Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Pjatakows Flug nach Norwegen


Bereits am 24. Januar, am Tage nach Beginn des letzten Prozesses und nach der ersten Aussage Pjatakows, als man sich nur auf die kurzen Berichte der Telegraphenagenturen stützen konnte, schrieb ich in einem Kommuniqué für die Weltpresse:

„Wenn Pjatakow nach Oslo unter seinem eigenen Namen gekommen wäre, die gesamte norwegische Presse hätte das mitgeteilt. Folglich ist er unter einem fremden Namen gekommen. Unter welchem? Sämtliche höheren Sowjetwürdenträger im Auslande stehen in ständiger telefonischer und telegraphischer Verbindung mit ihren Gesandtschaften und Handelsvertretungen und können auch nicht für eine Stunde der Überwachung der GPU entgehen. Wie hätte Pjatakow seine Reise nach Norwegen ohne Wissen der Sowjetgesandtschaften in Deutschland und in Norwegen machen können? Er möge doch die Einrichtung meiner Wohnung beschreiben. Hat er meine Frau gesehen? Trug ich einen Bart oder nicht? Wie war ich angezogen? Der Eingang in mein Arbeitszimmer führte durch Knudsens Wohnung und unsere sämtlichen Bekannten, ohne Ausnahme, wurden der Familie Knudsen vorgestellt. Hat sie Pjatakow gesehen? Haben sie Pjatakow gesehen? Dies ist ein Teil jener präzisen Fragen, mit deren Hilfe es einem einigermaßen ehrlichen Gericht leicht wäre zu beweisen, dass Pjatakow nur Erfindungen der GPU wiederholt.“

Am 27. Januar 1937, am Tage vor der Anklagerede des Staatsanwalts, wandte ich mich bezüglich der angeblichen Begegnung Pjatakows mit mir in Norwegen vermittels der Telegraphenagenturen an das Moskauer Gericht mit dreizehn Fragen. Die Bedeutung meiner Fragen motivierte ich mit folgenden Worten:

„Es handelt sich um Aussagen Pjatakows. Er berichtete, dass er mich im Dezember 1935 in Norwegen zum Zwecke konspirativer Verhandlungen besucht hätte. Pjatakow sei angeblich aus Berlin nach Oslo mit einem Flugzeug gekommen. Die enorme Bedeutung dieser Aussage ist klar. Ich habe es mehr als einmal erklärt und erkläre es jetzt wieder, dass Pjatakow und Radek in den letzten neun Jahren keine Freunde von mir waren, sondern meine bösesten und skrupellosesten Feinde, und dass von Begegnungen und Gesprächen zwischen uns keine Rede sein konnte. Wenn es bewiesen wird, dass Pjatakow mich tatsächlich besucht hat, dann ist meine Position hoffnungslos kompromittiert. Dagegen, wenn ich beweise, dass die Erzählung über den Besuch von Anfang bis zu Ende erfunden ist, dann wird kompromittiert sein das System der freiwilligen Geständnisse ... Wenn man selbst annimmt, das Moskauer Gericht sei über jeden Verdacht erhaben, so bleibt unter Verdacht der Angeklagte Pjatakow. Seine Aussagen müssen unbedingt nachgeprüft werden. Das ist nicht schwer. Unverzüglich, solange Pjatakow nicht erschossen ist, muss man ihm die folgenden präzisen Fragen vorlegen.“

Ich will noch einmal betonen, dass die Fragen, die ich gestellt hatte, auf den ersten telegraphischen Meldungen fußten und deshalb in einigen nebensächlichen Details ungenau sind. Im Wesentlichen aber haben sie auch jetzt noch ihre Kraft behalten. Meine ersten Pjatakow betreffenden Fragen standen dem Gericht bereits am 25. Januar zur Verfügung. Spätestens am 28. Januar, das heißt an dem Tage, an dem der Staatsanwalt seine Anklagerede hielt, war das Gericht im Besitz meiner dreizehn Fragen. Spätestens am 26. Januar erhielt der Staatsanwalt telegraphisch die Nachricht, dass die norwegische Presse die Mitteilung von Pjatakows Flug kategorisch bestreitet. Die Rede des Staatsanwalts enthält sogar einen indirekten Hinweis darauf. Trotzdem wurde nicht eine meiner dreizehn konkret formulierten Fragen dem Angeklagten vorgelegt, für den der Staatsanwalt die Erschließung forderte. Der Staatsanwalt hat den Versuch, zu dem er verpflichtet war, nämlich die Hauptaussage des Hauptangeklagten nachzuprüfen, um damit vor der ganzen Welt unwiderruflich die Anklage gegen mich und die anderen zu bekräftigen, nicht unternommen. Wären mein Telegramm aus Oslo und meine telegraphischen Fragen nicht gewesen, man würde noch von Unachtsamkeit, Versäumnis, geistiger Unfähigkeit des Staatsanwalts und der Richter sprechen können. Unter den geschilderten Umständen kann von einem Irrtum des Gerichts nicht die Rede sein. Der Staatsanwalt wie der Gerichtsvorsitzende sind bewusst den Fragen ausgewichen, die sich aus den Aussagen Pjatakows unvermeidlich ergaben. Sie widersetzten sich der Nachprüfung, nicht darum, weil diese unmöglich war – im Gegenteil, sie war sehr einfach! –, sondern weil sie nach ihrer ganzen Rolle die Nachprüfung nicht zulassen konnten. Im Gegenteil, sie beeilten sich, Pjatakow zu erschießen. Aber die Nachprüfung wurde ohne sie vorgenommen. Sie hat absolut und unzweifelhaft die Aussage des Hauptangeklagten zur Hauptfrage widerlegt und damit den gesamten Anklageakt umgestürzt.

