwo irgendwas gelernt, die übrige Bevölkerung konnte weder lesen noch schreiben. Über diese Armut erhoben sich einige reichlich dürftige Kulakenhöfe, die aber das Dorf in der Hand hatten. Eine Gewinn abwerfende Wirtschaft konnte man auf dem Anwesen nur im Bündnis mit den Kulaken betreiben: durch unbarmherzige Ausbeutung der Armbauern. Wenn Lenin in der Folge bei der Aufdeckung aller möglichen Formen von Abhängigkeit und Knechtung auf dem Gebiet der Agrarbeziehungen einen ganz ungewöhnlichen Scharfblick bewies, so spielte dabei, wie man wohl annehmen muß, seine eigene praktische Berührung mit den Bauern von Alakajewka keine unbedeutende Rolle.

Man mußte auf die eigene Wirtschaft verzichten, der Boden wurde verpachtet, und das Anwesen diente der Familie für vier bis fünf Sommermonate als Sommerhaus. Die Freiheit und Stille der Steppe, ein alter, verwahrloster Garten, der steil zu einem Bach abfiel, ein Teich, in dem man nach Herzenslust baden konnte, nicht weit ein Wald, wo man Himbeeren pflückte – ein prächtiges Sommerhaus! Im Garten hatte jeder seinen eigenen Lieblingswinkel für Lektüre und Studium. Die Familie lebte weniger isoliert als in Kokuschkino, die Angst vor einem Kontakt mit den Uljanows hatte schon ihre ursprüngliche Schärfe verloren; trotzdem waren in der ersten Zeit die Gäste nicht zahlreich. Maria erinnert sich an die Schüchternheit der Brüder und Schwestern, darunter auch Wladimirs, die beim Besuch von wenig bekannten Menschen durchs Fenster in den Garten flüchteten. Die Abneigung gegen unbekannte Menschen sowie die Vorliebe für das Manöver durchs Fenster gehören bekanntlich überhaupt zu den Eigenheiten der Jugend, vor allem auf dem Land, wo die neuen Menschen selten und die Fenster dem Boden nahe sind. Aber vielleicht hatte dieser selbstsichere junge Mann den Flaum der Schüchternheit noch nicht verloren; auf jeden Fall überwog bei dieser Schüchternheit immer mehr das Bestreben, sich nicht an Leute zu verausgaben, die das nicht wert sind.

Im Bezirk von Alakajewka hatten die Narodniki Ende der siebziger Jahre Propaganda zu betreiben versucht, in den achtziger Jahren aber gründeten sie auf Grundstücken, die sie von demselben Sibirjakow erworben hatten, landwirtschaftliche Kommunen: von der Sorge um die Rettung der Bauern durch die Revolution waren sie zur eigenen Rettung durch die Arbeit der Bauern übergegangen. Die Regierung beobachtete dieses Beginnen mit großem Mißtrauen; aber die Kommunen und Genossenschaften vegetierten so friedlich dahin, daß sie in den meisten Fällen der Polizei keinen Anlaß zum Einschreiten gaben. Einige wenige erfolgreiche Unternehmungen verwandelten sich im Lauf der Dinge in kapitalistische Betriebe, die meisten aber zerfielen schon nach den ersten Schritten. So war es auch bei der Alakajewka benachbarten Kommune: ihr Teilnehmer verliefen sich bald nach allen Windrichtungen, mit Ausnahme des hartnäckigen Organisators, Preobrashenskij. Wladimir knüpfte mit ihm eine Bekanntschaft an, und durch ihn mit einigen anderen Vertretern der Volkstümlerbewegung der Provinz. Mit Preobrashenskij hatte er lange Gespräche, oft bis spät in die Nacht, auf dem Weg zwischen dem Anwesen und der Kommune, hin und zurück, Wladimir hörte und schaute zu. Nein, diese friedlich gewordenen Leute, die schlecht den Boden umgruben, sei es im Namen des Kommunismus, sei es im Namen der Rettung der Seele, konnten ihn nicht auf ihre Seite bringen.

