Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


In Mexiko


Am 9. Januar, an einem heißen tropischen Morgen, lief unser Tankschiff in den Hafen von Tampico ein. Wir wussten noch immer nicht, was unser harrt. Unsere Pässe und unsere Revolver befanden sich noch immer in den Händen des Polizei-Faschisten, der auch in den territorialen Gewässern Mexikos das von der „sozialistischen“ Regierung errichtete Regime aufrechterhielt. Ich habe den Polizeibeamten und den Kapitän benachrichtigt, dass ich und meine Frau nur in dem Falle freiwillig ans Land gehen werden, wenn uns Freunde abholen. Wir hatten nicht die geringste Veranlassung, den norwegischen Vasallen der GPU unter den Tropen mehr Vertrauen entgegenzubringen als auf dem Breitengrad von Oslo. Aber alles verlief gut. Bald nachdem wir angelegt hatten, kam ein Regierungskutter an das Tankschiff heran mit Vertretern der Orts- und Zentralbehörde, mit mexikanischen und ausländischen Journalisten und, das Wichtigste, mit treuen und zuverlässigen Freunden. Da waren Frieda Rivera [1], die Frau des, berühmten Malers, den Krankheit in der Klinik festhielt; Max Shachtman, ein marxistischer Journalist und uns nahestehender Gesinnungsgenosse, der uns schon in der Türkei, in Frankreich und in Norwegen besucht hatte; schließlich George Novack, der Sekretär des New Yorker „Komitees zur Verteidigung Trotzkis“. Nach vier Monaten Haft und Isolierung war die Begegnung mit Freunden besonders warm! Der norwegische Polizeibeamte, der uns endlich unsere Pässe und Revolver aushändigte, beobachtete verlegen das zuvorkommende Benehmen des mexikanischen Polizeigenerals uns gegenüber. Nicht ohne Erregung betraten wir den Boden der Neuen Welt. Trotzdem es Januar war, atmete dieser Boden Wärme. Die Petroleumtürme Tampicos erinnerten an Baku. Im Hotel mussten wir bald fühlen, dass wir kein Spanisch verstehen. Um 10 Uhr abends reisten wir in einem uns vom Verkehrsminister, General Mujica, zur Verfügung gestellten Sonderwagen aus Tampico in die Hauptstadt ab. Der Kontrast zwischen dem nördlichen Norwegen und dem tropischen Mexiko war nicht allein am Klima zu merken. Entkommen der Atmosphäre abscheulicher Willkür und ermattender Ungewissheit, begegneten wir bei jedem Schritt Gastfreundschaft und Aufmerksamkeit. Die New Yorker Freunde erzählten optimistisch von der Arbeit ihres Komitees, von dem wachsenden Misstrauen zu dem Moskauer Prozess, von den Aussichten des Gegenprozesses. Die allgemeine Schlussfolgerung war, dass man so schnell wie möglich ein Buch über Stalins Prozessfälschungen herausbringen müsse. Das neue Kapitel unseres Lebens begann sehr günstig. Aber ... wie wird es sich weiterentwickeln? Aus den Waggonfenstern beobachteten wir gierig die tropische Landschaft. Bei dem Dorfe Cardenas, zwischen Tampico und San Luis Potosi, zogen unseren Zug zwei Lokomotiven auf ein Plateau. Es wehte eine Kühle, und wir befreiten uns bald von der uns in der Dampfatmosphäre der mexikanischen Bucht uberfallenen Angst der Nordländer vor den Tropen. Am Morgen des 11. stiegen wir in Lecheria, einer kleinen Station vor der Hauptstadt, aus, wo wir Diego Rivera umarmten, der aus der Klinik gekommen war. Ihm vor allem verdankten wir unsere Befreiung aus der norwegischen Gefangenschaft. Da waren noch einige Freunde: Fritz Bach, ein früherer Schweizer Kommunist, der mexikanischer Professor geworden ist; Hidalgo, ein Teilnehmer des Bürgerkrieges in den Reihen der Zapata-Armee, und einige Jugendliche. In Automobilen brachte man uns mittags nach Coyoacan, einem Vorort von Mexiko. Wir wurden im blauen Hause Frieda Riveras untergebracht, wo in der Mitte des Hofes ein Apfelsinenbaum steht ...