Heute besitzen wir den sogenannten „stenographischen“ Prozessbericht von der Gerichtsverhandlung gegen Pjatakow und die anderen. Das aufmerksame Studium der Vernehmung Pjatakows und des Belastungszeugen Bucharzew ergibt an und für sich, dass in diesem restlos abgekarteten, gefälschten und lügenhaften Verhandlungsdialog die Aufgabe des Staatsanwalts darin bestand, Pjatakow zu helfen, ohne allzu viel Albernheiten jene phantastische Version darzustellen, die ihm die GPU aufgezwungen hatte. Wir wollen darum in unserer Analyse zwei Wege einschlagen: zuerst auf Grund des offiziellen Berichts die innere Verlogenheit der Vernehmung Pjatakows durch Wyschinski nachweisen, und dann objektive Tatsachen dafür erbringen, dass Pjatakows Flug und seine Begegnung mit mir ein Ding der Unmöglichkeit sind. Auf diese Weise werden wir nicht nur das Lügenhafte des Hauptzeugnisses des Hauptangeklagten aufdecken, sondern auch die Beteiligung des Staatsanwalts Wyschinski und der Richter an der Fälschung enthüllen.

*

„In der ersten Dezemberhälfte“ 1935 will Pjatakow seine mysteriöse Reise nach Oslo über Berlin gemacht haben. Eine Art Vermittler bei der Organisierung der Reise spielte Bucharzew, der Korrespondent der Iswestija in Berlin, ähnlich wie Romm, der Korrespondent der Iswestija in Washington der Vermittler zwischen mir und Radek war. Seltsamerweise hat die Regierungszeitung zu ihren Korrespondenten an den wichtigsten internationalen Punkten „trotzkistische“ Verbindungsagenten gewählt. Wäre es nicht richtiger, zu sagen: GPU-Agenten? Pjatakows Erklärung, dass „Bucharzew mit Trotzki in Verbindung stand“, ist reinste Erfindung. Sowohl von Bucharzew wie von Romm wusste ich nicht das Geringste, und zwar weder persönlich noch literarisch. Die Iswestija sehe ich fast nie und ausländische Korrespondenzen lese ich in der Sowjetpresse überhaupt nicht.

Es liegt kein Grund vor, daran zu zweifeln, dass Pjatakow am 10. Dezember 1935 tatsächlich in amtlichen Angelegenheiten nach Berlin gekommen war. Diese Tatsache ist leicht auf Grund der deutschen und der sowjetrussischen Presse nachzuprüfen, die sicherlich den Tag der Ankunft Pjatakows in der deutschen Hauptstadt und den Tag seiner Rückkehr nach Moskau vermerkt hat. [1] Die GPU war gezwungen, die angebliche Reise Pjatakows nach Oslo seiner tatsächlichen Reise nach Berlin anzupassen: daher die Wahl eines so unglücklichen Monats wie Dezember.

In Berlin traf sich Pjatakow sofort („am gleichen oder am nächsten Tage“, das heißt am 11. oder 12.), wie er aussagte, mit Bucharzew. Dieser hätte mich angeblich schon im Voraus von der bevorstehenden Ankunft Pjatakows benachrichtigt gehabt. Durch einen Brief? Durch ein chiffriertes Telegramm? Welchen Inhalts? An welche Adresse? Niemand bringt Bucharzew mit solchen Fragen in Verlegenheit. Adressen und Daten werden in diesem Gerichtssaal wie die Pest gemieden. Nachdem ich die Benachrichtigung von Bucharzew erhalten hatte, schickte ich meinerseits unverzüglich eine Vertrauensperson nach Berlin mit einem Zettel: „J.L., dem Überbringer dieses Zettels kann man absolut vertrauen.“ Das Wort „absolut“ war unterstrichen ... Dieses nicht sehr originelle Detail muss uns, wie wir sehen werden, für den Mangel anderer, wesentlicherer Mitteilungen entschädigen. Mein Bote, mit dem Namen „so etwas wie Heinrich oder Gustav“ (Pjatakows Aussage), übernahm die Organisierung der Reise nach Oslo. Die Begegnung Heinrich-Gustavs mit Pjatakow fand am 11. oder 12. im Tiergarten statt und dauerte im ganzen „anderthalb bis zwei Minuten“. Ein zweites kostbares Detail! ... Pjatakow erklärte sich einverstanden, nach Oslo zu reisen, obwohl, wie er zweimal wiederholt, „dies für mich mit dem größten Risiko verbunden ist, entdeckt und überführt zu werden“. In der russischen Ausgabe fehlen diese Worte, und zwar nicht zufällig. Die Aufsicht unter der die sowjetrussischen Würdenträger im Auslande stehen, ist sehr streng. Pjatakow hatte keine Möglichkeit gehabt, für zweimal vierundzwanzig Stunden sich aus Berlin zu entfernen, ohne den Sowjetorganen mitzuteilen, wohin er reist und ohne eine Adresse zu hinterlassen, unter der er zu erreichen wäre. Als Mitglied des ZK und der Regierung konnte Pjatakow jeden Moment irgendeinen Auftrag aus Moskau erhalten. Die in dieser Beziehung bestehenden Regeln sind dem Staatsanwalt und den Richtern sehr gut bekannt. Außerdem hatte ich schon am 24. Januar das Gericht telegraphisch befragt: „Auf welche Weise konnte Pjatakow seine Reise ohne Wissen der Sowjetvertretungen in Deutschland und in Norwegen machen?“ Am 27. Januar wiederholte ich: „Wie war es Pjatakow möglich, sich vor den Sowjetvertretungen in Berlin und Oslo zu verbergen? Wie hat er sein Verschwinden nach der Rückkehr motiviert?“ Niemand hat selbstverständlich dem Angeklagten mit diesen Fragen zugesetzt.

