Leo Trotzki

 

Der junge Lenin


Das Hungerjahr – Die Advokatur

Der Sommer 1891 war heiß und trocken, die Sonne verbrannte in dreizehn Gouvernements mit dreißig Millionen Einwohnern die Saaten und die Wiesen. Als Wladimir von den Herbstprüfungen zurückkam, wand sich das Samarer Gouvernement, das mehr als die anderen gelitten hatte, in Hungerqualen. Gewiß, die ganze Geschichte des bäuerlichen Rußland ist eine Geschichte von periodischen Mißernten und Massenepidemien. Aber der Hunger des Jahres 1891 bis i892 übertraf bei weitem alles Gewohnte, und zwar nicht nur in seinen Ausmaßen, sondern auch durch seinen Einfluß auf die politische Entwicklung der Gesellschaft. Später erinnerten sich die Reaktionäre rückblickend gerührt, wie unerschütterlich die Grundfesten der Ordnung unter Alexander III. waren, dessen schwere Hand Hufeisen zerbrach, und schrieben die Schuld an den folgenden Erschütterungen dem schwachen Nikolaj II. zu. Tatsächlich leiteten die letzten drei Regierungsjahre des „unvergeßlichen Vaters“ schon die neue Epoche ein, die unmittelbar die Revolution des Jahres 1905 vorbereitete.

Die Gefahr schlich von dort heran, wo die Quellen der Kraft waren: vom Dorf. Die Lage der großen Masse der Bauern hatte sich in den dreißig Jahren seit der Aufhebung der Leibeigenschaft sehr verschlechtert. Im bodenreichen Samarer Gouvernement hatten mehr als vierzig Prozent der Bauern Hungerparzellen. Der erschöpfte und schlecht bearbeitete Boden stand der Einwirkung aller feindlichen Elemente offen. Die forcierte Entwicklung der Industrie bei Wiederherstellung eines halbfeudalen Regimes im Dorf führte, im Zusammenwirken mit der raschen Zunahme der Kulaken, zu einer erschreckenden Verarmung der Bauernmassen. Es wurden Fabriken und Eisenbahnen gebaut, das Budgetgleichgewicht wurde hergestellt, in den Kellern der Staatsbank häufte sich der Goldschatz, nach außen hin schien die Macht unerschütterlich. Bis plötzlich, unmittelbar nach diesen Erfolgen, der Muschik elend zusammenbrach und aufheulte mit der Stimme der Hungeragonie.

Die darauf in keiner Weise vorbereitete Regierung versuchte zuerst, den Hunger zu leugnen, und sprach von einer Mißernte; dann verlor sie den Kopf und ließ zum erstenmal seit 1881 die Zügel etwas locker. Die düstere Aureole der Unerschütterlichkeit, die das Regime Alexanders III. umgeben hatte, begann sich aufzulösen. Das Elend rüttelte das eingeschlafene gesellschaftliche Bewußtsein wach. Ein frischer Wind begann im Lande zu wehen. Ein gewisser Teil der besitzenden Klassen und breite Kreise der Intelligenz gerieten in Bewegung: Man muß dem Dorf zu Hilfe kommen, den Hungernden Brot, den Typhuskranken Medikamente geben. Die Semstwos und die liberale Presse schlugen Alarm. Überall wurden Spenden gesammelt. Lew Tolstoj eröffnete Ausspeisungen. Hunderte Intellektuelle gingen wieder ins Volk, diesmal mit bescheideneren Zielen als in den siebziger Jahren. Die Behörden waren jedoch nicht ohne Grund der Meinung, daß sich hinter der philanthropischen Bewegung eine unliebsame Tendenz verberge: die friedliche Form der Hilfe war für jene oppositionellen Stimmungen, die sich in den Jahren der neuen Zarenherrschaft aufgestaut hatten, der Weg des geringsten Widerstandes.