Alakajewka wurde selbstverständlich von den Polizeibehörden nicht aus dem Auge gelassen. Der Chef der Samarer Gendarmerieverwaltung meldete dem Polizeidepartement die Ankunft der Familie Uljanow, darunter der unter offener Polizeiaufsicht stehenden Anna und des unter nicht offener Polizeiaufsicht stehenden Wladimir sowie des ehemaligen Studenten Jelisarow, „von zweifelhafter politischer Vertrauenswürdigkeit“. Das Ministerium für Volksbildung erhielt in allen Fällen, wo es nötig war, vom Kurator des Lehrbezirkes, Maslennikow, ausführliche Meldungen über die Familie Uljanow. In die Beobachtungen einbezogen wurde auch der Gymnasiast Dmitrij, über den dem Kurator monatliche Rapporte geschickt wurden. Die Sache wurde noch dadurch kompliziert, daß Uljanows auf einer der ehemaligen Farmen Sibirjakows lebten, dieses Freundes der politischen Verbannten und Schutzherrn der landwirtschaftlichen Kommunen. „Die Umstände wurden dadurch kompliziert“, berichtete Maslennikow nach Pctersburg, „daß die Frage der Samarer Farmen und die Frage der Familie Uljanow in engen Zusammenhang gerieten.“ Mit einem Wort, es fehlte nicht an Beobachtern, und die Beobachtung blieb – um mit dem Kurator zu sprechen – „für die zu Beobachtenden nicht unbemerkt“. Die Ergebnisse waren jedoch bescheiden: „Irgend etwas Ungebührliches“, schrieb melancholisch die Samarer Gendarmerie, „wurde nicht bemerkt.“ Es war auch schwer zu bemerken, da sich die ungebührlichen Prozesse vorläufig nur in den verborgensten Gehirnwindungen entwickelten. Aber dafür waren das sehr gefährliche Prozesse!

Die Übersiedlung nach Alakajewka machte Wladimir nicht zum Landwirt, aber sie bewahrte ihn vor der vorzeitigen Verhaftung, gemeinsam mit seinen Kasaner Freunden, als im Juli 1889 nicht nur der zentrale Zirkel Fedossejews aufflog, sondern auch die Mitglieder jenes Nebenzirkels, dem Wladimir angehört hatte. Er selbst schrieb einige Jahre später: „Ich denke, ich hätte leicht auch verhaftet werden können, wenn ich diesen Sommer in Kasan geblieben wäre.“ In dieser Hinsicht wenigstens wurden die Überlegungen der Mutter bestätigt. Die Nachricht von den Kasaner Verhaftungen beeindruckten Wladimir tief. Sie mußten ihn in dem Gedanken bestätigen: man darf nicht sinnlos, wegen Kleinigkeiten, in die Hände des Feindes fallen; man mußte richtig arbeiten, um dem Feind möglichst großen Schaden zuzufügen; und dazu ist es notwendig, sich vorzubereiten.

Im Garten, im Schatten von Linden, hatte Wladimir seinen ständigen, durch das Grün vor der Sonne geschützten Winkel, mit Tisch und Bank, deren Beine in den Boden gerammt waren: hier verbrachte er die Stunden der Arbeit. „Fünf Jahre lang, von 1889 bis 1893“, schreibt Dmitrij Uljanow, „war das das eigentliche Arbeitszimmer“ Wladimirs. In der Nähe war auf zwei Pfosten eine Querstange befestigt, ein sogenanntes Reck; dort machte er seine gymnastischen Übungen. Mit Verwunderung beobachtete der jüngere Bruder, wieviel Energie und Eifer Wladimir darauf verwendete, sich nicht mit der Brust, sondern mit dem Rücken zum Reck hochzustemmen. Lange gelang es ihm nicht. Endlich rief er Mitja als Zuschauer bei seinem Triumph: „Ich habe es endlich ausbalanciert, schau!“ Und über das ganze Gesicht strahlend, saß er schon auf dem Reck. Schwierigkeiten überwinden, die eigenen Bemühungen disziplinieren, sich hochstemmen und aufs Reck setzen – „ausbalancieren“, es gibt nichts Schöneres als das! Mitja die neue gymnastische Fertigkeit zu zeigen ist ihm ebenso Bedürfnis, wie Anna die Geheimnisse des Mehrwertes auseinanderzusetzen.