Pjatakow vereinbarte mit Heinrich-Gustav eine Zusammenkunft „für den nächsten Tag“ (12. oder 13) morgens auf dem Flugplatz Tempelhof. Der Staatsanwalt, der in Fragen, die nicht von Bedeutung sind und keiner Nachprüfung unterliegen, mitunter große Genauigkeit fordert, interessiert sich nicht im geringsten für die Präzisierung von außerordentlich wichtigen Daten. Indes wäre es möglich gewesen, nach dem Journal der Handelsvertretung in Berlin mühelos den Arbeitskalender Pjatakows festzustellen. Das aber gerade musste vermieden werden ... „Am nächsten Tag, am frühen Morgen, erschien ich beim Eingang zum Flugplatz.“ Am frühen Morgen? Wir hätten gerne die Stunde gewusst. In solchen Fällen wird die Stunde vorher fixiert. Aber Pjatakows Inspiratoren fürchten offenbar, sich gegen den meteorologischen Kalender zu vergehen. Am Flugplatz traf Pjatakow den Heinrich-Gustav.

„Er stand vor dem Eingang und führte mich hinein. Zuerst zeigte er einen Pass, der für mich vorbereitet war. Es war ein deutscher Pass. Alle Zollformalitäten erledigte er selbst, so dass ich nur meine Unterschrift zu leisten hatte. Wir setzten uns ins Flugzeug und flogen davon ...“

Sogar hier unterbricht keiner den Angeklagten. Der Staatsanwalt interessiert sich, so unwahrscheinlich das ist, für die Passfrage nicht. Ihm genügt, dass es ein „deutscher“ Pass war. Aber deutsche Pässe, wie alle anderen in der Welt, werden auf Namen ausgestellt. Auf welchen nun? Nomina sunt odiosa. Der Staatsanwalt ist nur darum besorgt, Pjatakow die Möglichkeit zu verschaffen, so schnell es geht an diesem heiklen Punkt vorbeizugleiten. „Zollformalitäten?“ Die hat Heinrich-Gustav erledigt. Pjatakow hatte nur nötig, die „Unterschrift zu leisten“. Es sollte scheinen, dass hier der Staatsanwalt nun die Frage nicht umgehen könnte, welchen Namen Pjatakow geschrieben habe. Doch wohl den, der im deutschen Pass stand. Aber den Staatsanwalt interessiert es nicht. Es schweigt auch der Gerichtsvorsitzende. Es schweigen die Richter. Kollektive Vergesslichkeit infolge Übermüdung? Aber ich hatte ja rechtzeitig Maßnahmen ergriffen, um das Gedächtnis dieser Herren aufzufrischen. Schon am 24. Januar habe ich das Gericht gefragt, unter welchen Namen ist Pjatakow nach Oslo geflogen? Drei Tage später bin ich auf diesen Punkt zurückgekommen. Die vierte der dreizehn Fragen, die ich gestellt hatte, lautet: „Mit welchem Pass ist Pjatakow von Berlin nach Oslo geflogen? Hatte er ein norwegisches Visum gehabt?“ Meine Fragen haben die Zeitungen der ganzen Welt nachgedruckt. Wenn Wyschinski trotzdem Pjatakow die Pass- und Visumfragen nicht stellte, so war er sich also dessen bewusst, dass man darüber schweigen muss. Dieses Schweigen allein genügt vollkommen, um zu sagen, hier liegt eine Fälschung vor!

Folgen wir aber Pjatakow weiter:

„Wir setzten uns ins Flugzeug und flogen davon, es wurde nirgendwo Station gemacht und gegen drei Uhr nachmittags landeten wir auf dem Flugplatz in Oslo. Dort stand ein Automobil. Wir setzten uns in dieses Automobil und fuhren los. Wir fuhren etwa dreißig Minuten und kamen in einen Villenvorort. Wir stiegen aus, betraten ein Häuschen, das nicht schlecht eingerichtet war, und dort erblickte ich Trotzki, den ich seit 1928 nicht gesehen hatte.“

Verrät diese Erzählung nicht restlos einen Menschen, der nichts zu erzählen hat? Kein lebendiger Strich! „Setzten uns ins Flugzeug und flogen davon ...“ „Setzten uns ins Automobil und fuhren los ...“ Pjatakow hat nichts gesehen, mit keinem gesprochen. Er kann nichts über Heinrich-Gustav mitteilen, der ihn aus Berlin bis vor meine Türe begleitete.

