Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Die Expertise des Professors Charles Beard


In seiner Antwort (vom 19. März 1937) an den Sekretär des New Yorker Komitees, Novack, motiviert Herr Charles Beard seine Weigerung, an der Untersuchungskommission teilzunehmen, mit prinzipiellen Argumenten, die an sich von großem Wert sind, unabhängig von der Frage der Beteiligung oder Nichtbeteiligung des berühmten Historikers an der Untersuchungskommission.

Wir erfahren vor allem, dass Herr Beard „zahlreiche Dokumente, die sich auf die Sache beziehen, einschließlich des offiziellen Berichts über den letzten Moskauer Prozess sorgfältigst studierte“. Das Gewicht dieser Erklärung seitens eines Gelehrten, der zu gut weiß, was „sorgfältiges Studium“ bedeutet, ist ohne viel Worte klar. Herr Charles Beard teilt in sehr zurückhaltender, aber gleichzeitig unzweideutiger Form mit, dass er beim Studium der Frage auf Punkte gestoßen sei, die „auszuschließen“ sind. Vor allem, sagt er, beruht die Anklage gegen Trotzki völlig auf Geständnissen. „Aus langem Studium historischer Probleme weiß ich, dass Geständnisse, sogar wenn sie freiwillig gemacht sind, keinen positiven Beweis darstellen.“ Das Wort „sogar“ zeigt klar genug, dass die Frage über die Freiwilligkeit der Moskauer Geständnisse dem Gelehrten mindestens zweifelhaft erscheint. Als Beispiel falscher Selbstbeschuldigungen führt Herr Beard die klassischen Muster der Inquisitionsprozesse an, neben den Offenbarungen finstersten Aberglaubens. Diese Gegenüberstellung, die sich mit den Gedankengängen Friedrich Adlers, des Sekretärs der II. Internationale, deckt, spricht allein für sich. Ferner hält es Herr Beard für richtig, in Bezug auf mich die in der amerikanischen Rechtswissenschaft herrschende Regel anzuwenden: der Angeklagte ist als unschuldig befunden, da gegen ihn keine objektiven Beweise angeführt werden, die vernünftigen Zweifeln keinen Platz lassen. Und schließlich, schreibt der Historiker,

„ist es in solchen Fällen fast, wenn nicht völlig, unmöglich, die negative Behauptung zu beweisen, und zwar: dass Trotzki konspirative Verbindungen, deren er beschuldigt wird, nicht eingegangen ist. Es ist natürlich, dass ein alter, in seiner Sache erfahrener Revolutionär, keine kompromittierenden Berichte über solche Operationen aufbewahrt haben würde, wenn er sich damit beschäftigt hätte. Ferner hätte niemand in der Welt nachweisen können, dass er nicht in Konspirationen verwickelt war, wenn er nicht während der ganzen Zeit, auf die sich die Anklage bezieht, unter Bewachung gewesen wäre. Meiner Ansicht nach, fährt der Autor des Briefes fort, ist Herr Trotzki nicht verpflichtet, Unmögliches zu tun, das heißt, eine negative Tatsache durch positive Beweise zu beweisen. Es ist die Pflicht der Ankläger, etwas mehr als Geständnisse zu erbringen, nämlich: sie bekräftigende Beweise spezifischer und klarer Akte.“

Wie schon gesagt, sind die angeführten Schlussfolgerungen an und für sich sehr wichtig, da sie ein vernichtendes Werturteil über die Moskauer Justiz enthalten. Wenn die durch nichts bekräftigten Geständnisse von zweifelhafter „Freiwilligkeit“ nicht genügen, um mich anzuklagen, so genügen sie ebenso wenig für die Anklage gegen alle anderen. Das bedeutet nach Beards Meinung, dass in Moskau dutzende Unschuldiger erschossen sind, oder solche Personen, deren Schuld nicht bewiesen ist. Die Herren Henker müssen dieses Werturteil hinnehmen, und zwar von einem außerordentlich gewissenhaften Forscher auf Grund „sorgfältigen Studiums“ der Frage.

Trotzdem muss ich sagen, dass aus den materiellen Schlussfolgerungen des Herrn Beard sich keinesfalls die formelle Schlussfolgerung ergibt, und zwar: die Ablehnung, an der Untersuchung teilzunehmen. In der Tat: die öffentliche Meinung erwartet vor allem die Lösung des Rätsels – ist die Anklage bewiesen oder nicht bewiesen? Diese Frage will ja in erster Linie auch die Kommission lösen. Herr Beard erklärt: Ich für meinen Teil bin zu dem Schlüsse gelangt, dass die Anklage nicht bewiesen ist, und trete deshalb in die Kommission nicht ein. Mir scheint, eine richtigere Schlussfolgerung wäre gewesen: und trete deshalb in die Kommission ein, um sie von der Richtigkeit meiner Schlussfolgerung zu überzeugen. Es ist doch ganz klar, dass der kollektive Beschluss einer Kommission, die aus Vertretern verschiedener Zweige des öffentlichen Lebens und verschiedener geistiger Waffengattungen besteht, in den Augen der öffentlichen Meinung ein größeres Gewicht hat, als die Meinung einer einzelnen, wenn auch höchst autoritativen Person.