Wladimir schwamm viel und geschickt im Teich von Alakajewka, ging auf die Jagd, besonders wenn sie mit einem schönen Ausflug verbunden war – zum Beispiel in die benachbarten Wälder auf Auerhähne –, aber er konnte es nicht leiden, unbeweglich mit der Angel zu sitzen. Der Sport stand damals bei der demokratischen Intelligenz durchaus nicht in Gunst. Aber Wladimir war beherrscht vom unermüdlichen Bemühen, die geistigen und körperlichen Kräfte in aktivem Gleichgewicht zu halten. Bei den Übungen auf dem Reck, beim Schwimmen, bei den Ausflügen, beim Singen – überall erwies er sich als unermüdlicher und gleichzeitig disziplinierter Draufgänger. So wie in früher Kindheit, faßte er das Leben vor allem als Bewegung auf, mit dem Unterschied, daß jetzt an erster Stelle die geistige Bewegung stand.

Wladimir half seiner jüngeren Schwester Maria beim Lernen, lehrte sie, ein Heft mit weißem Fäden zusammenzunähen – und nicht mit schwarzem, zeigte ihr, wie man ein Netz für eine geographische Karte zeichnet, wobei er auch diese kleinen Dinge mit jener Gewissenhaftigkeit tat, die ihn bei jeder Arbeit auszeichnete und die Maria ihr ganzes Leben lang in Erinnerung blieb. Nach dem Mittagessen befaßte sich Wladimir mit leichterer Lektüre, gelegentlich mit Belletristik; nicht selten gesellte sich Olga zu ihm, die sich anschickte, die Kurse in Petersburg zu besuchen, und sie lasen gemeinsam Gleb Uspenskij, einen Künstler der Volkstümlerbewegung.

Ein gedeckter Vorbau ersetzte eine Terrasse: hier trank man abends Tee und las, um nicht durch das Licht die Mücken ins Zimmer zu locken; hier nahm man auch mit fast biblischer Einfachheit das Abendessen ein: aus dem Keller wurde ein großer Krug Milch gebracht, und die Kinder aßen dazu graues Weizenbrot. An den Abenden wurde des öfteren gesungen und musiziert. Man sang im Chor, oder es sang, begleitet von Olga, Jelisarow, der Mann der älteren Schwester, allein. Auch Wladimir trat nicht selten als Solist auf. An bevorzugter Stelle stand in seinem Repertoire die Romanze „Du hast bezaubernde Augen“, und wenn es zur pathetischen Strophe kam: „sie richten mich ganz zugrunde“, überschlug sich die Stimme des Sängers jedesmal bei einer hohen Note; Wladimir fuchtelte verzweifelt mit der Hand und rief unter Gelächter: „zugrunde, zugrunde... “

Sofort nach der Übersiedlung nach Alakajewka hatte Wladimir neuerlich um die Erlaubnis angesucht, ins Ausland zu reisen, angeblich „zur Kur“, in Wirklichkeit, um eine der ausländischen Universitäten zu besuchen. Das Polizeidepartement fand jedoch, man könne auch in den Kaukasus zur Kur fahren, und gab ihm keinen Auslandspaß. Die Absage war natürlich betrüblich, aber das Unglück war trotzdem nicht allzu groß. Jene zweieinhalb Jahre, die Fedossejew in der Einzelhaft zubrachte, blieb Wladimir unter den Fittichen der Mutter, unter Bedingungen, die für die physische wie für die geistige Gesundheit gleich günstig waren. Das Schicksal nahm diesen jungen Mann ganz offenbar unter seinen Schutz, als ob es ihn im vorhinein für besondere Zwecke bestimmt hätte. Und der junge Mann verstand es, die Gunst des Schicksals zu nutzen. Sie hatten sichtlich einen geheimen Vertrag auf Gegenseitigkeit geschlossen.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008