In einem Danktelegramm an den Präsidenten Cardenas, das ich bereits in Tampico aufgegeben hatte, erklärte ich, dass ich mich aufs Strengste von jeder Einmischung in die mexikanische Politik zurückzuhalten gedenke. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass den sogenannten „Freunden“ der UdSSR verantwortliche Agenten der GPU nach Mexiko zu Hilfe kommen würden, um mit allen Mitteln mir meinen Aufenthalt in dem gastfreundlichen Lande zu erschweren. Aus Europa trafen inzwischen Warnungen auf Warnungen ein. Konnte es auch anders sein? Stalin hatte zu viel, wenn nicht alles riskiert. Seine ursprüngliche Berechnung, die auf Plötzlichkeit und Schnelligkeit der Handlungen beruhte, hatte sich nur zur Hälfte bestätigt. Meine Übersiedlung nach Mexiko hat schroff das Kräfteverhältnis zuungunsten des Kremls verändert. Ich erhielt die Möglichkeit, an die öffentliche Weltmeinung zu appellieren. Wie wird das enden? mussten sich sorgenvoll jene fragen, die zu gut die Zerbrechlichkeit und Fäulnis ihrer Prozessfälschungen kennen.

Ein Zeichen der Moskauer Unruhe sprang in die Augen: die mexikanischen Kommunisten widmeten mir ganze Nummern ihres Wochenblattes, gaben sogar Sondernummern heraus, die sie mit altem und neuem Material aus den Jauchegruben der GPU und der Komintern füllten. Die Freunde sagten: „Beachten Sie es nicht; diese Zeitung genießt die verdiente Verachtung.“ Es war auch nicht meine Absicht, in eine Polemik mit Lakaien zu treten, wo mich der Kampf mit den Herren erwartete. Sehr würdelos benahm sich auch der Sekretär der Konföderation der Gewerkschaften, Lombardo Toledano. Ein politischer Dilettant aus dem Stande der Advokaten, fremd dem Proletariat und der Revolution, hatte dieser Herr im Jahre 1935 Moskau besucht und war zurückgekehrt wie es sich gehört, als uneigennütziger „Freund“ der UdSSR. Die Rede Dimitrows auf dem VII. Kongress der Komintern über die Politik der „Volksfronten“ – dieses Dokument der theoretischen und politischen Selbstentäußerung – war von Toledano proklamiert worden ... als das wichtigste Werk nach dem Kommunistischen Manifest. Seit meinem Eintreffen in Mexiko verleumdet mich dieser Herr um so ungenierter, als er im Voraus, infolge meiner Nichteinmischung in das „innere Leben des Landes, auf völlige Straflosigkeit rechnen darf. Die russischen Menschewiki waren wahre Ritter der Revolution im Vergleich mit solchen ungebildeten und eingebildeten Karrieristen! Unter den ausländischen Journalisten hatte sich sofort der mexikanische Korrespondent der New York Times, Kluckhohn, ausgezeichnet, der in Form von Interviews einige Male versuchte, mich einem Polizeiverhör zu unterwerfen. Es war nicht schwer zu begreifen, welche Quellen diesen Eifer inspirierten.

Hinsichtlich der mexikanischen Sektion der IV. Internationale erklärte ich öffentlich, dass ich keine Verantwortung für ihre Arbeit tragen kann. Ich schätzte zu sehr mein neues Asyl, um mir irgendeine Unvorsichtigkeit zu erlauben. Gleichzeitig habe ich die mexikanischen und nordamerikanischen Freunde gewarnt, dass man seitens der Stalinschen Agenten in Mexiko und Nordamerika auf ganz besondere Maßnahmen des „Selbstschutzes“ gefasst sein müsse. Im Kampfe um ihre internationale „Reputation“ und Macht wird die regierende Clique in Moskau vor nichts haltmachen und am wenigsten vor einer Ausgabe von einigen zehn Millionen Dollar für den Kauf von menschlichen Seelen. Ich weiß nicht, ob Stalin irgendwelche Zweifel in Bezug auf die Inszenierung des neuen Prozesses gehabt hat. Ich nehme es an, es ist nicht anders möglich. Meine Übersiedlung nach Mexiko jedoch muss ihnen ein jähes Ende bereitet haben. Jetzt war es notwendig, um jeden Preis und so schnell wie möglich die bevorstehenden Enthüllungen durch die Sensation neuer Beschuldigungen zu unterdrücken. Die Vorbereitungen für den Prozess Radek-Pjatakow gingen schon seit Ende August. Als Operationsbasis der „Verschwörung“ wurde diesmal, wie zu erwarten war, Oslo gewählt: man musste doch der norwegischen Regierung meine Ausweisung aus dem Lande erleichtern. Aber in die bereits veralteten geographischen Rahmen der Fälschung wurden in aller Eile neue, frische Elemente aufgenommen. Durch Wladimir Romm wollte ich nämlich die Geheimnisse der Washingtoner Regierung erfahren und durch Karl Radek beabsichtigte ich, Japan für den Fall eines Krieges mit den Vereinigten Staaten mit Petroleum zu versorgen. Nur wegen der Kürze der Zeit hat es die GPU nicht vermocht, mir eine Zusammenkunft mit japanischen Agenten im mexikanischen Park Chapultepec zu organisieren.

