Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Eine „rein juristische“ Expertise


Die Agenten der Sowjetregierung geben sich selbst vollkommen darüber Rechenschaft, dass man ohne Bekräftigung der Moskauer Urteile durch irgendwelche autoritäre Expertisen nicht auskommen kann. Zu diesem Zwecke wurde zum ersten Prozess auf geheime Weise der englische Advokat Pritt eingeladen; zu dem zweiten ein anderer englischer Advokat, Dodley Kollard. In Paris haben drei dunkle, aber der GPU ergebene Advokaten den Versuch unternommen, zum gleichen Zwecke die Firma La Commission Juridique Internationale auszunutzen. Ein in weitesten Kreisen unbekannter französischer Advokat Rosenmark gab nach Übereinkunft mit der Sowjetgesandtschaft und unter Deckung der Liga für Menschenrechte eine ebenso wohlmeinende wie von keiner Sachkenntnis getrübte Expertise ab. In Mexiko haben die „Freunde der UdSSR“ nicht zufällig der „Front der sozialistischen Advokaten“ vorgeschlagen, eine juristische Untersuchung der Moskauer Prozesse vorzunehmen. Ähnliche Schritte werden jetzt offenbar auch in den Vereinigten Staaten unternommen. Das Moskauer Justizkommissariat hat in fremden Sprachen einen „stenographischen“ Bericht über den Prozess der Siebzehn herausgegeben (Pjatakow, Radek u. a.), um von autoritären Juristen um so leichter Zeugnisse darüber zu erhalten, dass die Opfer der Inquisition erschossen wurden in völliger Übereinstimmung mit den Regeln, die die Inquisitoren aufgestellt haben. Im Wesentlichen ist die Bedeutung einer rein formalen Bestätigung, dass die äußeren Formen und Rituale des Gerichtsverfahrens gewahrt wurden, fast Null. Das Wesentliche besteht in den materiellen Bedingungen der Vorbereitung und der Durchführung der Prozesse. Wenn man aber für einen Moment von den entscheidenden Faktoren, die außerhalb des Gerichtssaales liegen, absieht, muss man auch dann gestehen, dass die Moskauer Prozesse ein direkter Hohn auf den Gedanken der Rechtspflege sind. Die Untersuchung wird im zwanzigsten Jahre der Revolution absolut geheim geführt. Die gesamte alte Generation der Bolschewiki steht vor einem Militärgericht, das aus drei namenlosen Militärbeamten zusammengesetzt ist. Den ganzen Prozess kommandiert ein Staatsanwalt, der sein ganzes Leben ein politischer Feind der Angeklagten war und blieb. Die Verteidigung ist abgeschafft, dem Prozessverfahren fehlt jeglicher Widerstreit. Indizien liegen dem Gericht nicht vor; man spricht von ihnen, aber es gibt sie nicht. Zeugen, von denen Staatsanwalt oder Angeklagte sprechen, werden nicht vernommen. Eine ganze Reihe Angeklagter, von denen in der Voruntersuchung die Rede war, fehlt aus unbekannten Gründen auf der Anklagebank. Zwei Hauptangeklagte, die sich im Auslande befinden, sind über das Prozessverfahren nicht benachrichtigt und besitzen, wie die sich im Ausland befindlichen Zeugen, keine Möglichkeit, irgendwelche Schritte zur Aufklärung der Wahrheit zu unternehmen. Der Gerichtsdialog ist vollkommen auf ein vorher einstudiertes Frage-und Antwortspiel aufgebaut. Der Staatsanwalt stellt keinem einzigen Angeklagten eine konkrete Frage, die ihn eventuell in Verlegenheit bringen und die materielle Unzulänglichkeit seiner Geständnisse enthüllen könnte. Der Vorsitzende deckt ehrfurchtsvoll die Arbeit des Staatsanwalts. Gerade der „stenographische“ Charakter des Prozessberichtes enthüllt die böswilligen Verschweigungen des Staatsanwalts und der Richter besonders überzeugend. Man muss noch hinzufügen, dass der Bericht in Bezug auf Authentizität nicht das geringste Vertrauen einflößt.

So wichtig diese Bedenken an sich auch sind, die ein breites Feld für die juristische Analyse bieten, so haben sie doch zweitrangige und drittrangige Bedeutung, da sie nur die Form der Fälschung, aber nicht ihr Wesen betreffen. Theoretisch kann man sich vorstellen, dass, wenn Stalin, Wyschinski und Jeschow noch fünf oder zehn Jahre die Möglichkeit haben sollten, ungestraft weiter ihre Prozesse zu inszenieren, sie eine solche Höhe der Technik erreichen werden, dass alle Elemente des Gerichtsverfahrens sich in formaler Übereinstimmung zueinander und zu den bestehenden Gesetzen befinden würden. Doch die Vervollkommnung der juristischen Technik der Fälschung würde diese der Wahrheit nicht um einen Millimeter näher bringen