Wie war die Landung? Ein ausländisches Flugzeug musste doch das Interesse der norwegischen Flugbehörde erweckt haben? Sie hat doch die Pässe Pjatakows und seiner Reisebegleiter kontrollieren müssen? Wir vernehmen auch darüber kein Wort. Die Reise geschieht gleichsam im Traumlande, wo Menschen lautlos huschen, ohne von Polizei- und Zollbeamten belästigt zu werden. In dem „nicht schlecht eingerichteten Häuschen“ erblickte Pjatakow Trotzki, den er „seit 1928 nicht gesehen hatte“. (In Wirklichkeit seit Ende 1927.) Unmittelbar nach diesen Gemeinplätzen folgt die ebenso sich in allgemeinen Redensarten bewegende Schilderung einer Unterhaltung, die geradezu extra für ein Polizeiprotokoll bestimmt war. Ähnelt denn das dem Leben und lebenden Menschen? Nach dem Sinn des Amalgams war ja Pjatakow zu mir als Gesinnungsgenosse gekommen, als Freund, nach einer langen Trennung. Einige Jahre, etwa von 1923 bis 1928, standen wir uns wirklich recht nahe, Pjatakow kannte meine Familie und fand seitens meiner Frau stets herzlichen Empfang. Er musste offenbar ein ganz besonderes Vertrauen zu mir behalten haben, wenn er nach einem Brief von mir sich in einen Terroristen, Saboteur und Defätisten verwandelte, und auf das erste Signal hin mit dem Einsatz seines Kopfes zu mir geflogen kam. Man musste unter diesen Umständen annehmen, dass Pjatakow, nach achtjähriger Trennung, das elementarste Interesse für mich bezeugt hätte. Davon nicht die Spur. Wo fand die Begegnung statt? In meiner Wohnung oder in einem fremden Hause? Das erfahren wir nicht. Wo war meine Frau? Erfahren wir nicht. Auf die Frage des Staatsanwalts antwortet Pjatakow, bei unserer Zusammenkunft sei kein Dritter dabei gewesen, sogar „Heinrich-Gustav“ war hinter der Türe geblieben. Das ist alles! Indes hätte doch Pjatakow nach der äußeren Situation, nach meinem Schreibtisch, nach dem Vorhandensein russischer Bücher und Zeitungen leicht feststellen können, ob er sich in meinem Arbeitszimmer oder in einem fremden Räume befand. Ich meinerseits hätte doch gar keinen Grund gehabt, diese harmlosen Umstände vor dem befreundeten Gast zu verheimlichen, dem ich meine verborgensten Pläne und Absichten anvertraute. Pjatakow hätte mich doch nach meiner Frau fragen müssen. Am 24. Januar stellte ich die Frage: „Hat er meine Frau gesehen?“ Am 27. wiederholte ich: „Hat Pjatakow meine Frau gesehen? War sie an diesem Tage zu Hause?“ (Die Reise meiner Frau zu einem Arzt nach Oslo ist leicht nachzuprüfen.) Aber um keine Nachprüfung zuzulassen, haben ja eben Pjatakows Lehrmeister ihm elastische Formeln und nichtssagende Redewendungen beigebracht – aus Vorsicht. Jedoch verrät gerade diese Vorsicht die Fälschung vom anderen Ende. Das Flugzeug sei um drei Uhr nachmittags gelandet, den 12. oder 13. Dezember. Pjatakow sei bei mir etwa um halb vier Uhr eingetroffen. Das Gespräch dauerte annähernd zwei Stunden. Mein Gast war doch sicherlich hungrig. Habe ich ihm etwas angeboten? Es sollte scheinen, das hätte die elementarste Gastfreundschaft erfordert. Ich aber hätte dies ohne die Hilfe meiner Frau oder der Wirtin des „nicht schlecht eingerichteten Häuschens“ nicht gemacht haben können. Darüber vor Gericht kein Wort. Pjatakow verließ mich um halb sechs Uhr abends. Wohin hat er sich mit dem deutschen Pass in der Tasche aus dem Villenvorort begeben? Der Staatsanwalt fragt ihn danach nicht. Wo hat er die Dezembernacht verbracht? Doch wohl kaum unter freiem Himmel? Noch weniger ist anzunehmen, dass er in der Sowjetgesandtschaft übernachtete. Wohl auch nicht in der deutschen. Also im Hotel? Aber in welchem? Unter den dreizehn Fragen, die ich dem Gericht stellte, ist auch diese: „Pjatakow hat unvermeidlich in Norwegen übernachten müssen. Wo? In welchem Hotel?“ Der Staatsanwalt hat danach den Angeklagten nicht gefragt. Der Vorsitzende schwieg.

Wenn zu mir ein alter Freund gekommen wäre und dazu noch der Komplize einer Verschwörung, müsste ich doch, wie jeder andere an meiner Stelle, alles getan haben, um den Gast vor unangenehmen Überraschungen und überflüssiger Gefahr zu schützen. Nach der zweistündigen Unterredung hätte ich ihm zu essen geben und um sein Nachtquartier mich sorgen müssen. Eine so kleine Mühe hätte mir wohl keine sonderlichen Schwierigkeiten bereiten können, wo ich doch in der Lage war, ohne weiteres eine „Vertrauensperson“ nach Berlin zu beordern und zum Flugplatz ein Sonderautomobil zur Ankunft des Sonderflugzeuges zu entsenden. Um sich nicht in einem Hotel oder in den Straßen Oslos zu zeigen, hätte ja Pjatakow ein natürliches Interesse daran gehabt, bei mir zu übernachten. Nach der langen Trennung hätten war ja auch genügend miteinander zu sprechen gehabt! Aber die GPU fürchtete diese Variante, denn Pjatakow müsste sich in diesem Falle in Einzelheiten meines Daseins einlassen. Lieber an der Lebensprosa vorüber huschen In Wirklichkeit lebte ich bekanntlich bei Oslo nicht in einem Villenvorort, sondern in einem entlegenen Dorfe; nicht dreißig Minuten vom Flugplatz entfernt, sondern mindestens zwei Stunden, besonders im Winter, wo man Ketten um die Wagenräder spannen muss. Nein, lieber vergessen: Nahrung, Dezembernacht, Gefahr einer Begegnung mit Menschen aus der Sowjetgesandtschaft. Lieber schweigen. Wie früher, unterwegs, so ähnelt Pjatakow auch in Norwegen einem körperlosen Schatten aus einem Traum. Mögen Dummköpfe diesen Schatten für eine Realität halten!

Aus der Vernehmung des Zeugen Bucharzew, des Korrespondenten der Iswestija, erfahren wir nicht unwichtige ergänzende Details über die Reise. „Heinrich-Gustav“ hieß, stellt sich heraus, Gustav Stirner. Dieser Name sagt mir absolut nichts, wenn auch Stirner, nach Bucharzews Bericht, meine Vertrauensperson war.

