Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Radek


In seiner Anklagerede (28. Januar) sagte der Staatsanwalt:

„Radek ist einer der bedeutendsten und, man muss ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, der begabtesten und beharrlichsten Trotzkisten ... Er ist unverbesserlich ... Er ist einer der vertrautesten und dem Hauptataman dieser Bande, Trotzki, am nächsten stehenden Menschen.“

Alle Elemente dieser Charakteristik sind falsch, außer vielleicht dem Hinweis auf Radeks Begabung; aber auch da muss hinzugefügt werden: als Journalist. Nicht mehr! Von Radeks „Beharrlichkeit“, von seiner „Unverbesserlichkeit“ als Oppositioneller und von seiner Nähe zu mir kann man höchstens in Form eines deplatzierten Scherzes sprechen.

Radek kennzeichnen in Wirklichkeit Impulsivität, Unbeständigkeit, Unzuverlässigkeit, Neigung, bei der ersten Gefahr in Panik zu verfallen, und ganz außerordentliche Geschwätzigkeit in ruhigen Zeiten. Diese Eigenschaften machen ihn zu einem Zeitungs-Figaro von hoher Qualifikation, zu einem unschätzbaren Informator für ausländische Journalisten und Touristen, aber völlig ungeeignet für die.Rolle des Konspirators. Im Kreise informierter Menschen ist es ganz undenkbar, von Radek als von einem Inspirator terroristischer Attentate oder Organisator einer internationalen Verschwörung zu sprechen! Der Staatsanwalt jedoch stattet Radek nicht zufällig mit Eigenschaften aus, die dessen tatsächlichem Charakter gerade entgegengesetzt sind: anders wäre es nicht möglich, auch nur den Schein einer psychologischen Basis für die Anklage zu schaffen. In der Tat, wenn ich als den politischen Leiter des „rein trotzkistischen“ Zentrums Radek gewählt und gerade ihn in erster Linie in meine Verhandlungen mit Deutschland und Japan eingeweiht haben würde, so wäre klar, dass Radek nicht nur ein „beharrlicher“ und „unverbesserlicher“ Trotzkist gewesen sein müsste, sondern auch einer meiner „Vertrautesten“ und „Nächsten“. Die Charakteristik Radeks in der Anklagerede ist ein notwendiger Bestandteil der gesamten Prozessfälschung.

Radek ist, nach den Worten des Staatsanwalts, der „Portefeuillebewahrer der Außenpolitik – im Trotzkistischen Zentrum“. Mit Fragen der Außenpolitik hat sich Radek tatsächlich viel beschäftigt, jedoch ausschließlich als Journalist. In den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution war er allerdings Mitglied des Kollegiums des Volkskommissariats des Äußern. Doch beklagten sich alle Sowjetdiplomaten im Politbüro: was man in Gegenwart von Radek spricht, weiß am nächsten Tag ganz Moskau. Er wurde bald aus dem Kollegium entfernt.

Eine Zeitlang war Radek Mitglied des Zentralkomitees und hatte in dieser Eigenschaft das Recht, die Sitzungen des Politbüros zu besuchen. Auf Lenins Initiative wurden geheime Fragen stets in Radeks Abwesenheit behandelt. Lenin schätzte Radek als Journalisten, konnte ihn aber gleichzeitig wegen seines Mangels an Selbstbeherrschung, seines unernsten Verhaltens zu ernsten Fragen und wegen seines Zynismus nicht ausstehen. Es soll hier das Urteil angeführt werden, das Lenin über Radek auf dem VII. Parteitag (1918) während der Debatten über den Brest-Litowsker Frieden fällte. Anlässlich Radeks Bemerkung: „Lenin tritt Raum ab, um Zeit zu gewinnen“, sagte Lenin: „Ich kehre zum Genossen Radek zurück und will hier vermerken, dass es ihm gelang, zufällig einen ernsten Satz zu sagen ...“ Und weiter: „Es zeigte sich diesmal, dass bei dem Genossen Radek ein ganz ernster Satz entstand.“ Diese zweimal gebrauchte Wendung gibt den Kern wieder nicht allein von Lenins Stellung zu Radek, sondern auch die von Lenins nächsten Mitarbeitern. Ich will hier noch anführen, dass sechs Jahre später, im Januar 1924, auf der Parteikonferenz, die kurz vor Lenins Tod stattfand, Stalin sagte: „Bei den meisten Menschen regiert der Kopf die Zunge, bei Radek regiert die Zunge den Kopf.“ Bei all ihrer Grobheit sind diese Worte recht zutreffend. Sie haben jedenfalls keinen überrascht, am allerwenigsten Radek selbst; er war an solche Einschätzungen gewöhnt. Wer kann nun glauben, dass ich an die Spitze einer grandiosen Verschwörung einen Mann gestellt habe, bei dem die Zunge den Kopf regiert und der darum nur fähig ist, „zufällig“ ernste Gedanken auszusprechen? Radeks Stellung zu mir hat zwei Stadien durchgemacht: im Jahre 1923 schrieb er über mich einen panegyrischen Artikel, der mich durch seinen gehobenen Ton verblüffte (Leo Trotzki – der Organisator des Sieges, Prawda, 14. März 1923). In den Tagen des Moskauer Prozesses (21. August 1936) dagegen schrieb Radek über mich seinen verleumderischsten und zynischsten Artikel. Die Periode zwischen diesen beiden Arbeiten ist durch die Kapitulation Radeks in zwei Hälften geteilt: 1929 wurde das Umbruchsjahr in seiner Politik und in seiner Stellung zu mir. Die Geschichte unserer Beziehungen vor und nach 1929 lässt sich aus Artikeln und Briefen jahraus, jahrein verfolgen. Die wichtigsten Tatsachen rekonstruieren, heißt auch in dieser Frage die Anklage entlarven.