In einem politischen Prozess von so außerordentlicher Bedeutung kann der Jurist die politischen Bedingungen, aus denen der Prozess erwuchs und unter denen die Untersuchung geführt wurde, nicht abstrahieren von – konkret gesprochen – jenem totalitären Druck, dem letzten Endes in gleicher Weise Angeklagte, wie Zeugen, wie Richter und Verteidiger und sogar der Staatsanwalt unterworfen sind. Hier liegt der Kern der Frage! In einem kontrolllosen und despotischen Regime, in dem alle ökonomischen, politischen, physischen und moralischen Zwangsmittel in einer Hand konzentriert sind, hört ein Gerichtsverfahren auf, ein Gerichtsverfahren zu sein. Es handelt sich um eine Prozessinszenierung mit vorher verteilten Rollen. Die Angeklagten werden auf die Bühne gelassen erst nach einer Reihe von Proben, die dem Regisseur vorher die Sicherheit geben, dass die Angeklagten nicht aus ihren Rollen fallen werden. In diesem Sinne – wie in allen anderen – stellen diese Gerichtsverfahren nur eine Zusammenballung des gesamten politischen Regimes der UdSSR überhaupt dar. In allen Versammlungen sprechen alle Redner das gleiche, sich dem Hauptredner anpassend, ganz unabhängig davon, was sie selbst noch gestern gesprochen haben. In den Zeitungen kommentieren sämtliche Artikel die gleiche Direktive in den gleichen Ausdrücken. Den Bewegungen des Dirigentenstabes folgend, arbeiten Historiker, Wirtschaftler und sogar Statistiker Vergangenheit und Gegenwart um, ohne Rücksicht auf Tatsachen, Dokumente oder sogar auf die vorletzte Ausgabe des eigenen Buches. In den Kindergärten und Schulen rühmen sämtliche Kinder mit den gleichen Worten Wyschinski und verwünschen die Angeklagten. So handelt keiner aus freiem Willen, alle tun sich Gewalt an. Die Einheitlichkeit des Prozesses, in dem die Angeklagten um die Wiederholung der Formeln des Staatsanwalts wetteiferten, ist somit keine Ausnahme von der Regel, sondern nur der abscheulichste Ausdruck des totalitär-inquisitorischen Regimes. Wir haben vor uns nicht eine Gerichtsverhandlung, sondern eine Theatervorstellung, in der die Hauptakteure ihre Rollen vor dem Lauf des Revolvers spielen. Die Vorstellung kann besser oder schlechter ablaufen; das ist eine Frage der Inquisitionstechnik, aber nicht der Rechtspflege. Eine „rein juristische“ Expertise beschränkt ihre Aufgabe darauf, festzustellen, ob die Fälschung gut oder schlecht durchgeführt wurde. Um die Frage greller zu beleuchten, sofern sie überhaupt einer Beleuchtung bedarf, nehmen wir ein frisches Beispiel aus dem Gebiete des Staatsrechts. Nach der Machteroberung erklärte Hitler, entgegen allen Erwartungen, dass er gar nicht die Absicht habe, die Grundgesetze des Staates abzuändern. Die meisten Menschen haben wahrscheinlich vergessen, dass in Deutschland die Weimarer Verfassung noch heute unangetastet besteht: Hitler hat nur in dieses juristische Futteral den Inhalt der totalitären Diktatur hinein getan. Stellen wir uns jetzt einen Experten vor, der sich eine große Brille aufsetzt und bewaffnet mit offiziellen Dokumenten das Staatsregime Deutschlands „von rein juristischem Standpunkte“ studieren will. Nach einigen Stunden angespannter geistiger Arbeit wird er entdecken, dass Hitler-Deutschland eine demokratische Republik von reinstem Wasser darstellt (allgemeines Wahlrecht, ein Parlament, das dem Führer Vollmachten bewilligt, Unabhängigkeit der Justiz usw. usw.). Jeder gesund denkende Mensch wird aber ausrufen, dass eine solche juristische „Expertise“ im besten Falle ein Ausdruck des „juristischen Kretinismus“ ist.

Die Demokratie beruht auf dem freien Kampf der Klassen, Parteien, Programme, Ideen. Wenn man diesen Kampf erdrosselt, bleibt von der Demokratie leere Spreu, geeignet zum Verdecken einer faschistischen Diktatur. Die moderne Rechtspflege beruht auf dem Kampfe zwischen Anklage und Verteidigung, der in gewisse prozessuale Rahmen eingefügt ist. Wo der Wettstreit zwischen den Parteien mit Hilfe außergerichtlicher Gewalt erdrosselt wird, bilden die prozessualen Rahmen, wie sie auch aussehen mögen, nur einen Schirm für die Inquisition. Die wirkliche Untersuchung der Moskauer Prozesse muss allseitig sein. Sie wird selbstverständlich auch den „stenographischen“ Bericht verwerten, aber nicht als Ding an sich, sondern als Bestandteil des gewaltigen historischen Dramas, deren Hauptfaktoren hinter den Kulissen des Prozessschauspiels bleiben.

 


Zuletzt aktualiziert am 10. Juni 2018