Jedenfalls erachtete es mein geheimnisvoller Bote als notwendig, sich dem Zeugen des Staatsanwalts genau vorzustellen. Werden wir in einem späteren Prozess dem Stirner aus Fleisch und Blut begegnen? Oder ist er ein reines Phantasieprodukt? Ich weiß es nicht. Der deutsche Name lässt einiges vermuten. In gewissen Momenten versuchte Pjatakow seine Zusammenkunft mit mir fast wie eine traurige Notwendigkeit zu schildern: der Selbsterhaltungstrieb brach immerhin schüchtern durch die Geständnisse der Angeklagten durch. Nach Bucharzews Worten verhielt sich die Sache dagegen anders: als er von meiner Einladung erfuhr, sagte Pjatakow, er sei sehr froh, das entspreche ganz seinen Absichten und er werde gerne dieses Rendezvous annehmen. Welch unmotivierte Expansivität seitens eines Konspirators! Doch der Ankläger braucht sie. Die Aufgabe des Zeugen besteht darin, die Schuld des Angeklagten zu erschweren, während die Aufgabe des Angeklagten darin besteht, die Hauptlast der Schuld auf mich abzuwälzen. Schließlich besteht die Aufgabe des Staatsanwalts darin, die Lügen der beiden für seine Zwecke auszubeuten.

Vom Standpunkt der Verschwörung und sogar nur der Luftreise nach Oslo erscheint Bucharzew als ganz überflüssige Person; sogar Wyschinski ist gezwungen, wie wir sehen werden, dies einzugestehen. Gustav Stirner aber, falls er auf der Erde existiert, ist offenbar für den Staatsanwalt unerreichbar. Wenn es aber den Stirner nicht gibt, dann gibt es auch keinen Zeugen. Die Schilderung, wie Pjatakow in das Flugzeug eingestiegen und wie er später ausgestiegen, müsste sich in diesem Falle auf Pjatakow allein stützen. Das wäre zu wenig. Wenn der vom Staatsanwalt geladene Bucharzew am Gang der Handlungen auch nicht teilnimmt, so erfüllt er doch die Funktion des „Boten“ in der klassischen Tragödie: er meldet die hinter der Bühne sich abspielenden Ereignisse. So versäumte Pjatakow nicht, am. Vorabend seiner Rückkehr aus Berlin nach Moskau (an welchem Datum?) dem Boten mitzuteilen, dass er „dort war und ihn gesehen hat“. Bucharzew geht das alles eigentlich nichts an. Indem er unnötigerweise einem Dritten Mitteilungen machte, beging Pjatakow einen Akt verbrecherischen Leichtsinns. Doch hatte er nicht anders handeln können, ohne Bucharzew die Möglichkeit zu verschaffen, nützlicher Zeuge der Anklage zu sein.

An dieser Stelle erinnert sich der Staatsanwalt plötzlich einer Versäumnis. „Haben Sie Ihre Photographie gegeben?“ fragt er unvermittelt Pjatakow, die Vernehmung Bucharzews unterbrechend. Wyschinski ähnelt einem Schüler, der aus einem Gedicht eine Zeile ausgelassen hat. Pjatakow antwortet lakonisch: „Ja.“ Es handelt sich wohl um die Photographie für den Pass. Eine Photographie muss auf jedem Pass sein, auch auf einem deutschen. Indem er auf diese Weise seine Wachsamkeit bewies, riskierte der Staatsanwalt nichts. Über Namen und Visum schweigt er natürlicherweise auch diesmal. Dann nimmt sich der Hüter des Gesetzes wieder Bucharzew vor. „Ist Ihnen bekannt, wo Stirner den Pass hernahm? Wo er das Flugzeug hernahm? Ist denn das in Deutschland so leicht zu machen?“ Bucharzew antwortet, dass Stirner sich auf Einzelheiten nicht einließ und ihn, Bucharzew, bat, sich keine Sorgen zu machen – eine der wenigen Antworten, die natürlich und vernünftig klingen. Der Staatsanwalt aber gibt keine Ruhe.

Wyschinski: „Haben Sie sich denn dafür nicht interessiert?“

Bucharzew: „Er hat mir nichts gesagt; er wollte auf keine Details eingehen.“

Wyschinski: „Hat es Sie nicht dennoch interessiert?“

Bucharzew: „Er hat mir doch nicht geantwortet.“

Wyschinski: „Aber Sie haben versucht, ihn danach zu fragen?“

Bucharzew: „Ich habe versucht, aber er antwortete mir nicht.“

Und so weiter in gleicher Weise. Doch wir unterbrechen hier den lehrreichen Dialog, um den Staatsanwalt selbst zu verhören.

„Sie, Herr Ankläger, haben soeben nach der Photographie für den Pass gefragt? Der Pass aber selbst interessierte Sie nicht? Der Untersuchungsrichter hat Pjatakow darüber nicht vernommen? Sie haben ebenfalls vergessen, Ihre Pflicht zu erfüllen? Zweimal: am 24. und am 27. Januar habe ich Sie telegraphisch daran erinnert. Sie haben meine Frage nicht beachtet? Sie haben sich auch für meine Adresse nicht interessiert, nicht für meine Wohnung, für meine Lebensverhältnisse? Sie fragten nicht, wo Pjatakow übernachtete? Wer ihm das Hotel empfohlen hatte? Wie er sich dort eingetragen hat? Verdienen alle diese Umstände Ihre Aufmerksamkeit tatsächlich nicht? Bucharzew konnte sich doch mindestens damit ausreden, dass Gustav Stirner ihn in seine Geheimnisse nicht eingeweiht hat. Sie, Herr Vertreter der Justiz, können sich dieser Ausrede nicht bedienen, denn Pjatakow hat keine Geheimnisse vor dem Staatsanwalt. Pjatakow schweigt nur darüber, worüber ihm zu schweigen befohlen ist. Aber auch Sie, Herr Staatsanwalt, sind nicht zufällig Ihren direkten Pflichten ausgewichen: Pjatakow aus der vierten Dimension zurückzuholen, auf die sündige Erde, mit ihren Zollämtern, Restaurants, Hotels und anderen beschwerlichen Details. Sie haben über all das geschwiegen, weil Sie – einer der Hauptorganisatoren der Fälschung sind!“

