Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Die Theorie der „Maskierung“


Einige „Juristen“ von jener Art, die Mücken seihen und Kamele schlucken, möchten den Einwand machen, meine Korrespondenz besitze keine „juristische“ Beweiskraft, da noch immer für die Annahme Raum bleibt, sie wurde mit dem beabsichtigten Ziele geführt, meine wirklichen Gedanken und Handlungen zu maskieren. Dieses Argument, entnommen der banalen Kriminalpraxis, eignet sich absolut nicht für einen politischen Prozess von grandiosem Maßstabe. Zum Zwecke der Maskierung kann man fünf, zehn, hundert Briefe schreiben. Man kann aber nicht während einer Reihe von Jahren über die verschiedensten Fragen, mit den verschiedensten Menschen, nahe und fern stehenden, eine intensive Korrespondenz führen, mit dem einzigen Zweck: alle und jeden zu täuschen. Man muss zu den Briefen die Bücher und Artikel hinzuzählen. Auf „Maskierung“ kann man die Kräfte und die Zeit verwenden, die nach der Hauptarbeit übrig bleiben. Jedoch ununterbrochen eine riesige Korrespondenz führen kann man nur, wenn man an ihrem Inhalt und an ihren Folgen tief interessiert ist. Gerade deshalb widerspiegeln die zahllosen, vom Geiste des Proselytismus durchdrungenen Briefe das wahre Gesicht des Autors und keinesfalls eine vorübergehend angenommene Maske.

Als Zeuge in Sachen des misslungenen Überfalls der Faschisten auf meine Archive am 21. Dezember 1936 in Norwegen auftretend, führte ich ein Beispiel aus dem Gebiete der Religion an. Bringen wir hier ein Beispiel aus dem Gebiete der Kunst. Nehmen wir an, jemand erklärt, Diego Rivera sei ein Geheimagent der katholischen Kirche. Wenn ich an einer Kommission zur Untersuchung dieser Verleumdung teilnehmen würde, würde ich zuerst allen an dieser Frage Interessierten empfehlen, die Fresken Riveras zu betrachten: man kann wohl kaum einen leidenschaftlicheren und intensiveren Ausdruck des Hasses gegen die Kirche finden. Mag dann ein Jurist zu erwidern versuchen: Vielleicht hat Rivera seine Fresken mit der Absicht gemacht, um seine wahre Rolle zu maskieren?

Um Verbrechen zu maskieren (ich spreche diesmal von Verbrechen der GPU), kann man, mit Hilfe eines gedungenen Apparates, eine Anklageschrift fabrizieren, eine Reihe monotoner Geständnisse erpressen und auf Staatskosten einen „stenographischen“ Prozessbericht drucken. Die inneren Widersprüche und die Plumpheit der Mache enthüllen an sich genügend die bestellte bürokratische „Schöpfung“. Ohne Überzeugung und ohne intellektuelle Leidenschaft lassen sich aber nicht gigantische Fresken malen, die in der Sprache der Kunst die Unterjochung des Menschen durch den Menschen geißeln, oder eine lange Reihe von Jahren unter den Schlägen des Feindes Ideen der Weltrevolution entwickeln. Man kann nicht zum Zwecke der Maskierung wissenschaftliche, künstlerische oder politische Arbeiten mit „Herzblut und Nervensaft“ (Börne) tränken. Menschen, die eine Ahnung von schöpferischer Arbeit haben, überhaupt ernste und feinfühlige Menschen, werden verächtlich über die bürokratische und „juristische“ Kasuistik lachen und zur Tagesordnung übergehen. Wollen wir schließlich die unparteiische Arithmetik zur Sache heranholen. Der Inhalt meiner verbrecherischen Arbeit, wie er sich aus den Zeugenaussagen in den beiden Prozessen ergibt, ist der folgende: drei Zusammenkünfte in Kopenhagen, zwei Briefe an Mratschkowski und die anderen, drei Briefe an Radek, ein Brief an Pjatakow, einer an Muralow, eine Zusammenkunft mit Romm von 20 bis 25 Minuten Dauer, eine Zusammenkunft mit Pjatakow von zwei Stunden. Alles! Insgesamt haben mich Unterredungen und Korrespondenz mit den Verschwörern, nach deren eigenen Aussagen, 12 bis 13 Stunden gekostet. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich verloren habe auf die Zusammenkünfte mit Hess und den japanischen Diplomaten. Rechnen wir noch zwölf Stunden. Zusammen wird das kaum drei Arbeitstage ausmachen. Für die acht Jahre meiner letzten Verbannung kann ich etwa 2920 Arbeitstage ausrechnen. Dass ich diese Zeit nicht nutzlos vergeudet habe, beweisen die Bücher, die ich in diesen Jahren herausgab, die zahllosen Artikel und noch zahlreicheren Briefe, die nach Umfang und Charakter sich Artikeln nähern. Wir kommen somit zu einer recht paradoxen Schlussfolgerung: Im Laufe von 2917 Arbeitstagen schrieb ich Bücher, Artikel, Briefe, führte Unterhaltungen, die der Verteidigung des Sozialismus, der proletarischen Revolution und dem Kampfe gegen Faschismus und Reaktion überhaupt gewidmet waren. Aber drei Tage – ganze drei Tage – widmete ich der Verschwörung im Interesse des Faschismus. Meinen Büchern und Artikeln, die im Geiste der kommunistischen Revolution geschrieben sind, haben sogar die Gegner gewisse Qualitäten nicht abgesprochen. Dagegen zeichnen sich, nach dem Moskauer Bericht, meine Briefe und die mündlichen Direktiven – die von Interesse für den Faschismus inspiriert sind – durch äußerste Dummheit aus. In den zwei Zweigen meiner Tätigkeit, der offenen und der geheimen, macht sich somit eine außerordentliche Disproportion bemerkbar. Die offene, das heißt die heuchlerische Tätigkeit, die zur Maskierung dienende, überwog die geheime, das heißt die „wirkliche“, fast tausendfach quantitativ und, ich wage es zu hoffen, auch qualitativ. Es entsteht der Eindruck, als habe ich einen Wolkenkratzer aufgebaut, um eine krepierte Ratte zu „maskieren“. Nein, das ist nicht überzeugend!

