Leo Trotzki

 

Verteidigung des Marxismus

 

Von einer Schramme – zur Gefahr der Knochenfäule

 

(2. Teil)

 

Das abstrakte und das konkrete, Ökonomie und Politik

Der kläglichste Abschnitt in Shachtmans kläglichem Opus ist das Kapitel Der Staat und der Charakter des Krieges. „Welche Haltung haben wir?“, fragt der Verfasser. „Einfach folgende: Es ist unmöglich, unsere Politik in einem bestimmten Krieg aus einer abstrakten Charakterisierung des Klassencharakters des in den Krieg verwickelten Staates direkt herzuleiten, genauer, aus den Eigentumsformen, die in diesem Staat herrschen. Unsere Politik muß sich aus der konkreten Untersuchung des Charakters des Krieges in Beziehung zu den Interessen der internationalen sozialistischen Revolution ergeben.“ (Ebenda, S.13, Hervorhebungen von mir). Was für ein Wirrwarr! Was für ein Durcheinander von Spitzfindigkeiten! Wenn es unmöglich ist, unsere Politik direkt aus dem Klassencharakter des Staates herzuleiten, warum kann man das nicht indirekt tun? Warum muß die Analyse des Charakters eines Staates abstrakt sein, während doch die Analyse des Charakters des Krieges konkret ist? Formal gesprochen kann man mit gleichem Recht, tatsächlich mit weit mehr Recht, sagen, daß unsere Politik in bezug auf die UdSSR nicht aus einer abstrakten Charakterisierung des Krieges als „imperialistisch“ hergeleitet werden kann, sondern nur aus einer konkreten Analyse des Charakters des Staates in einer bestimmten historischen Situation. Die grundlegende Spitzfindigkeit, auf der Shachtman alles andere aufbaut, ist einfach genug: Da ja die ökonomische Basis die Ereignisse in ihrem Überbau nicht unmittelbar bestimmt, da ja die bloße Charakterisierung der Klassen des Staates nicht ausreicht, um die praktischen Auf gaben zu lösen, daher ... daher können wir ohne Untersuchung der Ökonomie und der Klassennatur des Staates auskommen. Wir ersetzen sie, wie Shachtman es in seinem journalistischen Jargon ausdrückt, durch die „Realitäten der lebendigen Ereignisse“ (ebenda, S.14).

Genau die gleiche List, die von Shachtman dazu angewendet wurde, um seinen philosophischen Block mit Burnham zu rechtfertigen (der dialektische Materialismus bestimmt nicht unsere Politik unmittelbar, folglich ... berührt er im allgemeinen nicht die „konkreten politischen Aufgaben“), wird hier in Beziehung zur marxistischen Soziologie Wort für Wort wiederholt: Da ja die Eigentumsformen die Politik eines Staates nicht unmittelbar bestimmen, kann man also die marxistische Soziologie überhaupt über Bord werfen, wenn man die „konkreten politischen Aufgaben“ bestimmt.

Aber warum hier aufhören? Weil das Gesetz des Arbeitswertes nicht „direkt“ und „unmittelbar“ den Preis bestimmt; weil die Gesetze der natürlichen Auslese nicht „direkt“ und „unmittelbar“ die Geburt des Ferkels veranlassen; weil die Gesetze der Schwerkraft den Sturz eines betrunkenen Polizisten eine Treppe hinunter nicht „direkt“ und „unmittelbar“ bestimmen, deswegen ... deswegen wollen wir Marx, Darwin und Newton und die anderen Liebhaber von „Abstraktionen“ in den Regalen verstauben lassen. Das ist nichts weniger als das feierliche Begräbnis der Wissenschaft, denn schließlich schreitet die gesamte Entwicklung der Wissenschaft, von den „direkten“ und „unmittelbaren“ Ursachen weiter Zu den entfernteren und tieferen, von mannigfaltiger Buntheit und kaleidoskopischen Ereignissen zur Einheit der treibenden Kräfte.

Das Gesetz des Arbeitswertes bestimmt die Preise nicht „unmittelbar“, aber trotzdem bestimmt es sie. Solch „konkrete“ Erscheinungen wie der Bankrott des New Deal finden ihre Erklärung in der endgültigen Analyse des „abstrakten“ Wertgesetzes. Roosevelt weiß das nicht, aber ein Marxist soll es nicht wagen zu handeln, ohne es zu kennen. Nicht unmittelbar, sondern über eine ganze Reihe von vermittelnden Faktoren und ihren gegenseitigen Wechselwirkungen bestimmen die Eigentumsformen nicht nur die Politik, sondern auch die Moral. Ein proletarischer Politiker, der die Klassennatur eines Staates nicht beachten will, würde immer enden wie der Polizist, der die Gesetze der Schwerkraft nicht beachtet, nämlich indem er auf die Nase fällt.

