Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Drei Kategorien von Beweisen


Das Gebiet, das die Moskauer Prozesse umfassen, ist unermesslich Wenn ich mir die Aufgabe gestellt hätte, alle gegen mich gerichteten falschen Behauptungen zu widerlegen, die allein nur in den offiziellen Berichten über die zwei wichtigsten Moskauer Prozesse enthalten sind, ich würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen müssen; es genügt, daran zu erinnern, dass mein Name fast auf jeder Seite, und zwar mehr als einmal, figuriert. Ich hoffe, dass ich die Möglichkeit haben werde, mich noch in aller Ausführlichkeit vor der Kommission auszusprechen. Im Augenblick bin ich gezwungen, mir harte Einschränkungen aufzuerlegen. Eine ganze Reihe von Fragen, von denen jede einzeln für die Widerlegung der Beschuldigung von großer Bedeutung ist, muss zwangsweise zurückgestellt werden. Eine Reihe anderer, noch wichtigerer kann ich nur kurz streifen, nur den Gesamtrahmen jener Schlussfolgerungen zeichnen, die ich in Zukunft der Kommission darzulegen hoffe. Ich will nur versuchen, einige Knotenpunkte der Sowjetprozesse, sowohl prinzipiellen wie empirischen Charakters, auszusondern und sie gründlich zu durchleuchten. Diese Knotenpunkte lagern in drei Ebenen.

1. Die ausländischen Apologeten der GPU wiederholen monoton das gleiche Argument: Es ist unmöglich, anzunehmen, dass verantwortliche und alte Politiker sich vor Gericht Verbrechen beschuldigen könnten, die sie nicht begangen haben. Diese Herren aber weigern sich beharrlich, das gleiche Kriterium des gesunden Menschenverstandes nicht auf die Geständnisse, sondern auf die Verbrechen selbst anzuwenden. Indes wäre es in diesem zweiten Falle besser am Platze.

Ich gehe davon aus, dass die Angeklagten zurechnungsfähige, das heißt normale Subjekte sind und folglich offensichtlich sinnlose Verbrechen, die sich gegen ihre eigenen Ideen, gegen ihre ganze Vergangenheit und gegen ihre heutigen Interessen richten, nicht begangen haben konnten.

Im Begriff, das Verbrechen zu begehen, verfügte jeder Angeklagte über das, was man vom juristischen Standpunkte aus einen freien Willen nennen kann. Er konnte das Verbrechen begehen und konnte es nicht begehen. Er überlegte, ob das Verbrechen vorteilhaft ist, ob es seinen Zielen entspricht, ob die von ihm geplanten Mittel vernünftig sind usw., kurz, er handelte wie eine freie und zurechnungsfähige Person.

Die Lage verändert sich jedoch radikal, wenn der wirkliche oder angebliche Verbrecher in die Hände der GPU gerät, die aus politischen Gründen um jeden Preis bestimmte Geständnisse erreichen muss. Da hört der „Verbrecher“ auf, er selbst zu sein. Nicht er beschließt, sondern man beschließt für ihn. Es ist deshalb notwendig, ehe man Betrachtungen darüber anstellt, ob die Angeklagten vor Gericht entsprechend den Gesetzen des gesunden Menschenverstandes gehandelt haben, eine andere Frage auf zuwerfen, nämlich: haben die Angeklagten jene unwahrscheinlichen Verbrechen begehen können, die sie bekennen?

War die Ermordung Kirows für die Opposition von Vorteil? Und wenn nicht, war es nicht für die Bürokratie von Vorteil, die Ermordung Kirows um jeden Preis der Opposition zuzuschreiben?

War es für die Opposition von Vorteil, Sabotageakte zu begehen, Bergwerke zu sprengen, Eisenbahnkatastrophen zu organisieren? Und wenn nicht, war es nicht für die Bürokratie von Vorteil, die Verantwortung für Fehler und Katastrophen in der Wirtschaft auf die Opposition abzuwälzen?

War es für die Opposition von Vorteil, in ein Bündnis mit Hitler und dem Mikado zu treten? Und wenn nicht, war es nicht für die Bürokratie von Vorteil, von der Opposition ein Geständnis zu erreichen, sie sei mit Hitler und dem Mikado im Bunde gewesen?

Qui prodest? Es genügt, klar und deutlich diese Frage zu formulieren, um damit allein die ersten Konturen der Antwort zu unterscheiden.