Wyschinski kann sich nicht beruhigen: „Und das Flugzeug?“

Bucharzew: „Ich fragte ihn (Stirner): ‚Wie wird Pjatakow fahren können?‘ Er sagte, ein Sonderflugzeug werde ihn nach Oslo und von dort zurückbringen.“

Stirner, stellt sich heraus, ist gar nicht so schweigsam. Er hätte doch dem zudringlichen Bucharzew sagen können: „Das geht Sie nichts an; Pjatakow weiß selbst, was er zu tun hat.“ Aber Stirner hatte offenbar nicht vergessen, dass vor ihm ein Bote aus der Tragödie steht; deshalb teilte er ihm mit, dass Pjatakow mit einem „Sonderflugzeug“ gesandt werden würde; mit anderen Worten, er gab zu verstehen: das Flugzeug stellt die deutsche Regierung zur Verfügung. Wyschinski nutzt sofort die programmgemäß vorbereitete Indiskretion Stirner-Bucharzews aus: „Aber die Reise im Flugzeug über die Grenze hat doch nicht Trotzki organisiert?“ Bucharzew antwortet mit vielsagender Bescheidenheit: „Das weiß ich nicht.“ Wyschinski: „Und das Flugzeug? Sie sind doch ein erfahrener Journalist; es muss Ihnen doch bekannt sein, dass es nicht so einfach ist, aus einem Staat in den anderen über die Grenze zu fliegen?“ (Leider, leider vergisst es der Staatsanwalt selbst, wenn es sich um die Landung des Flugzeugs, um den Pass, das Visum, die Übernachtung im Hotel usw. handelt!) Bucharzew kommt dem Staatsanwalt einen Schritt entgegen: „Ich habe das so verstanden, dass er, Stirner, das alles durch deutsche offizielle Persönlichkeiten machen kann.“ Was zu beweisen war!

Als komme ihm etwas in den Sinn, sagt Wyschinski plötzlich: „Konnte man bei dieser Sache nicht ohne Sie auskommen? Wozu haben Sie an dieser Operation teilgenommen?“ Die gefährliche Frage ist zu dem Zweck gestellt, Bucharzew die Möglichkeit zu geben, vor Gericht zu erzählen, wie Radek „seinerzeit“ (wann denn?) ihm, dem „Trotzkisten“, angekündigt hatte, er werde verschiedene Aufträge auszuführen haben, und ihm gleichzeitig mitgeteilt, „dass Pjatakow ein Mitglied des Zentrums ist“. Also: Radek hat alles vorausgesehen und für jeden Fall den künftigen Zeugen mit den nötigen Informationen ausgerüstet. Wie dem auch sei. Dank Bucharzew erfahren wir endlich, dass Pjatakow nicht nur nach Oslo mit dem „Sonderflugzeug“ flog, sondern auch auf dem gleichen Wege nach Berlin zurückkehrte. Diese außerordentlich wichtige Mitteilung bedeutet, dass das Flugzeug nicht etwa nur für wenige Minuten gelandet war, sondern den Rest des Tages und die ganze Nacht, das heißt nicht weniger als 15 Stunden auf dem Flugplatz in Oslo blieb. Offenbar hat es sich dort auch mit Benzin versorgt. Wie wir gleich sehen werden, erweist Bucharzews Mitteilung uns einen größeren Dienst als dem Staatsanwalt. Wir kommen dicht an den Knotenpunkt der Aussage Pjatakows und des ganzen Prozesses heran.

Die konservative norwegische Zeitung Aftenposten hat sofort nach Pjatakows Aussagen eine Auskunft vom Flugplatz eingeholt und schon in ihrer Abendausgabe vom 25. Januar veröffentlicht, dass im Dezember 1935 in Oslo kein einziges ausländisches Flugzeug angekommen ist. Diese Nachricht hat selbstverständlich sofort die Runde um die Welt gemacht. Wyschinski war gezwungen, auf diese unangenehme Nachricht aus Oslo zu reagieren. Er tat es auf seine Manier. In der Gerichtssitzung vom 27. fragte der Staatsanwalt Pjatakow, ob er auch wirklich auf einem norwegischen Flugplatze gelandet sei und auf welchem? Pjatakow antwortet: „Bei Oslo.“ Einen Namen weiß er nicht. Ob es nicht irgendwelche Schwierigkeiten bei der Landung gegeben habe?

Pjatakow, stellt sich heraus, ist zu sehr erregt gewesen und hat nichts Besonderes wahrgenommen. Wyschinski: „Sie bestätigen, dass Sie auf einem Flugplatz bei Oslo gelandet sind?“ Pjatakow: „In der Nähe von Oslo. Ich erinnere mich dessen gut.“ Wer könnte auch eine solche Sache vergessen! Danach verliest der Staatsanwalt ein Dokument, das viele Zeitungen milde mit dem Wort „überraschend“ bezeichnet haben, und zwar einen Bericht der Sowjetvertretung in Norwegen, der bestätigt, „dass ... der Flugplatz Kjeller bei Oslo, den internationalen Regeln entsprechend, das ganze Jahr für Flugzeuge anderer Länder geöffnet ist und dass Landungen und Abflüge auch in den Wintermonaten möglich sind“. Nichts mehr! Der Staatsanwalt bittet, sein wertvolles Dokument zu den Gerichtsakten zu nehmen. Die Frage ist erschöpft!