*

In den Jahren 1923–1926 schwankte Radek zwischen der linken Opposition in Russland und der rechten kommunistischen Opposition in Deutschland (Brandler, Thalheimer usw.). Im Augenblick des offenen Bruches zwischen Stalin und Sinowjew (Anfang 1926) versuchte Radek vergeblich, die linke Opposition zu einem Block mit Stalin hinzureißen. Radek gehörte dann fast während dreier Jahre (für ihn eine außerordentliche Frist!) zur linken Opposition. Jedoch innerhalb der Opposition lief er bald nach rechts, bald nach links.

Im August 1927, das Thema über die Gefahr des Thermidors entwickelnd, schrieb er in seinen Programmthesen:

„Die Tendenz zur thermidorianischen Umwandlung der Partei und ihrer führenden Institutionen äußert sich in folgenden Momenten: d) in der Linie des wachsenden Gewichtes des Parteiapparates im Gegensatz zu dem der unteren Parteiorganisationen, die ihren klassischen Ausdruck gefunden hat in Stalins Ausspruch im Plenum (August 1927): ‚Diese Kader können abgesetzt werden nur durch den Bürgerkrieg‘ – einer Erklärung, die eine klassische Formel der Bonapartistischen Umwälzung ist; e) in der Außenpolitik, wie sie Sokolnikow projektiert. Diese Tendenzen muss man offen als thermidorianische bezeichnen ... und offen sagen, dass sie im ZK ihren vollen Ausdruck in seinem rechten Flügel (Rykow, Kalinin, Woroschilow, Sokolnikow) und teils im Zentrum (Stalin) gefunden haben. Man muss offen sagen, dass die thermidorianischen Tendenzen im Wachstum begriffen sind.“

Dieses Zitat ist wichtig in doppelter Hinsicht:

  1. Es zeigt erstens, dass Stalin schon im Jahre 1927 die Bürokratie („Kader“) als unabsetzbar proklamierte und jede Opposition gegen sie von vornherein dem Bürgerkrieg gleichsetzte (Radek hat gemeinsam mit der gesamten Opposition diese Erklärung als Manifest des Bonapartismus qualifiziert).
     
  2. Es charakterisiert unzweideutig Sokolnikow nicht als einen Gesinnungsgenossen, sondern als Vertreter des rechten, thermidorianischen Flügels. Im letzten Prozess aber figuriert Sokolnikow als Mitglied des „Trotzkistischen“ Zentrums. Ende 1927 wird Radek mit hunderten anderen Oppositionellen aus der Partei ausgeschlossen und nach Sibirien verschickt. Sinowjew, Kamenew und später Pjatakow legen Reuebekenntnisse ab. Schon im Frühjahr 1928 wird Radek schwankend, hält sich aber noch etwa ein Jahr auf den Beinen.