Die Revolutionäre konnten nicht diesen Weg beschreiten. Für sie bestand die Aufgabe nicht darin, nur die Folgen des sozialen Elends zu lindern, sondern seine Ursachen zu beseitigen. Vor zehn, fünfzehn Jahren hatte die Volkstümlerintelligenz ebenfalls den Kern der Sache gesehen, im Gegensatz zu den Liberalen und Philanthropen. Aber der revolutionäre Geist hatte die Narodniki verlassen; aus ihrer lang dauernden Lethargie erwachend, waren sie jetzt froh, zum gemeinsamen „Dienst am Volk“ mit den Liberalen zu verschmelzen. Noch bevor unter dem Einfluß der Katastrophe in den Reihen der Intelligenz ein heißer Streit über die Perspektiven der weiteren Entwicklung des Landes entbrannte, standen die wenig zahlreichen Marxisten in der brennenden Frage „Was jetzt tun?“ breiten Kreisen der gebildeten „Gesellschaft“ gegenüber. Dreißig und etliche Jahre später erzählte der uns schon bekannte Wodowosow in der Emigrantenpresse: „Die größte und tiefgehendste Meinungsverschiedenheit hatten wir mit Wladimir Uljanow in der Frage des Verhaltens zum Hunger in den Jahren 1891 bis 1892.“ Während die Samarer Gesellschaft einmütig auf den Aufruf zur Hilfe reagierte, „nahmen nur Wladimir Uljanow mit seiner Familie und sein Kreis, der ihm sekundierte, eine andere Stellung ein“. Uljanow freute sich, wie wir erfahren, über den Hunger als progressiven Faktor: „Indem er die Bauernwirtschaft zerstört ... schafft der Hunger ein Proletariat und fördert die Industrialisierung des Landesteiles.“ Die Erinnerungen Wodowosows geben in diesem Teil nicht so sehr die Anschauungen Uljanows, als vielmehr ihre verzerrte Widerspiegelung im Bewußtsein der Liberalen und der Narodniki wieder. Der Gedanke, daß die Ruinierung und das Aussterben der Bauern geeignet sind, die Industrialisierung des Landes zu fördern, ist an und für sich schon reichlich unsinnig. Die Ruinierten wurden zur Paupers und nicht zu Proletariern; der Hunger förderte parasitäre und nicht fortschrittliche Tendenzen der Wirtschaft. Aber gerade durch ihre tendenziöse Einstellung spiegelt die Erzählung Wodowosows die hitzige Atmosphäre der alten Streitigkeiten nicht übel wider.

Die damals übliche Beschuldigung der Marxisten, sie betrachteten die Nöte des Volkes durch die Brille der Doktrin, ist nur bezeichnend für das niedrige theoretische Niveau der Debatten. In Wirklichkeit nahmen alle Kräfte und Gruppierungen politische Positionen ein: die Regierung, die im Interesse ihres Prestiges den Hunger leugnete oder verniedlichte; die Liberalen, die den Hunger aufdeckten und sich gleichzeitig bemühten, durch ihre „positive Arbeit“ zu beweisen, daß sie für den Zaren die besten Mitarbeiter wären, wenn er ihnen nur einen Zipfel Macht gäbe; die Narodniki, die sich auf die Ausspeisungen und Typhusbaracken stürzten und hofften, so einen friedlichen und legalen Weg zur Eroberung der Sympathien des Volkes zu finden. Die Marxisten wandten sich natürlich nicht gegen die Hilfe für die Hungernden, sondern gegen die Illusion, man könne mit dem Löffel der Philanthropie das Meer der Not ausschöpfen. Wenn der Revolutionär in den legalen Komitees und bei den Ausspeisungen den Platz einnimmt, der zu Recht dem Vertreter der Semstwo oder dem Beamten zukommt, wer nimmt dann den Platz des Revolutionärs in der Illegalität ein? Aus den später veröffentlichten ministeriellen Zirkulaten und Anweisungen geht hervor, daß die Regierung die Zuweisungen für die Hungernden nur aus Angst vor einem revolutionären Erwachen erhöhte: so daß auch vom Standpunkt der unmittelbaren Hilfe die revolutionäre Politik sich als weit wirksamer erwies als die neutrale Philanthropie.