2. Im letzten wie in allen vorangegangenen Prozessen bilden den einzigen Stützpunkt der Beschuldigungen die Standardmonologe der Angeklagten, die, Gedanken und Ausdrücke des Staatsanwalts wiederholend, sich überbieten in Reuebekenntnissen und mich unvermeidlich als den Hauptorganisator der Verschwörung nennen. Wie ist diese Tatsache zu erklären? In seiner Anklagerede versuchte Wyschinski diesmal das Fehlen objektiver Beweise mit dem Umstände zu erklären, dass Verschwörer bei sich keine Mitgliedskarten haben, keine Protokolle führen u. a. m. Diese kläglichen Argumente erscheinen doppelt kläglich auf russischem Boden, wo Verschwörungen und Gerichtsprozesse auf eine lange Reihe von Jahrzehnten blicken. Konspiratoren schreiben Briefe allegorisch. Aber diese in Geheimsprache geschriebenen Briefe werden bei Haussuchungen gefunden und bilden ein ernstes Indiz. Verschwörer gebrauchen häufig auch chemische Tinte. Die zaristische Polizei hat solche Briefe hunderte Mal abgefangen und sie dem Gericht übergeben. In die Mitte der Verschwörer dringen Provokateure ein, die der Polizei konkrete Berichte über den Gang der Verschwörung liefern und dadurch die Möglichkeit schaffen, Dokumente, Laboratorien und die Verschwörer selbst am Tatort zu fassen. Nichts ähnliches finden wir in den Prozessen Stalin-Wyschinski. Trotz der fünfjährigen Dauer der grandiosesten aller Verschwörungen, die Verzweigungen in allen Teilen des Landes hatte, und ihre Verbindungen östlich und westlich der Landesgrenzen, trotz den unzähligen Haussuchungen und Verhaftungen und sogar trotz Raub von Archiven gelang es der GPU nicht, irgendein materielles Beweisstück dem Gericht vorzulegen. Die Angeklagten verweisen nur auf ihre wirklichen oder angeblichen Gespräche über Gespräche. Die gerichtliche Untersuchung ist ein Gespräch über Gespräche. Die „Verschwörung“ entbehrt des Fleisches und des Blutes.

Anderseits kennt die Geschichte des revolutionären wie des konterrevolutionären Kampfes keine Fälle, wo Dutzende eingefleischter Verschwörer eine Reihe von Jahren beispiellose Verbrechen begehen und nach der Verhaftung, trotz fehlenden Indizien, alles eingestehen, sich und einander angeben und mit einer Raserei ihren abwesenden „Häuptling“ schmähen. Wie ist es möglich, dass Verbrecher, die gestern Menschen gemordet, die Wirtschaft demoliert, den Krieg und die Zerstückelung des Landes vorbereitet haben, heute so gehorsam nach der Stimmgabel des Staatsanwalts singen?

Diese zwei Grundzüge der Moskauer Prozesse: das Fehlen von Indizien und der epidemische Charakter der Reuebekenntnisse müssen bei jedem denkenden Menschen Verdacht erwecken. Um so größere Bedeutung gewinnt dabei eine objektive Nachprüfung der Geständnisse. Indes hat das Gericht eine solche Nachprüfung nicht nur nicht vorgenommen, sondern, im Gegenteil, sie auf jede Weise gemieden. Diese Nachprüfung müssen wir übernehmen. Gewiss, sie ist nicht in allen Fällen möglich. Aber das ist auch nicht notwendig. Uns wird es für den Anfang vollkommen genügen, zu beweisen, dass in einigen äußerst wichtigen Fällen die Bekenntnisse in völligem Widerspruch zu den objektiven Tatsachen stehen. Je schärfer der Standardcharakter der Bekenntnisse, um so mehr werden sie kompromittiert sein, wenn sich die Lügenhaftigkeit einiger von ihnen herausstellt. Die Zahl der Beispiele, wo die Geständnisse der Angeklagten – ihre Denunziationen gegen sich und die andern – bei der Gegenüberstellung mit den Tatsachen in Stücke zerschellen, ist sehr groß. Das ist schon hier zur Genüge zutage getreten. Die Erfahrung der Moskauer Prozesse beweist, dass eine Fälschung von so grandiosem Ausmaße über die Kraft des mächtigsten Polizeiapparates der Welt geht. Zu viele Menschen und Umstände, Charaktere und Daten, Interessen und Dokumente sind es, die in den Rahmen des fertigen Libretto nicht hineinpassen! Der Kalender wahrt hartnäckig seine Rechte und die Meteorologie Norwegens beugt sich nicht vor Wyschinski. Betrachtet man die Frage vom Standpunkte der Kunst, so würde eine solche Aufgabe, Hunderte von Menschen und zahllose Situationen dramatisch übereinstimmend anzuordnen, über die Kraft Shakespeares gehen. Und die GPU verfügt nicht über Shakespeare. Insofern es sich um „Ereignisse“ in der UdSSR handelt, schützt den Schein der Übereinstimmung die Inquisitionsgewalt: alle – Angeklagte, Zeugen, Sachverständige – bestätigen im Chor materiell unmögliche Tatsachen. Aber die Lage ändert sich jäh, wenn man die Fäden nach dem Auslande ausspannen muss. Und ohne die Fäden nach dem Auslande, zu mir, „dem Feind Nr. 1“, verliert der Prozess den Hauptteil seiner politischen Bedeutung. Deshalb war die GPU gezwungen, sich auf riskante und äußerst unglückliche Kombinationen mit Golzmann, Olberg, David, Bermann, Romm und Pjatakow einzulassen.