So schreibt Radek am 10. Mai aus Tobolsk an Preobraschenski:

„Ich verwerfe die Sinowjewiade und die Pjatakowiade als Dostojewskiaden. Sie legen gegen ihre Überzeugung Reuebekenntnisse ab. Man kann der Arbeiterklasse nicht durch Lügen helfen. Die Übriggebliebenen müssen die Wahrheit sagen.“

Am 24. Juni schreibt mir Radek, sich gegen meine Befürchtungen verteidigend:

„Niemand plant eine Lossagung von unseren Ansichten. Eine solche Lossagung wäre um so lächerlicher, als die Nachprüfung durch die Geschichte die Richtigkeit dieser Ansichten glänzend bewiesen hat.“

Für Radek besteht folglich kein Zweifel, dass Oppositionelle nur mit der Absicht bereuen können, sich das Wohlwollen der Bürokratie wiederzugewinnen. Ihm kommt es gar nicht in den Sinn, dass hinter den Reuebekenntnissen irgendwelche teuflische Pläne verborgen sein könnten.

Am 3. Juli schreibt Radek dem Kapitulanten Wardin:

„Sinowjew und Kamenew haben Reuebekenntnisse abgelegt, angeblich um der Partei Hilfe zu leisten, in Wirklichkeit haben sie nur eines gewagt: Artikel gegen die Opposition zu schreiben. Das ist die Logik der Dinge, denn der Reuige muss Reue beweisen.“

Diese Zeilen werfen ein vernichtendes Licht auf die späteren Prozesse, wo nicht nur Sinowjew und Kamenew, sondern auch Radek gezwungen sein werden, die Aufrichtigkeit all ihrer vorangegangenen Reuebekenntnisse zu „beweisen“. Im Sommer 1928 arbeitet Radek gemeinsam mit Smilga politische Thesen aus, in denen unter anderem steht: „Es irren sich tief jene, die, wie Pjatakow und andere, sich beeilen, durch Verrat ihre Vergangenheit zu begraben“ So urteilt Radek über seinen späteren Mitarbeiter in dem mythischen „parallelen Zentrum“. Radek selbst schwankt schon in jener Zeit. Aber psychologisch konnte er noch die Kapitulation Pjatakows nicht anders einschätzen denn als Verrat.

Jedoch sind Radeks Absichten, sich mit der Bürokratie auszusöhnen, in seinen Briefen bereits so durchsichtig, dass F. Dingelstedt, einer der angesehensten Verbannten aus der jüngeren Generation, Radeks „Kapitulanten“-Tendenzen offen brandmarkt. Am 8. August antwortet Radek Dingelstedt:

„Der Versand der Briefe über die Kapitulation ist Leichtsinn, Säen von Panik, unwürdig eines alten Revolutionärs ...

Wenn Sie es sich überlegen und Ihre Nerven ins Gleichgewicht kommen werden (und wir brauchen starke Nerven, denn die Verbannung ist eine Lappalie im Vergleich zu dem, was uns noch zu sehen bevorsteht), so werden Sie, ein altes Parteimitglied, sich schämen, so leicht den Kopf zu verlieren. Mit Komm. Gruß! K. R.“

In diesem Brief sind besonders bemerkenswert die Worte: die Verbannung nach Sibirien sei eine Lappalie im Vergleich mit den bevorstehenden Repressalien. Radek ahnt gleichsam die künftigen Prozesse voraus. Am 16. September schreibt Radek an die Verbannten im Dorfe Kolpaschewo:

„Wenn Stalin von uns das Eingeständnis unserer ‚Irrtümer‘ und das Vergessen seiner Irrtümer fordert, so bedeutet diese Formel die Forderung unserer Kapitulation als besondere Richtung und unsere Unterwerfung. Unter dieser Bedingung ist er bereit, uns zu begnadigen. Wir können diese Bedingung nicht akzeptieren.“ (Bulletin der Opposition, Nr. 3–4, September 1929)

Am gleichen Tage schreibt Radek an Wratschew über die auf ihn hagelnden Schläge seitens der standhafteren Oppositionellen:

„Zurechtweisungen werden mich von meiner Pflichterfüllung nicht abhalten. Wer aber auf Grund dieser Kritik (d. h. der Kritik von Radek) noch weiter von der Vorbereitung eines Falles Pjatakow schwatzen wird, stellt sich damit ein Zeugnis geistiger Armut aus.“

Pjatakow bleibt für Radek noch das Maß des äußersten politischen Sinkens. Allein schon diese Zitate, die den tatsächlichen Zersetzungsprozess der Opposition und den Übergang ihres schwankenden und opportunistischen Flügels in das Lager der Bürokratie zeigen, vernichten die Polizeiversion der Anklage von den beabsichtigten Kapitulationen als einer Verschwörungsmethode gegen die Partei.

Im Oktober 1928 appelliert Radek an das Zentralkomitee, es möge die Verfolgungen der Opposition einstellen oder mindestens mildern.