In der Emigration lehrte damals nicht nur der Marxist Axelrod, daß „für den Sozialisten ... ein wirksamer Kampf gegen den Hunger nur auf dem Boden des Kampfes gegen die Selbstherrschaft möglich ist“, sondern auch der alte Moralist der Revolution Lawrow verkündete in der Presse: „Ja, die einzige „gute Sache“, die für uns möglich ist, ist nicht die Sache der Philanthrophie, sondern die Revolution.“ Aber im Zentrum eines hungernden Gouvernements, in der Atmosphäre der allgemeinen Begeisterung für die Ausspeisungen, war es wesentlich schwerer, revolutionäre Unversöhnlichkeit zu beweisen, als in der Emigration, die in diesen Jahren von Rußland isoliert war. Uljanow mußte zum erstenmal, und zudem absolut selbständig, in einer brennenden politischen Frage Stellung beziehen. Dem örtlichen Hilfskomitee trat er nicht bei. Mehr noch: „In Versammlungen und Zusammenkünften ... führte er einen systematischen und entschiedenen Kampf gegen das Komitee.“ Man muß hinzufügen: nicht gegen seine praktische Tätigkeit, sondern gegen seine Illusionen. Wodowosow trat als Opponent auf. Hinter Uljanow stand „eine verschwindende Minderheit, aber diese Minderheit vertrat entschieden ihre Positionen“. Wodowosow konnte keinen einzigen von ihnen für sich gewinnen; dagegen kam es vor, daß es Uljanow gelang, Gegner auf seine Seite zu ziehen: „Nicht sehr oft, aber doch.“

Die Scharmützel mit den Volkstümlern mußten gerade in dieser Periode den Charakter eines Kampfes von zwei differenten Richtungen annehmen. Nicht zufällig taucht die Gestalt Wodowosows in der Erinnerung Jelisarowas auf, wenn sie, ohne Angabe von Daten, über die Samarer Dispute spricht: „Sie begannen Ende 1891.“ Die Hungerkatastrophe wurde somit zu einem wichtigen Meilenstein in der politischen Entwicklung Wladimirs. Um diese Zeit hatte er zweifellos schon die Arbeiten Plechanows kennengelernt: Ende dieses Jahres oder Anfang des nächsten äußerte er sich, wie Wodowosow bezeugt, mit großer Hochachtung über Unsere Meinungsverschiedenheiten. Wenn es bei ihm noch irgendwelche Zweifel über die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands und den revolutionären Weg gegeben haben sollte, dann mußten sie durch die Katastrophe zerstreut werden. Mit anderen Worten: aus dem theoretischen Marxisten Wladimir Uljanow wurde endgültig ein revolutionärer Sozialdemokrat.

Nach Wodowosow vertrat die ganze Familie hinsichtlich der Hilfe für die Hungernden den Standpunkt Wladimirs. Indessen erfahren wir von der jüngeren Schwester, daß Anna im Jahre 1892, als der Hunger von der Cholera gefolgt war, „nicht wenig Mühe aufwandte, um den Kranken mit Medikamenten und Anweisungen zu helfen“. Und Wladimir stand ihr dabei natürlich nicht im Weg. Auch die Erzählung Jassnewas deckt sich nicht ganz mit der Erzählung Wodowosows. „Von allen nach Samara Verbannten“, schreibt sie, „nahmen nur Wladimir Iljitsch und ich an den Arbeiten für diese Ausspeisungen nicht teil.“ Es erweist sich, daß damals Wladimir noch keinerlei Kreis von Gleichgesinnten hatte. Das ist nicht schwer zu glauben. Die sozialdemokratische Propaganda hatte für ihn noch nicht begonnen. Man konnte sie nur aufnehmen, wenn man sich abgrenzte gegenüber den Vertretern des alten Glaubens und den schwankenden Elementen. „Unsere anfangs friedlichen Auseinandersetzungen“, sagt Wodowosow, „nahmen nach und nach sehr scharfe Formen an.“