Die Schlussfolgerungen des Herrn Beard sind, trotz all ihrer Wichtigkeit, unvollständig auch in ihrem materiellen Kern. Die Frage besteht gar nicht darin, ob die Anklage gegen mich bewiesen oder nicht bewiesen ist. In Moskau sind Dutzende erschossen. Andere Dutzende warten auf die Erschließung. Hunderte und Tausende sind verdächtig, indirekt beschuldigt, verleumdet, nicht nur in der UdSSR, sondern in allen Teilen des Erdballs. Und das alles auf Grund von „Geständnissen“, die Herr Beard gezwungen ist, mit den Geständnissen der Inquisitionsopfer zu vergleichen. Die Kernfrage muss somit so formuliert werden: von wem, wozu und weshalb werden diese Inquisitionsprozesse und Kreuzzüge der Verleumdung organisiert? Hunderttausende von Menschen in der Welt sind davon unerschütterlich überzeugt und Millionen vermuten es, dass diese Prozesse auf systematischen Fälschungen beruhen, diktiert von bestimmten politischen Zwecken. Eben diese Beschuldigung, die sich gegen die regierende Clique in Moskau richtet, hoffe ich vor der Kommission beweisen zu können. Es geht folglich nicht nur um eine „negative Tatsache“, das heißt darum, dass Trotzki an einer Verschwörung nicht teilgenommen, sondern um eine positive Tatsache, das heißt darum, dass Stalin die in der Weltgeschichte gewaltigste Fälschung organisiert hat.

Aber auch in Bezug auf die „negativen Tatsachen“ kann ich die zu kategorische Meinung des Herrn Beard nicht akzeptieren. Er vermutet, dass als erfahrener Revolutionär ich keine mich kompromittierenden Dokumente aufbewahrt haben würde. Vollkommen richtig. Aber ich würde auch nicht den Verschwörern Briefe in einer höchst unvorsichtigen und mich am stärksten kompromittierenden Form geschrieben haben. Ich würde nicht ohne jegliche Notwendigkeit mir unbekannte junge Menschen in die geheimsten Pläne einweihen, oder ihnen bei der ersten Zusammenkunft höchst verantwortliche terroristische Aufträge erteilen. Insofern mir Herr Beard Kredit als Konspirator erweist, kann ich, gestützt auf diesen Kredit, völlig die „Geständnisse“ kompromittieren, in denen ich als Operettenverschwörer dargestellt werde, dessen Hauptsorge ist, dem künftigen Staatsanwalt möglichst viel Zeugen gegen mich zu liefern. Dasselbe bezieht sich auch auf die anderen Angeklagten, hauptsächlich auf Sinowjew und Kamenew. Ohne jegliche Notwendigkeit und ohne jeglichen Sinn erweitern sie den Kreis der Eingeweihten. Ihre zum Himmel schreiende Unvorsichtigkeit trägt einen erfundenen Charakter offen zur Schau. Und trotz alledem besitzt die Anklage nicht einen Beweis. Die ganze Sache ist aufgebaut auf Gesprächen, richtiger auf Erinnerungen an Gespräche. Das Fehlen von Indizien – ich werde nicht müde werden, es zu wiederholen – annulliert nicht nur die Anklage, sondern bildet ein schreckliches Indiz gegen die Ankläger selbst. Jedoch habe ich auch direktere und dabei vollständig positive Beweise der „negativen Tatsachen“. Das ist gar nicht so selten in der Justiz. Es ist selbstverständlich schwer zu beweisen, dass ich in den acht Jahren Emigration. mit keinem irgendeine geheime Zusammenkunft in Sachen einer Verschwörung gegen die Sowjetmacht gehabt habe. Aber die Frage steht auch gar nicht so. Die wichtigsten Zeugen der Anklage, die auch die Angeklagten sind, müssen nachweisen, wann und wo sie Zusammenkünfte mit mir gehabt haben. In all diesen Fällen kann ich infolge meiner besonderen Lebensweise (Polizeiaufsicht, ständige Bewachung durch Freunde, tägliche Post usw.) mit nicht zu erschütternder Sicherheit nachweisen, dass ich zur angegebenen Zeit an dem angegebenen Ort nicht gewesen sein konnte. Einen solchen positiven Beweis einer negativen Tatsache nennt man in der juristischen Sprache ein Alibi. Es ist ferner ganz unbestreitbar, dass ich in meinen Archiven keine Aufzeichnungen über meine eigenen Verbrechen, wenn ich sie begangen hätte, aufbewahrt haben würde. Aber meine Archive sind für die Untersuchung wichtig, nicht durch das, was sie nicht enthalten, sondern durch das, was sie enthalten. Die positive Kenntnis des täglichen Ganges meiner Gedanken und meiner Handlungen im Laufe von neun Jahren (ein Jahr Verbannung und acht Jahre Landesverweisung) genügen vollkommen, um eine „negative Tatsache“ zu beweisen, nämlich, dass ich Handlungen, die meiner Überzeugung, meinen Interessen und meinem ganzen Wesen zuwider sind, nicht begangen haben kann.

 


Zuletzt aktualiziert am 10. Juni 2018