„Ohne Rücksicht darauf, dass die Älteren von uns ein Vierteljahrhundert für den Kommunismus gekämpft haben“, schreibt er aus Sibirien nach Moskau, „habt ihr uns aus der Partei ausgeschlossen und wie Konterrevolutionäre verbannt – auf Grund einer Beschuldigung, die nicht uns entehrt, sondern jene, die sie gegen uns erheben“ (Art. 58 des Strafgesetzbuches).

Radek zählt eine Reihe von Fällen grausamer Behandlung der Verbannten auf – Sibirjakow, Alski, Horetschko – und fährt fort:

„Aber die Geschichte mit Trotzkis Krankheit macht der Geduld ein Ende. Wir können nicht schweigen und teilnahmslos bleiben, wenn die Malaria die Kräfte eines Kämpfers zerfrisst, der sein ganzes Leben der Arbeiterklasse gedient hat und der das Schwert der Oktoberrevolution war.“

Das ist eine der letzten Äußerungen Radeks als Oppositioneller und sein letztes positives Urteil über mich. Seit Beginn 1929 lehnt er es bereits ab, seine Schwankungen zu verbergen, und Mitte Juni kehrt Radek nach Verhandlungen mit Organen der GPU und der Partei als Kapitulant nach Moskau zurück, wenn auch noch unter Eskorte. Auf einer sibirischen Eisenbahnstation hat er eine Auseinandersetzung mit Verbannten, die ein Beteiligter in einer Korrespondenz nach dem Auslande folgendermaßen schildert (Bulletin der Opposition, Nr. 6, Oktober 1929):

„Frage: ‚Und wie ist Ihre Stellung zu L. D. (Trotzki)?‘ Radek: ‚Mit L. D. habe ich endgültig gebrochen. Von nun an sind wir politische Feinde ... Mit einem Mitarbeiter von Lord Beaverbrook haben wir nichts gemein.‘ Frage: ‚Werden Sie die Abschaffung des Artikels 58 fordern?‘ Radek: ‚Keinesfalls! Wer mit uns gehen wird, wird automatisch von ihm befreit sein. Aber wir werden jene von dem Artikel 58 nicht befreien, die die Partei untergraben und die Unzufriedenheit der Massen organisieren.‘ Agenten der GPU ließen uns nicht zu Ende sprechen. Sie trieben Karl (Radek) in den Waggon, während sie ihn der Agitation gegen Trotzkis Ausweisung beschuldigten. Aus dem Waggon schrie Radek: ‚Ich agitiere gegen Trotzkis Ausweisung? Ha-ha-ha ... Ich agitiere dafür, dass die Genossen in die Partei zurückkehren!‘ Die Agenten der GPU schwiegen und drängten Karl in die Mitte des Waggons. Der Eilzug setzte sich in Bewegung ...“

Über diese grelle Erzählung, die Radek wie lebend zeigt, schrieb ich in einer Redaktionsnotiz:

„Unser Korrespondent sagt, die Basis (der Kapitulationen) sei ‚Feigheit‘. Diese Formulierung kann vielleicht vereinfacht erscheinen, aber im Kern ist sie richtig. Selbstverständlich handelt es sich um politische Feigheit – persönliche ist dabei nicht unbedingt notwendig, obwohl sie nicht selten zusammentreffen.“

Diese Charakteristik stimmt mit meinem Urteil über Radek vollkommen überein. Schon am 14. Juni, kaum dass der Telegraph die Kunde von Radeks „aufrichtigem Reuebekenntnis“ gebracht hatte, schrieb ich:

„Indem er kapitulierte, hat sich Radek einfach aus der Liste der Lebenden ausgestrichen. Er wird in die von Sinowjew verkörperte Kategorie der Halbgehenkten, Halbbegnadigten geraten. Diese Menschen fürchten sich, laut ein Wort auszusprechen, fürchten sich, eine eigene Meinung zu haben, und leben nur davon, dass sie sich nach ihrem eigenen Schatten umschauen.“ (Bulletin der Opposition, Nr. 1/2, Juli 1929)

Etwa einen Monat später (7. Juli) schrieb ich in einem anderen Artikel in Bezug auf die Kapitulationen: „Allgemein gesprochen hat noch niemand Radek der Beharrlichkeit und der Konsequenz beschuldigt.“ (Bulletin der Opposition, Nr. 1/2, Juli 1929) Diese Worte hören sich an wie eine politische Replik, gerichtet an die Adresse des Staatsanwalts Wyschinski, der sieben Jahre später Radek zum ersten Mal den Vorwurf der „Beharrlichkeit und Konsequenz“ macht.