Die politische Überprüfung der Meinungsverschiedenheiten ließ nicht auf sich warten. Den Liberalen war es doch nicht gelungen, sich das Vertrauen der Regierung zu erschleichen: Im Gegenteil, diese beschuldigte bald, und nicht ganz ohne Grund, den Samarer Semstwo, daß er für die Hungernden minderwertiges Getreide aufgekauft habe. Die Narodniki kamen dem Volk nicht näher. Die Bauern vertrauten den Städtern nicht. Von den Gebildeten hatten sie bisher nichts als Schlechtes gesehen. Wenn sie den Hungernden zu essen gaben, so hat es der Zar befohlen, und wahrscheinlich stehlen die Herren. Als eine Choleraepidemie dem Hunger auf den Fersen folgte und die Kranken massenweise in den Baracken starben, wo sie von den Ärzten und Studenten aufopfernd gepflegt wurden, kamen die Bauern zu dem Schluß, daß die Herren das Volk vergiften, um mehr Boden für sich frei zu bekommen. Es kam zu einer ganzen Reihe von Choleraaufständen, bei denen Ärzte, Studenten und Heilgehilfinnen umgebracht wurden. Da „beschützten“ die Behörden die Intelligenz mit bewaffneter Hand. Das Hungerjahr zog so auch die Bilanz der Kulturarbeit im Dorf. Im Simbirsker Gouvernement, in dem Ilja Nikolajewitsch Uljanow sechzehn Jahre lang unermüdlich Bildungsarbeit geleistet hatte, gab es besonders ausgedehnte Choleraaufstände. In vielen Dörfern wurde danach jeder Zehnte der Prügelstrafe unterzogen, und es gab welche, die unter den Rutenhieben starben. Der russische Bauer begann erst dann mit mehr Vertrauen die Sozialisten anzuhören, als aus der Stadt sein Bruder, der Arbeiter, zu ihm kam, der im Dorf eine Parzelle besaß und ihm erklärte, auf wessen Seite die Wahrheit ist. Aber dazu mußte erst der städtische Arbeiter für den Sozialismus gewonnen werden.

Im Jahr des Hungers und der Cholera begünstigte noch ein prinzipieller Konflikt die Scheidung der politischen Gruppierungen. Wodowosow schlug vor, einem wegen „Liberalismus“ entlassenen Gouverneur eines der Wolgagouvernements, einem gewissen Kossitsch, eine Sympathieadresse zu schicken. Wladimir wandte sich energisch gegen die Kleinbürgersentimentalität, die jederzeit bereit war, über jeden Schimmer von „Menschlichkeit“ bei einem Vertreter der herrschenden Klassen Tränen zu vergießen. Diese Episode zeigt übrigens wieder einmal, wie unsinnig die Versuche sind, vom Direktor der Volksschulen Ilja Nikolajewitsch Uljanow, der zum Unterschied von Kossitsch selbst wegen Liberalismus niemals entlassen wurde, eine Linie der politischen Erbfolge zu seinem durch und durch unversöhnlichen Sohn zu ziehen, den auch der allerhumanste Gouverneur nicht rühren konnte. Wodowosow erlitt offenbar eine Niederlage, und die Adresse wurde nicht abgeschickt.

Wodowosow begann, wie er selbst erzählt, seinen jungen Antagonisten Marat zu nennen – natürlich hinter seinem Rücken. Der Spitzname ist recht treffend, wenn er nur nicht im nachhinein erfunden wurde. Die gestrigen Freunde und heutigen Gegner betrachteten Wladimir, wie die ältere Schwester berichte, „als fähigen, aber allzu selbstbewußten jungen Mann“. Gestern noch nur „der Bruder Alexander Uljanows“, wurde er heute er selbst und zeigte die Krallen. Wladimir verschmähte es nicht nur, seine Position dem politischen Denken der Gegner anzupassen, sondern verlieh ihr im Gegenteil einen möglichst extremen, unversöhnlichen, schneidenden, beißenden Charakter. Das machte ihm doppeltes Vergnügen: Vergnügen an seiner inneren Selbstsicherheit und am Ausdruck des Ärgers im Gesicht des Opponenten. „Die feste Überzeugung, daß er recht habe, zog sich nach der Aussage Wodowosows durch all seine Reden.“ Und das machte ihn doppelt unerträglich. „Dieses ganze solidere Publikum war“, nach Jelisarowa, „nicht wenig schockiert von der großen Anmaßung, die dieser junge Mann im Streit zeigte, kapitulierte aber häufig vor ihm.“ Besonders unverzeihlich fand man den herabsetzenden Ton, in dem er sich über die höchsten Autoritäten der Volkstümlerbewegung zu äußern begann. Aber das war nur der Anfang; das dicke Ende wird erst nachkommen.