Am 19. kam das erste Telegramm von dem bevorstehenden Prozess. Am 21. antwortete ich darauf mit einem Artikel, den ich hier anführen zu müssen glaube. Am 23. begann der Prozess in Moskau. Wieder, wie im August, verbrachten wir eine Woche wie unter Alpdruck. Trotzdem die Mechanik nach der Erfahrung des vergangenen Jahres im Voraus ganz klar war, hatte sich der Eindruck des moralischen Entsetzens eher verstärkt als abgeschwächt. Die Telegramme aus Moskau waren wie ein Fieberwahn. Jede Zeile musste man mehrere Mal nachlesen, um sich zu vergewissern, dass hinter diesen Fieberphantasien lebende Menschen stehen. Einige von diesen Menschen habe ich nahe gekannt. Sie waren nicht schlechter als andere Menschen, im Gegenteil, besser als viele andere. Aber man hat sie mit der Lüge vergiftet und dann mit dem totalitären Apparat zermalmt. Sie verleumden sich selbst, um der regierenden Clique die Möglichkeit zu geben, andere zu verleumden. Stalin hat sich das Ziel gestellt, die Menschheit an unmögliche Verbrechen glauben zu machen. Wieder musste man sich fragen: Ist denn die Menschheit so dumm? Bestimmt nicht. Die Sache verhält sich so, dass Stalins Verleumdungen derart ungeheuerlich sind, dass sie ebenfalls als unmögliche Verbrechen erscheinen. Wie die Menschheit überzeugen, dass diese offensichtliche „Unmöglichkeit“ grauenhafte Realität ist? Der Zweikampf wird mit ungleichen Waffen geführt. Auf der einen Seite – GPU, Gericht, Presse, Diplomatie, eine gekaufte Agentur, Journalisten vom Typus Duranti, Advokaten vom Typus Pritt. Auf der anderen Seite – ein isolierter „Angeklagter“, mit Not dem sozialistischen Gefängnis entronnen, in einem fremden und fernen Lande, ohne eigene Presse, ohne Mittel. Und dennoch zweifelte ich keinen Augenblick, dass die allmächtigen Organisatoren des Amalgams einer Katastrophe entgegengehen. Die Spirale der Stalinschen Fälschungen, die bereits eine zu große Zahl von Menschen, Tatsachen und geographischen Punkten erfasst hat, verbreitert sich immer mehr. Alle kann man nicht betrügen. Nicht alle wollen betrogen sein. Die französische „Liga für Menschenrechte“ mit ihrem jungfräulichen Präsidenten Victor Basch ist allerdings fähig, ehrfurchtsvoll einen zweiten und zehnten Prozess zu schlucken, wie sie den ersten geschluckt hat. Aber Tatsachen sind stärker als der patriotische Eifer zweifelhafter „Rechts“-Anhänger. Tatsachen werden sich den Weg bahnen. Schon während des Prozesses habe ich der Presse eine Reihe dokumentarischer Widerlegungen übergeben und der Moskauer Gerichtsverhandlung eine Reihe präziser Fragen gestellt, die an sich die wichtigsten Aussagen der Angeklagten zunichte machen. Aber die Moskauer Themis hat sich nicht nur die Augen zugebunden, sondern auch die Ohren zugestopft. Ich habe natürlich nicht mit einer unmittelbaren weitgehenden Wirkung meiner Enthüllungen gerechnet: meine technischen Möglichkeiten sind dafür zu beschränkt. Die nächste Aufgabe bestand darin, dem Denken scharfsinniger Menschen einen faktischen Stützpunkt zu geben und bei der nächsten Schicht Kritik oder mindestens Zweifel zu erwecken. Nachdem sie das Bewusstsein der Auserwählten erfasst hat, wird sich die Wahrheit immer weiter und weiter entwickeln. Und letzten Endes wird die Spirale der Wahrheit mächtiger sein als die der Fälschung. Alles, was seit der Woche des Alpdrucks Ende Januar geschah, hat mich in meinen optimistischen Erwartungen nur bestärkt.


Anmerkung

1. Besser bekannt als Frida Kahlo.

 


Zuletzt aktualisiert am 10. Juni 2018