Ende Juli kehrte ich zum selben Thema zurück, diesmal mit einer breiteren Perspektive:

„Die Kapitulation von Radek, Smilga und Preobraschenski ist in ihrer Art ein bedeutsames politisches Faktum. Sie beweist vor allem, wie stark sich die große und heroische Generation der Revolutionäre verbraucht hat, die vom Schicksal ausersehen war, durch Krieg und Oktoberrevolution zu gehen. Drei alte und verdiente Revolutionäre haben sich aus dem Buche der Lebenden ausgestrichen Sie haben sich des Wichtigsten beraubt: des Rechts auf Vertrauen. Das wird ihnen niemand zurückgeben.“

Seit Mitte 1929 wird Radeks Name in den Reihen der Opposition zum Symbol der würdelosesten Formen der Kapitulation und treubrüchigsten Schläge in den Rücken der gestrigen Freunde. Der obenerwähnte Dingelstedt schreibt, um die Schwierigkeiten Stalins besser zu schildern, ironisch: „Wird ihm dabei der Renegat Radek helfen können?“ Um seine Verachtung gegen das Dokument eines neuen Kapitulanten zu unterstreichen, fügt Dingelstedt hinzu: „Das öffnet dir den Weg zu Radek.“ (22. September 1929)

Ein anderer verbannter Oppositioneller schreibt am 27. Oktober aus Sibirien im Bulletin der Opposition (Nr. 7, November/Dezember 1929): „Einen besonders scheußlichen Charakter – ein anderes Wort finde ich nicht – hat Radeks Arbeit angenommen. Er lebt von Intrigen und Klatsch und bespuckt grimmig seinen gestrigen Tag.“

Im Herbst 1929 schildert Rakowski, wie Preobraschenski und Radek den Weg der Kapitulation betraten: „Der erstere mit einer gewissen Konsequenz, der zweite wie gewöhnlich in Winkelzügen und Sprüngen von der linksten Position auf die rechteste und zurück.“ (Bulletin der Opposition, Nr. 7, November/Dezember 1929) Rakowski bemerkt sarkastisch, dass jeder Kapitulant verpflichtet ist, bevor er die Opposition verlässt, „mit seinen Hufen, die mit Radekschen Nägeln beschlagen sind, Trotzki einen Tritt zu versetzen“. Alle diese Zitate sprechen für sich selbst. Nein, das Kapitulantentum war keine Kriegslist des „Trotzkismus“! Im Sommer 1929 besuchte mich in Konstantinopel das frühere Mitglied meines Kriegssekretariats, Blumkin, der sich damals in der Türkei befand. Als er nach Moskau zurückgekehrt war, sprach Blumkin von seiner Begegnung mit mir zu Radek. Radek verriet ihn sofort. Damals war die GPU noch nicht auf den „Terrorismus“ gekommen. Nichtsdestoweniger wurde Blumkin erschossen, ohne Prozess, in aller Heimlichkeit. Ich habe damals auf Grund von Briefen aus Moskau vom 25. Dezember 1929 folgendes im Bulletin veröffentlicht:

„Die nervöse Geschwätzigkeit Radeks ist allgemein gut bekannt. Heute ist er völlig demoralisiert, wie die meisten Kapitulanten ... Die letzten Reste eines sittlichen Gleichgewichts verloren, macht Radek vor keiner Scheußlichkeit halt.“

Weiter wird Radek ein „verwüsteter Hysteriker“ genannt. Die Korrespondenz erzählt ausführlich, wie „Blumkin sich nach dem Gespräch mit Radek verraten sah.“ In den Reihen der Trotzkisten wird Radek seitdem die odiöseste Figur: er ist nicht nur Kapitulant, sondern auch Verräter.

Nach sieben Jahren – ich muss hier vorauseilen – berichtet Radek in einem Artikel, in dem er für Sinowjew und die anderen den Tod fordert (Iswestija, 21. August 1936), ich hätte im Jahre 1929 Blumkin aufgetragen, „Überfälle auf Handelsvertretungen im Auslande zu organisieren, um Geld zu erbeuten, das benötigt wird (von mir) für die Antisowjetarbeit“. Ich will bei der Sinnlosigkeit dieses „Auftrages“ nicht verweilen: die Handelsvertretungen halten wohl ihr Geld nicht zu Hause, sondern in einer Bank!