„Auf wessen Seite der Sieg war“, resümiert Wodowosow bescheiden seine Auseinandersetzungen mit Uljanow, „ist schwer zu sagen.“ Tatsächlich mußte man nicht erst auf die Oktoberrevolution warten, um dieses Rätsel zu lösen. Als sich die Hungersnot nach sieben Jahren wiederholte, gab es schon unvergleichlich weniger Illusionen, und die Intelligenz, die einen anderen Weg gefunden hatte, ging nicht ins Dorf. Die sehr gemäßigte liberale Zeitschrift Russkaja Mysl schrieb damals, daß alle, die aus den Hungergebieten zurückkamen, mit der eigenen Arbeit höchst unzufrieden waren, weil sie in ihr nur ein „armseliges Palliativ“ sahen, während „allgemeine Maßnahmen“ notwendig seien. Es bedurfte nur ein wenig politischer Erfahrung, und selbst die friedlichen Konstitutionalisten waren genötigt, Bruchstücke jener Gedanken, die vor einigen Jahren wie eine Blasphemie geklungen hatten, in eine liberale Sprache zu übersetzen.

Aber Wladimir mußte an sein eigenes Schicksal denken, an den sogenannten morgigen Tag. Das Diplom war errungen. Es mußte ausgenützt werden. Wladimir entschloß sich, den Beruf eines Rechtsanwalts zu ergreifen: „Denn außer der Pension der Mutter und den beinahe aufgebrauchten Einkünften aus dem Gut in Alakajewka hatte Wladimir Iljitsch“, wie Jelisarowa in ihren Erinnerungen schreibt, „keinerlei Mittel.“

Als Chef wählte er sich denselben Advokaten, mit dem er, als er noch in Kasan lebte, briefliche Schachkämpfe geführt hatte. Chardin war eine außergewöhnliche Erscheinung – nicht nur als Advokat und Schachstratege, über den sich der damalige russische Schachkönig Tschigorin mit Hochachtung äußerte, sondern auch als Provinzpolitiker. Nachdem er mit 28 Jahren Vorsitzender der landständischen Gerichtsverwaltung des Gouvernements geworden war, wurde er bald als unzuverlässiges Element „auf allerhöchsten Befehl“ binnen vierundzwanzig Stunden abgesetzt. Nur wenige wurden einer solchen Ehre würdig befunden: Samoilow, dem wir eine so eindrucksvolle Schilderung seiner ersten Bekanntschaft mit Wladimir verdanken, erzählt, daß Chardin auch in reifen Jahren noch mit den Radikalen sympathisierte und es verstand, sich der marxistischen Ideologie nicht feindselig fernzuhalten. Wladimir schätzte, wie Jelisarowa berichtet, Chardin als sehr gescheiten Menschen. Als Schachspieler hatte er ihn schon in Kasan als „verfluchte Stärke“ bezeichnet, und er wurde ein ständiger Teilnehmer an den wöchentlichen Turnieren im Hause seines Chefs.

Die Eintragung als Rechtsanwaltsanwärter verlief übrigens nicht reibungslos. Das Samarer Kreisgericht brauchte ein politisches Leumundszeugnis Uljanows; die Petersburger Universität, die das Diplom ausgestellt hatte, konnte das benötigte Zeugnis nicht ausstellen, da sie Uljanow als Studenten nicht kannte. Letzten Endes wandte sich das Gericht auf Wladimirs eigenes Drängen an das Polizeidepartement, das großmütig mitteilte, daß es „keine Einwände“ habe. Nachdem sich die Sache fünf Monate hingezogen hatte, erhielt Wladimir endlich im Juli 1892 die Bescheinigung über seine Vertretungsbefugnis vor Gericht.