Nein, die Frage beginnt erst. Die norwegischen Quellen behaupteten ja gar nicht, dass der Flugzeugverkehr in Norwegen im Winter unmöglich sei. Ist es aber die Aufgabe des Moskauer Gerichts, ein meteorologisches Nachschlagewerk für Flieger aufzustellen? Die Frage steht viel konkreter: Ist im Dezember 1935 in Oslo ein ausländisches Flugzeug angekommen oder nicht? Konrad Knudsen, Mitglied des Storthings, sandte am 29. Januar 1937 folgendes Telegramm nach Moskau:

„Staatsanwalt Wyschinski, Oberstes Militärkollegium, Moskau. Teile Ihnen mit, dass heute offiziell bestätigt wurde, dass im Dezember 1935 kein ausländisches oder privates Flugzeug auf dem Flugplatz Oslo landete. Als Hauswirt Leo Trotzkis bestätige ich ferner, dass im Dezember 1935 eine Unterhaltung zwischen Trotzki und Pjatakow in Norwegen nicht stattgefunden haben kann. Konrad Knudsen, Mitglied des Parlaments.“

Am gleichen Tage, den 29. Januar, unternahm das Arbeiterbladet, die Zeitung der Regierungspartei, eine neue Untersuchung über das „Sonderflugzeug“. Es sei hier erwähnt, dass diese Zeitung nicht nur meine Internierung durch die norwegische Regierung gutgeheißen, sondern auch während meiner Haft äußerst gehässige Artikel gegen mich gedruckt hat. Ich führe die Meldung des Arbeiterbladet wörtlich an:

Wundersame Reise Pjatakows nach Kjeller

Pjatakow hält sein Geständnis aufrecht, dass er im Dezember 1935 mit einem Flugzeug nach Norwegen gekommen und auf dem Flugplatz Kjeller gelandet sei. Das Russische Kommissariat des Auswärtigen stellte eine Untersuchung an, die dazu dienen sollte, die Aussage zu bestätigen. Der Flugplatz Kjeller hat schon früher die Mitteilung kategorisch bestritten, dass im Dezember 1935 dort ein ausländisches Flugzeug gelandet sei. Gleichzeitig teilte Konrad Knudsen, Mitglied des Parlaments und Wohnungswirt Trotzkis, seinerseits mit, dass Trotzki in dieser Zeit überhaupt keinen Besuch gehabt hat.

Arbeiterbladet wandte sich heute trotzdem nochmals an den Flugplatz Kjeller, und Direktor Gulliksen, mit dem wir gesprochen haben, bestätigte uns, dass im Dezember 1935 kein einziges ausländisches Flugzeug in Kjeller gelandet ist. „Während dieses Monats war nur ein Flugzeug auf dem Flugplatz heruntergegangen, und zwar ein norwegisches Flugzeug, das aus Linköping gekommen war. Doch hatte dieses Flugzeug keine Passagiere.

Direktor Gulliksen hat, bevor er uns diese Mitteilung machte, eine Revision des Buches, in dem die täglichen Zollprotokolle eingetragen werden, vorgenommen, und auf unsere diesbezügliche Frage fügte er hinzu, es sei völlig ausgeschlossen, dass irgendein Flugzeug landen könne, ohne entdeckt zu werden.

Die ganze Nacht befindet sich auf dem Flugplatz eine Militärpatrouille.

„Wann ist das letzte mal vor Dezember 1935 ein ausländisches Flugzeug in Kjeller gelandet?“ fragte unser Mitarbeiter Herrn Direktor Gulliksen.

„Am 19. September. Es war ein englischer Apparat, G.A.Z.S.F., der aus Kopenhagen gekommen war. Er war vom englischen Flieger Herrn Robertson gesteuert, den ich sehr gut kenne.“ „Und nach dem Dezember 1935, wann kam dann das erste ausländische Flugzeug nach Kjeller?“ „Am 1. Mai 1936.“

„Mit anderen „Worten: aus den Büchern des Flugplatzes ergibt sich, dass zwischen dem 19. September 1935 und dem 1. Mai 1936 kein einziges ausländisches Flugzeug in Kjeller gelandet ist?“ „Ja.“

Um gar keinen Zweifeln Raum zu lassen, wollen wir die offizielle Bestätigung des Zeitungsinterviews anführen. Auf eine Anfrage meines norwegischen Advokaten antwortete der selbe Direktor des einzigen Flugplatzes in Oslo, Herr Gulliksen, am 12. Februar:

Flugplatz Kjeller

Kjeller, den 14. II. 1937.

Direktion

Herrn Rechtsanwalt Andreas Steilen
E. Slotgate 8, Oslo

In Beantwortung Ihres Briefes vom 10. d. M., teile ich Ihnen mit, dass meine Erklärung im Arbeiterbladet richtig wiedergegeben ist. Ergebenst

 

Gulliksen

Mit anderen Worten: wenn wir der GPU einen Kredit für Pjatakows Flug nicht auf 31 Tage (Dezember), sondern auf volle 224 Tage (19. September bis 1. Mai) geben, kann Stalin auch dann seine Lage nicht retten. Die Frage betreffend Pjatakows Flug nach Oslo ist damit, hoffe ich, für alle Ewigkeit erschöpft. Am 29. Januar war das Urteil noch nicht gesprochen. Die Mitteilungen Knudsens und des Arbeiterbladet waren Tatsachen von so ausnehmender Bedeutung, dass sie eine Nachuntersuchung erforderten. Aber die Moskauer Themis ist nicht von der Art, dass sie den Tatsachen erlaubt, sie in ihrem Lauf aufzuhalten.