Uns interessiert hier etwas anderes: Im August 1936 war Radek noch, wie er sagte, Mitglied des Trotzkistischen Zentrums. Während der vier Monate Haft hat er, nach seinen eigenen Worten vor Gericht, jegliche Teilnahme an der Verschwörung geleugnet, das heißt, nach der Charakteristik des Staatsanwalts, sich als hartnäckiger und eingefleischter Trotzkist gezeigt. Wozu hat er dann am 21. August 1936 – ohne dass es im geringsten nötig war – mich, den „Führer“ der Verschwörung, mit ungeheuerlichen und sinnlosen Verbrechen belastet? Soll doch jemand eine Erklärung finden, die in das Schema Wyschinskis hineinpasst. Ich persönlich lehne einen solchen Versuch ab. Die erbitterte Feindschaft zwischen Radek und der Opposition kann man noch weiter, von Jahr zu Jahr, verfolgen. Ich bin gezwungen, mich in der Auswahl der Illustrationen einzuschränken.

Dreizehn verbannte Oppositionelle in Kansk (Sibirien), die sich an das Präsidium des XVI. Parteitags der WKP (Juni 1930) mit einem Protest wenden, schreiben unter anderem:

„Das Kollegium der GPU der UdSSR verurteilte, auf Grund der verräterischen Mitteilung des Renegaten Karl Radek, den Genossen Blumkin, Mitglied der WKP bis in die letzten Tage, zur höchsten Strafe.“

Ein verbannter Oppositioneller charakterisiert im Bulletin der Opposition (Nr. 19, März 1931) die politische und moralische Zersetzung der Kapitulanten und vergisst nicht, hinzuzufügen:

„Im schnellsten Tempo verfault Radek. Nicht nur die Masse der Kapitulanten, sondern auch die führenden Kapitulanten anderer Gruppen geben offen zu verstehen, dass sie mit ihm weder politisch noch persönlich etwas zu tun haben wollen. Die Aufrichtigeren sagen direkt: ‚Radek hat die schmutzige Denunziantenrolle übernommen‘

„... Ich will nur“, fährt der Briefschreiber fort, „eine kleine, aber charakteristische Tatsache des Radekschen Zynismus mitteilen. Die Bitte, einem schwerkranken verbannten Bolschewiken zu helfen, lehnte Radek mit der Bemerkung ab: ‚Wird dann eher zurückkehren.‘

Misst mit seinem kurzen, schmutzigen Maß!“

Aus Moskau schreibt man dem Bulletin am 15. November 1931:

„An der ‚Front‘ der Kapitulanten keine Veränderungen. Sinowjew schreibt an einem Buch über die II. Internationale. Politisch existiert weder er noch Kamenew. Von den übrigen gar nicht zu reden. Eine Ausnahme bildet nur Radek. Dieser beginnt, eine ‚Rolle‘ zu spielen. Faktisch kommandiert Radek die Iswestija. Berühmt geworden ist er in seinem neuen Emploi als ‚persönlicher Freund Stalins‘, Spaß! Bei jeder Unterhaltung bemüht sich Radek, darauf anzuspielen, dass er mit Stalin auf intimem Fuße steht: ‚Gestern, als ich bei Stalin Tee trank‘ ...“ usw. usw. (Bulletin der Opposition, Nr. 25/26, November/Dezember 1931)

Wenn Radek, zum Unterschiede von den anderen Kapitulanten, irgendeine „Rolle“ zu spielen begann, so nur deshalb, weil er durch sein ganzes Benehmen das Vertrauen der Spitzen sich zurückerobert hatte. Ich will noch bemerken, dass die hier angeführte Korrespondenz aus Russland gerade in dem Augenblick veröffentlicht wurde, als ich, laut Anklage, die nötigen Maßnahmen traf, um Radek auf den Weg des Terrors zu locken. Wahrscheinlich untergrub ich mit der linken Hand, was ich mit der rechten tat.

Die Diskussion um Radek nahm internationalen Charakter an. So veröffentlichte die deutsche oppositionelle Gruppe „Leninbund“ eine Erklärung Radeks, Smilgas und Preobraschenskis und schlug mir vor, „unter gleichen Rechten“ meinerseits eine Erklärung abzugeben. Im Oktober 1929 antwortete ich der Leitung des Leninbundes:

„Ist das nicht ungeheuerlich? Ich verteidige in meiner Broschüre den Standpunkt der russischen Opposition. Radek, Smilga und Preobraschenski sind Renegaten, erbitterte Feinde der russischen Opposition, wobei Radek vor keiner Verleumdung zurückschreckt.“

Man kann in der Presse der linken Opposition der verschiedensten Sprachen aus jener Zeit nicht wenige entrüstete oder verächtliche Artikel und Glossen gegen Radek finden.