Als Verteidiger trat er alles in allem in zehn Strafprozessen auf, in sieben Fällen als Ex-officio-Verteidiger, in drei Fällen als gewählter Verteidiger. Alles kleine Fälle kleiner Leute, aussichtslose Fälle, und alle Prozesse verlor er. Zu verteidigen hatte er Bauern, Landarbeiter, mittellose Kleinbürger, vor allem wegen kleiner Diebstähle in äußerster Not. Angeklagt waren: Einige kleine Bäuerlein, die gemeinsam bei einem reichen Dorfgenossen dreihundert Rubel gestohlen hatten; einige Landarbeiter, die versucht hatten, Getreide aus einem Speicher fortzuschleppen, aber am Tatort überrascht wurden; ein vollständig ruinierter Bauer, der vier kleine Diebstähle verübt hatte; noch ein Angeklagter derselben Art, und noch einige Landarbeiter, die bei einem Einbruchsdiebstahl Sachen im Wert von hundertsechzig Rubel gestohlen hatten. Alle diese Verbrechen waren so unkompliziert, daß das Verfahren in jedem Fall anderthalb bis zwei Stunden dauerte und der Schriftführer sich nicht bemüßigt sah, ein Protokoll zu verfassen, sondern sich mit der stereotypen Notiz begnügte: nach der Anklagerede des stellvertretenden Staatsanwaltes sprach der Verteidiger Uljanow. Nur zwei dreizehnjährige Knaben, die sich an den Diebstählen der Erwachsenen beteiligt hatten, wurden freigesprochen, mit Rücksicht auf ihr Alter und nicht auf Grund der Argumente der Verteidigung; alle anderen Angeklagten wurden schuldig befunden und verurteilt. Außerdem hatte Uljanow noch den Fall des Samarer Kleinbürgers Gussew, der seine Frau ausgepeitscht hatte. Nach einem kurzen Beweisverfahren vor Gericht, bei dem die Geschädigte aussagte, lehnte es der Verteidiger Uljanow ab, um ein mildes Urteil für den Angeklagten zu bitten. In diesem Fall, wie in allen derartigen Fällen, fühlte er sich sein ganzes Leben lang als unerbittlicher Ankläger.

In drei ebenfalls ganz alltäglichen Strafsachen schritt Uljanow als gewählter Verteidiger ein. Eine Gruppe von Bauern und Kleinbürgern hatte sich am Diebstahl von Schienen und einem gußeisernen Rad bei einer Samarer Kaufmannsfrau beteiligt. Alle wurden schuldig gesprochen. Ein junger Bauer war angeklagt wegen Widersetzlichkeit gegen seinen Vater und Beleidigung desselben. Der Prozeß wurde auf Ersuchen der Verteidigung vertagt, und es kam nicht zur Verhandlung: der Sohn verpflichtete sich dem Vater gegenüber schriftlich zu unbedingtem Gehorsam, und damit versöhnten sich die beiden. Zum letztenmal trat Uljanow schließlich als Verteidiger eines Stationsvorstandes auf, der angeklagt war, fahrlässigerweise den Zusammenstoß leerer Güterwaggons verschuldet zu haben. Die Verteidigung hatte auch hier keinen Erfolg, der Angeklagte wurde schuldig gesprochen. Das waren die Gerichtsprozesse des Rechtsanwaltsanwärters Uljanow. Graue und hoffnungslose Fälle, grau und hoffnungslos wie das Leben jener Klassen, denen die Angeklagten angehörten. Der junge Verteidiger – kann man daran zweifeln? – sah sich die Fälle und jeden Angeklagten genau an. Aber en détail war ihnen nicht zu helfen. Sie brauchten Hilfe en gros. Aber dazu bedurfte es einer anderen Tribüne, nicht der Tribüne des Samarer Kreisgerichtes.