Es ist höchst wahrscheinlich – und fast mit Sicherheit anzunehmen –, dass man Pjatakow und Radek bei den Vorverhandlungen versprochen hatte, ihnen das Leben zu schenken. Die Erfüllung dieses Versprechens war in Bezug auf Pjatakow, den angeblichen „Organisator“ der angeblichen „Sabotage“, überhaupt nicht leicht. Wenn aber bei Stalin in dieser Hinsicht noch irgendwelche Schwankungen bestanden, so mussten die Mitteilungen aus Oslo ihnen ein Ende bereiten. Am 29. Januar habe ich durch die Presse erklärt:

„Die ersten Untersuchungsschritte in Norwegen haben dem Deputierten Knudsen ermöglicht, festzustellen, dass im Dezember in Oslo überhaupt kein ausländisches Flugzeug angekommen ist ... Ich befürchte sehr, dass die GPU sich beeilen wird, Pjatakow zu erschießen, um weiteren unbequemen Fragen zuvorzukommen und die künftige internationale Untersuchungskommission zu hindern, von Pjatakow präzise Erklärungen zu verlangen.“

Am nächsten Tage, den 30. Januar, wurde Pjatakow zum Tode verurteilt, am 1. Februar – erschossen.

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Durch die Vermittlung der gelben norwegischen Zeitung Tidens-Tijn, den amerikanischen Presseerzeugnissen Hearsts verwandt, versuchten die Freunde der GPU dem Fluge Pjatakows eine neue Version zu verleihen. Vielleicht ging das deutsche Flugzeug nicht auf dem Flugplatz nieder, sondern auf einem zugefrorenen Fjord? Vielleicht hat Pjatakow Trotzki nicht in dem Villenvorort bei Oslo, sondern im Walde besucht? Nicht in dem „nicht schlecht eingerichteten“ Häuschen, sondern in einer Waldhütte? Nicht dreißig Minuten, sondern drei Fahrstunden von Oslo entfernt? Vielleicht ist Pjatakow nicht mit einem Automobil angekommen, sondern mit Schlitten oder Skiern? Vielleicht war die Zusammenkunft nicht am 12.–13., sondern am 21. bis 22. Dezember? Diese Schöpfung ist nicht schlechter und nicht besser als die Versuche, die Kopenhagener Konditorei für das Hotel Bristol auszugeben. Die Hypothesen Tidens-Tijn haben den Fehler, dass sie von den Aussagen Pjatakows nichts übrig lassen und gleichzeitig an den Tatsachen zerschellen. Die Widerlegung dieser Phantasien ist bereits durch die norwegische Presse erfolgt, insbesondere durch die liberale Zeitung Dagblat, und zwar auf Grund der Nachprüfung der wichtigsten Tatsachen, das heißt der Zeit- und der Ortumstände. Der Deputierte Konrad Knudsen hat die verspäteten Erfindungen in den Spalten des gelbesten Blattes, das inzwischen ein Orakel der Komintern geworden ist, einer nicht weniger vernichtenden Kritik unterzogen. Ich will hier noch hinzufügen, dass der dänische Schriftsteller Andersen Nexö, der sich durch einen glücklichen Zufall (wie Pritt, wie Duranti und manche andere) während des Prozesses gerade in Moskau aufgehalten und mit „eigenen Ohren“ die Geständnisse Pjatakows angehört hat, Anfang März extra nach Oslo kam, um einen Vortrag zu halten. Ob Nexö Russisch versteht, ist gleichgültig; es genügt, dass der skandinavische Ritter der Wahrheit an der Richtigkeit der Aussagen Pjatakows „nicht zweifelt“. Wenn Romain Rolland auf sich die erniedrigende Mission nahm, die vom völligen Verlust des moralischen und psychologischen Feingefühls zeugt, warum soll das nicht auch Herr Nexö tun? Die Demoralisation, die die GPU in die Mitte eines gewissen Teiles der radikalen Schriftsteller und Politiker der ganzen Welt hinein trägt, hat wahrhaft bedrohliche Dimensionen angenommen. Welche Methoden die GPU in jedem individuellen Falle anwendet, will ich hier nicht untersuchen. Es ist zur Genüge bekannt, dass diese Methoden nicht immer ideologischer Art sind (davon hat schon vor längerer Zeit mit dem ihm eigenen Zynismus der irländische Schriftsteller O’Flaherty erzählt). Einer der Gründe meines Bruches mit Stalin und seinen Mitkämpfern war, nebenbei gesagt, die seit 1924 praktizierten Bestechungen der in der europäischen Arbeiterbewegung stehenden Männer. Ein indirektes, aber äußerst wichtiges Resultat der Arbeit der Kommission wird, hoffe ich, die Reinigung der radikalen Reihen von „linken“ Sykophanten sein, von politischen Parasiten, „revolutionären“ Höflingen und jenen Herren, die Freunde der UdSSR bleiben, solange sie Freunde des Staatsverlags sind oder einfach Pensionäre der GPU.


Anmerkung

1. Das Berliner Tageblatt vom 21. Dezember 1935 berichtet:

„Zur Zeit hält sich in Berlin der erste Stellvertretende Volkskommissar für Schwerindustrie der UdSSR, Herr Pjatakow, auf, ebenso der Leiter der Import-Verwaltung des Kommissariats für Außenhandel der UdSSR, Herr Smolenski, der über Aufträge mit einer Reihe deutscher Firmen Verhandlungen führt.“

 


Zuletzt aktualisiert am 10. Juni 2018