Der amerikanische Journalist Max Shachtman, einer meiner Gesinnungsgenossen, der in die inneren Beziehungen der russischen Opposition gut eingeweiht war, sandte mir aus New York am 13. März 1932 einige ältere Meinungsäußerungen Radeks über mich mit folgender Anmerkung:

„Angesichts des Stalinschen Chors, in dem heute auch Radek singt, wäre es vielleicht lehrreich, die kommunistischen Arbeiter daran zu erinnern, dass vor etwa zwölf Jahren, als der Kampf gegen den ‚Trotzkismus‘ noch keine einträgliche Beschäftigung war, Radek andere Lieder sang.“

„Im Februar 1932“, sagte Radek vor Gericht aus, „erhielt ich von Trotzki einen Brief ... Trotzki schrieb, dass er, da er mich als aktiven Menschen kenne, überzeugt sei, ich würde zum Kampfe zurückkehren.“

Am 24. Mai 1932, drei Monate nach diesem angeblichen Brief, schrieb ich einen Brief an Weisbord in New York:

„... Die geistige und moralische Zersetzung Radeks zeigt nicht nur, dass Radek nicht aus einem erstklassigen Material gemacht ist, sondern auch, dass das Stalinsche Regime sich nur entweder auf Beamte ohne eigene Persönlichkeit oder auf moralisch zersetzte Menschen stützen kann.“

Das war meine tatsächliche Einschätzung dieses „aktiven Menschen“! Im Mai 1932 druckte die deutsche liberale Zeitung Berliner Tageblatt in einer dem wirtschaftlichen Aufbau der Sowjetunion gewidmeten Sondernummer einen Artikel von Radek, in dem dieser zum hunderttausenden Male meinen Unglauben an die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande geißelte. „Diese These wird nicht nur von den offenen Feinden der Sowjetunion abgelehnt“, schrieb Radek, „sondern auch von Leo Trotzki bestritten.“ Ich antwortete ihm in einer Glosse im Bulletin (Nr. 28, Juli 1932): „Ein unernster Mensch über eine ernste Frage.“ Ich will daran erinnern, dass Radek gerade im Frühling jenes Jahres nach Genf kam, wo er angeblich durch Romm einen Brief von mir erhielt mit der Empfehlung, so schnell wie möglich die Sowjetführer auszurotten. Es stellt sich heraus, dass ich einem „unernsten Menschen“ einen recht „ernsten“ Auftrag erteilt hatte!

Im Laufe der Jahre 1933–1936 war meine Verbindung mit Radek, wenn man seinen Angaben glauben soll, von unzerreißbarem Charakter. Das hindert ihn nicht, zugunsten Stalins die Geschichte der Revolution mit aller Leidenschaft umzumodeln. Am 21. November 1935, drei Wochen vor dem „Fluge“ Pjatakows nach Oslo, berichtete Radek in der Prawda über seine Unterhaltung mit einem Ausländer:

„Ich erzählte ihm, wie der nächste Mitkämpfer Lenins, Stalin, die Organisierung der Fronten und die Ausarbeitung der strategischen Pläne, auf Grund derer wir gesiegt haben, leitete.“

Aus der Geschichte des Bürgerkrieges erwies ich mich auf diese Weise als gänzlich ausgeschlossen. Indes konnte der gleiche Radek auch anders schreiben. Ich habe schon seinen Artikel Leo Trotzki – der Organisator des Sieges (Prawda, 14. März 1923) erwähnt. Ich bin hier gezwungen, daraus zu zitieren: „Es war ein Mensch notwendig, der die Verkörperung des Aufrufes zum Kampfe bedeutete, der, sich der Notwendigkeit dieses Kampfes völlig unterwerfend, zur Glocke würde, die zu den Waffen ruft, zum Willen, der von allen unbedingte Unterwerfung unter die große blutige Notwendigkeit fordert. Nur ein Mensch, der so arbeitet wie Trotzki, nur ein Mensch, der sich selbst so wenig schont wie Trotzki, nur ein Mensch, der zum Soldaten so sprechen kann wie Trotzki sprach – nur ein solcher Mensch konnte zum Bannerträger des bewaffneten werktätigen Volkes werden. Er war alles in einer Person.“ Im Jahre 1923 war ich „alles“. Im Jahre 1935 wurde ich für Radek „nichts“. In einem umfangreichen Artikel im Jahre 1923 wird Stalin nicht erwähnt. Im Jahre 1935 ist er der „Organisator des Sieges“.