Einen einzigen Prozeß gewann Uljanow; aber – wahrlich ein Fingerzeig des Schicksals! – er trat in diesem Fall nicht als Verteidiger auf, sondern als Ankläger. Im Sommer 1892 wollte Wladimir gemeinsam mit Jelisarow von Sysran auf das linke Wolgaufer zum Dorf Bestushowka, wo der Bruder Jelisarows eine Wirtschaft hatte. Der Kaufmann Arefjew, der die Fähre über die Wolga gepachtet hatte, betrachtete den Strom als sein Lehensgut: jedesmal wenn ein Bootsbesitzer Passagiere aufnahm, erjagte ihn Arefjews Dampferchen und holte gewaltsam alle zurück. So geschah es auch dieses Mal. Die Drohungen, ihn wegen Eigenmächtigkeit gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen, waren erfolglos. Man mußte der Gewalt weichen. Wladimir notierte die Vor- und Familiennamen der Beteiligten und der Zeugen. Der Fall kam beim Landeshauptmann von Sysran, etwa hundert Kilometer westlich von Samara, zur Austragung. Auf Antrag Arefjews vertagte der Landeshauptmann die Verhandlung. Dasselbe wiederholte sich beim nächstenmal. Der Kaufmann hatte offenbar beschlossen, den Kläger hinzuhalten. Der dritte Termin fiel schon in den Winter. Wladimir standen eine schlaflose Nacht im Eisenbahnwaggon und erschöpfendes Warten auf den Bahnhöfen und in der Kanzlei des Landeshauptmanns bevor. Maria Alexandrowna redete dem Sohn zu, nicht zu fahren. Aber Wladimir war unerbittlich: die Sache ist eingeleitet, sie muß auch zu Ende geführt werden. Ein drittes Mal konnte sich der Landeshauptmann nicht drücken: auf Betreiben des jungen Juristen war er genötigt, den angesehenen Kaufmann zu einem Monat Gefängnis zu verurteilen. Man kann sich leicht vorstellen, wie der Sieger triumphierte, als er nach Samara zurückkehrte!

Zu Erfahrung in der Advokatur kam es nicht – ebensowenig wie früher in der Landwirtschaft. Durchaus nicht deshalb, weil Wladimir die für diese Berufe notwendigen Eigenschaften fehlten. Er besaß Ausdauer, einen praktischen Blick, Aufmerksamkeit für Kleinigkeiten, die Fähigkeit, Menschen zu beurteilen und sie auf den richtigen Platz zu stellen, schließlich Liebe zur Natur – aus ihm wäre ein erstklassiger Landwirt geworden. Seine Fähigkeit, sich unter wirren Verhältnissen zurechtzufinden, die entscheidenden Fäden zu finden, die starken und die schwachen Seiten des Gegners abzuschätzen, zur Verteidigung seiner These die besten Argumente ins Treffen zu führen, hatte er schon in jungen Jahren bewiesen. Chardin zweifelte nicht daran, daß sein Konzipient ein „hervorragender Zivilrechtler“ werden konnte. Aber gerade im Laufe des Jahres 1892, als Wladimir die Advokatenlaufbahn begann, wurden seine theoretischen und revolutionären Interessen, angeheizt durch die Hungerkatastrophe und die politische Belebung im Land, von Tag zu Tag intensiver und anspruchsvoller.

Gewiß, die Vorbereitung für die kleinen Prozesse störte den jungen Advokaten, bei aller Gewissenhaftigkeit, nicht beim Studium des Marxismus. Aber schließlich konnte seine Rechtsanwaltskarriere nicht auch in Zukunft beschränkt bleiben auf Fälle von Diebstahl eines gußeisernen Rades durch eine verbrecherische Genossenschaft von drei Kleinbürgern und zwei Bauern. Im Buch des Schicksals stand geschrieben, daß Wladimir Uljanow nicht zwei Göttern gleichzeitig dienen konnte. Man mußte wählen. Und die Wahl fiel ihm nicht schwer. Die kurze Serie seiner Plädoyers vor Gericht, die im März kaum erst begonnen hatte, brach im Dezember ab. Gewiß, er holt sich auch für das Jahr 1893 beim Gericht die Bestätigung, daß er zur Ausübung des Anwaltsberufes berechtigt ist; aber dieses Dokument braucht er schon nur mehr als legale Tarnung einer Tätigkeit, die gegen die Grundgesetze des russischen Imperiums gerichtet ist.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008