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Das gleiche bezieht sich auch auf die Zeugenaussagen. Selbstverständlich habe ich im Kreise politischer Freunde gelebt und Beziehungen hauptsächlich, obwohl nicht ausschließlich, mit meinen Gesinnungsgenossen unterhalten. Man kann unschwer einen Versuch machen, die Aussagen meiner Zeugen als parteiisch („ex parte“) abzulehnen.

Ein solcher Versuch muss jedoch von vornherein als unzulänglich erkannt werden. In ungefähr dreißig Ländern bestehen heute größere oder kleinere Organisationen, die entstanden sind und sich entwickelt haben, besonders in den letzten acht Jahren, in enger Verbindung mit meinen theoretischen Arbeiten und politischen Artikeln. Hunderte von Mitgliedern dieser Organisationen sind mit mir in persönliche Korrespondenz getreten, haben mit mir diskutiert und mich bei der ersten Möglichkeit besucht. Jeder von ihnen hat dann seine Eindrücke mit Dutzenden und manchmal mit Hunderten anderer geteilt. Also handelt es sich nicht um irgendeine abgeschlossene Gruppe, die Familienegoismus oder Gemeinsamkeit materieller Interessen verbindet, sondern um eine breite internationale Bewegung, die sich ausschließlich von ideologischen Quellen nährt. Man muss noch hinzufügen, dass in allen diesen dreißig Organisationen all diese Jahre ein intensiver geistiger Kampf vor sich gegangen ist, der häufig zu Spaltungen und Ausschlüssen führte. Das innere Leben dieser Organisationen hat wiederum in Bulletins, Zirkularbriefen und polemischen Artikeln seinen Ausdruck gefunden. An all dieser Arbeit habe ich aktiv teilgenommen. Es fragt sich nun: hat die internationale Organisation der „Trotzkisten“ von meinen „wahren“ Plänen und Absichten (Terrorismus, Krieg, Niederlage der UdSSR, Faschismus) gewusst? Wenn ja, dann ist es ganz unerklärlich, wieso dieses Geheimnis nicht bekannt geworden ist (aus Unvorsichtigkeit oder aus böser Absicht), besonders wenn man die vielen Konflikte und Spaltungen berücksichtigt. Wenn nicht, so bedeutet das, dass es mir gelungen ist, eine wachsende internationale Bewegung ins Leben zu rufen, und zwar auf Grund von Ideen, die in Wirklichkeit gar nicht meine Ideen waren, sondern mir nur zur Maskierung gerade entgegengesetzter Ideen gedient haben. Aber eine solche Annahme ist doch ein zu großer Unsinn! Nun sei noch hinzugefügt, dass ich vorschlage, Dutzende von Menschen als Zeugen zu laden, die mit der Trotzkistischen Organisation gebrochen haben oder aus ihr ausgeschlossen wurden und heute meine politischen Gegner, teils recht erbitterte, sind. Für diese breiten Maßstäbe – die Quantität geht auch hier in Qualität über – den engen Begriff ex parte anzuwenden, heißt, im Namen des Schattens die Realität aus den Augen zu verlieren.

 


Zuletzt aktualisiert am 10. Juni 2018