Radek verfügt also über zwei verschiedene Geschichten des Bürgerkrieges: eine für das Jahr 1923, eine andere für das Jahr 1935. Beide Varianten, unabhängig davon welche von ihnen richtig ist, charakterisieren fehlerlos sowohl den Grad der Wahrhaftigkeit Radeks wie seine Stellung zu mir und zu Stalin in verschiedenen Perioden. Sein Schicksal mit mir durch das Band der Verschwörung angeblich verknüpfend, schmähte und lästerte er mich unermüdlich, und umgekehrt, als er beschloss, Stalin zu ermorden, putzte er ihm sieben Jahre lang begeistert die Stiefel.

Aber auch das ist noch nicht alles. Im Januar 1935 werden Sinowjew, Kamenew und andere, im Zusammenhang mit der Ermordung Kirows, zu Jahren Gefängnis verurteilt. Vor Gericht legen sie ein Bekenntnis ab von ihrem Bestreben, „den Kapitalismus wieder herzustellen“. Im Bulletin der Opposition qualifizierte ich diese Anklage als grobe und sinnlose Fälschung. Wer erhob sich zur Verteidigung Wyschinskis? Radek!

„Es handelt sich nicht darum“, schrieb er in der Prawda, „ob der Kapitalismus das Ideal der Herren Trotzki und Sinowjew ist, sondern darum, dass wenn der Aufbau des Sozialismus in unserem Lande unmöglich ist ...“ usw.

Ich antwortete im Bulletin (Nr. 43, April 1935):

„Radek plaudert aus, dass Sinowjew und Kamenew keinerlei Verschwörungen anzettelten mit der Absicht, den Kapitalismus wieder herzustellen – entgegen dem, was der offizielle Bericht schamlos behauptete –, sondern dass sie, alles in allem, die Theorie vom Sozialismus in einem Lande ablehnten.“

Radeks Artikel vom Januar 1935 war ein natürliches Glied in der Kette seiner Verleumdungen gegen die Opposition, und eine Vorbereitung auf den Artikel vom August 1936: „Die Sinowjewistisch-trotzkistische Bande und ihr Hetman Trotzki.“ Dieser letztere Artikel wiederum war die Einleitung zu den gerichtlichen Aussagen Radeks im Januar 1937. Jede folgende Etappe resultierte logisch aus der vorangegangenen. Gerade deshalb würde niemand Radek glauben, wenn er auf dem Prozess nur als Zeuge der Anklage figuriert haben würde. Man musste Radek in einen Angeklagten verwandeln, über ihn das Damoklesschwert des Todesurteils hängen, damit seine Zeugenaussagen gegen mich Gewicht bekommen. Wie wurde die Verwandlung Radeks in einen Angeklagten erreicht – das ist eine besondere Frage, die im Wesentlichen in das Gebiet der Inquisitionstechnik gehört. Hier genügt uns die Tatsache, dass Radek auf der Anklagebank Platz genommen hat – nicht als mein gestriger Gesinnungsgenosse, Mitarbeiter und Freund, sondern als alter Kapitulant, als Verräter Blumkins, als demoralisierter Agent Stalins und der GPU, als der Treubrüchigste meiner Feinde.

Hier muss man die Frage erwarten: wie konnte sich, angesichts all dieser Dokumente und Tatsachen, die Regierung entschließen, Radek als Führer der Trotzkistischen Verschwörung hinzustellen? Diese Frage kann sich weniger auf Radek beziehen als auf den Prozess in seinem Gesamtkomplex. Radek ist mit den gleichen Methoden in einen Trotzkisten verwandelt worden, mit denen ich in einen Verbündeten des Mikado verwandelt wurde und aus den gleichen politischen Motiven. Kurz lässt sich die Frage so beantworten:

  1. Für das System der „Geständnisse“ eigneten sich nur Kapitulanten, die die lange Schule von Bekenntnissen, Erniedrigungen und Selbstverleugnungen durchgegangen sind;
     
  2. für die Rolle, die sie Radek zugewiesen haben, hatten die Organisatoren des Prozesses keinen passenderen Kandidaten und konnten keinen haben;
     
  3. die gesamte Spekulation der Organisatoren ist aufgebaut auf dem summarischen Effekt der öffentlichen Reuebekenntnisse und der Erschießungen, die die Stimme der Kritik ersticken sollten.

Das ist Stalins Methode. Das ist das heutige politische System der UdSSR. Das Beispiel Radek ist nur eine grelle Illustration.

 


Zuletzt aktualisiert am 10. Juni 2018