Die Wahl der Objekte der Analyse und der Widerlegung ergibt sich somit von selbst aus jenem „Tatbestand“, über den die Anklage gegen mich und meinen Sohn verfügt. Die Widerlegung der Angaben Golzmanns über seinen Besuch bei mir in Kopenhagen; die Widerlegung der Angaben Romms über sein Zusammentreffen mit mir im Bois de Boulogne und die Widerlegung der Erzählung Pjatakows über seinen Flug nach Oslo besitzen somit nicht nur große Bedeutung an sich, insofern sie die wichtigsten Pfeiler der Anklage gegen mich und meinen Sohn umstürzen, sie erlauben auch, einen Blick zu tun hinter die Kulissen des Moskauer Rechtswesens in seiner Gesamtheit und lassen die Methoden, die dort angewandt werden, erkennen. Dies sind die zwei ersten Etappen meiner Analyse. Wenn es uns gelingen wird, nachzuweisen, dass einerseits die sogenannten „Verbrechen“ der Psychologie und den Interessen der Angeklagten widersprechen, dass anderseits die Geständnisse, mindestens in einigen typischen Fällen, den festgestellten Tatsachen widersprechen, so werden wir damit allein schon eine sehr große Arbeit in Sachen der Widerlegung der Anklage in ihrer Gesamtheit erfüllt haben.

3. Gewiss, auch dann werden noch nicht wenige Fragen bleiben, die einer Antwort bedürfen. Die wichtigsten von ihnen wären: Was sind das für Menschen, diese Angeklagten, die nach 25–30 und mehr Jahren revolutionärer Arbeit bereit sind, sich mit so phantastischen und erniedrigenden Beschuldigungen zu belasten? Mit welchen Mitteln hat die GPU ihr Ziel erreicht? Warum hat nicht einer der Angeklagten vor Gericht die Fälschung offen herausgeschrien? Und so weiter. Dem Wesen der Sache nach bin ich nicht verpflichtet, auf diese Fragen zu antworten. Wir können weder Jagoda vernehmen (ihn vernimmt jetzt Jeschow!) noch Jeschow, noch Wyschinski oder Stalin und hauptsächlich nicht deren Opfer, von denen die meisten bereits erschossen sind. Die Kommission kann darum die Inquisitionstechnik der Moskauer Prozesse nicht mehr völlig aufdecken. Doch ihre Haupttriebfedern sind schon jetzt sichtbar ... Die Angeklagten sind nicht Trotzkisten, nicht Oppositionelle, nicht Kämpfer, sondern gehorsame Kapitulanten. Die GPU hatte sie während einer Reihe von Jahren für die Prozesse erzogen. Ich halte es darum für äußerst wichtig, zum Verständnis der Mechanik der Bekenntnisse die Psychologie der Kapitulanten, als einer politischen Gruppe, zu entblößen und eine persönliche Charakteristik der wichtigsten Angeklagten der beiden Prozesse zu geben. Ich meine nicht willkürliche psychologische Improvisationen, nachträglich konstruiert im Interesse der Verteidigung, sondern objektive Charakteristiken, die auf unbestrittenem Material beruhen und sich auf verschiedene Momente der uns interessierenden Periode beziehen. An solchem Material habe ich keinen Mangel. Im Gegenteil, meine Mappen bersten von Tatsachenmaterial. Ich wähle deshalb ein Beispiel, das grellste und typischste, und zwar Radek. Schon am 14. Juni 1929 schrieb ich über den Einfluss der mächtigen thermidorianischen Tendenzen auf die Opposition:

„... Wir haben an einer Reihe von Beispielen gesehen, wie alte Bolschewiki, die bestrebt waren, die Parteitraditionen und sich selbst zu schützen, aus letzten Kräften versuchten, der Opposition zu folgen: Die einen bis 1925, die andern bis 1927 und manche auch bis 1929. Aber letzten Endes fielen sie ab: es reichten die Nerven nicht aus. Radek stellt momentan einen hastenden und lärmenden Ideologen solcher Art dar.“ (Bulletin der Opposition, Nr. 1–2, Juli 1929)

Gerade Radek hat im letzten Prozess die „Philosophie“ der verbrecherischen Tätigkeit der Trotzkisten gegeben. Nach dem Zeugnis vieler ausländischer Journalisten schienen Radeks Aussagen vor Gericht die künstlichsten und schablonenmäßigsten und am wenigsten Glauben verdienenden. Es ist um so wichtiger, an diesem Beispiel zu beweisen, dass auf der Anklagebank nicht der reale Radek figurierte, wie ihn die Natur und seine politische Vergangenheit geschaffen haben, sondern eine Art „Roboter“, hervorgegangen aus dem Laboratorium der GPU.

Wenn es mir gelingt, dies mit der notwendigen Überzeugungskraft zu zeigen, so wird damit in hohem Maße auch die Rolle der anderen Angeklagten in diesen Prozessen erhellt werden. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass ich den Gedanken ablehne, die Physiognomie jedes Einzelnen von ihnen zu erhellen. Im Gegenteil, ich hoffe, dass mir die Kommission die Möglichkeit geben wird, dies an der nächsten Etappe ihrer Arbeiten durchzuführen. Gebunden durch den Rahmen der Zeit bin ich jetzt gezwungen, die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die wichtigsten Umstände und die typischsten Figuren zu konzentrieren.

 


Zuletzt aktualiziert am 10. Juni 2018