Shachtman berücksichtigt offensichtlich nicht den Unterschied zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten. Obwohl sich unser Verstand um konkrete Dinge bemüht, arbeitet er mit Abstraktionen. Sogar „dieser“ „gegebene“, „konkrete“ Hund ist eine Abstraktion, weil er sich laufend verändert, zum Beispiel, indem er gerade in dem „Augenblick“ mit dem Schwanz wedelt, wo wir mit dem Finger auf ihn zeigen. Konkretheit ist ein relativer Begriff, kein absoluter: Was im einen Fall konkret ist, kann im anderen abstrakt sein, das bedeutet, für einen bestimmten Zweck unzulänglich abgegrenzt. Um ein Konzept zu erhalten, das für einen bestimmten Bedarf „konkret“ genug ist, muß man mehrere Abstraktionen durch Wechselbeziehung zu einer einzigen zusammenfassen – genau wie man eine Anzahl unbewegter Bilder aneinandersetzen muß, um ein Stück Leben auf der Kinoleinwand zu inszenieren, bei dem es sich um ein Bild in Bewegung handelt.

Das Konkrete ist eine Zusammenfassung von Abstraktionen – keine willkürliche oder subjektive Zusammensetzung, sondern eine, die mit den Bewegungsgesetzen einer bestimmten Erscheinung in Einklang steht.

„Die Interessen der internationalen sozialistischen Revolution“, auf die Shachtman sich gegen die Klassennatur des Staates beruft, stellt in diesem gegebenen Fall die verschwommenste aller Abstraktionen dar. Trotz allem ist die Frage, die uns beschäftigt, genau die, auf welche konkrete Weise wir die Interessen der Revolution fördern können. Auch wäre es nicht verfehlt, daran zu erinnern, daß die Aufgabe der sozialistischen Revolution die Schaffung eines Arbeiterstaates ist. Bevor man über die sozialistische Revolution spricht, muß man folglich zu unterscheiden lernen zwischen solchen „Abstraktionen“ wie Bourgeoisie und Proletariat, Kapitalistenstaat und Arbeiterstaat.

Shachtman vergeudet tatsächlich seine Zeit und die anderer Leute damit zu beweisen, daß das nationalisierte Eigentum nicht „in und durch sich selbst“, „automatisch“, „direkt“, „unmittelbar“ die Politik des Kremls bestimmt. Zu der Frage, wie die ökonomische „Basis“ den politischen, jurisitschen, philosophischen, künstlerischen usw. „Überbau“ bestimmt, gibt es eine reichhaltige marxistische Literatur. Die Ansicht, daß die Ökonomie wahrscheinlich direkt und unmittelbar die schöpferische Kraft eines Komponisten oder gar das Urteil eines Richters bestimmt, entspricht einem alten Zerrbild des Marxismus, das das bürgerliche Professorentum aller Länder seit undenklichen Zeiten verbreitet, um seine geistige Impotenz zu verdecken. [1]

In bezug auf die Frage, die uns unmittelbar betrifft, die Wechselbeziehung zwischen den sozialen Grundlagen des Sowjetstaates und der Politik des Kremls, möchte ich den zerstreuten Shachtman daran erinnern, daß wir bereits vor siebzehn Jahren öffentlich den wachsenden Widerspruch aufgezeigt haben zwischen den Grundlagen, die die Oktoberrevolution gelegt hat, und den Tendenzen des Staats-„Überbaus“. Wir haben die zunehmende Unabhängigkeit der Bürokratie vom sowjetischen Proletariat und ihre zunehmende Abhängigkeit von anderen Klassen und Gruppen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes Schritt für Schritt verfolgt. Was will Shachtman in diesem Bereich der bereits gemachten Analyse hinzufügen?

Obwohl die Ökonomie die Politik nicht direkt oder unmittelbar bestimmt, sondern nur letzten Endes, bestimmt die Ökonomie trotzdem nichtsdestoweniger die Politik. Genau das behaupten die Marxisten im Gegensatz zu den bürgerlichen Professoren und ihren Schülern. Während wir die wachsende politische Unabhängigkeit der Bürokratie vom Proletariat untersucht und bloßgelegt haben, haben wir niemals die objektiven sozialen Grenzen dieser „Unabhängigkeit“ aus den Augen verloren, nämlich das nationalisierte Eigentum, ergänzt durch das Außenhandelsmonopol.

Es ist erstaunlich! Shachtman unterstützt weiterhin die Losung der politischen Revolution gegen die Sowjetbürokratie. Hat er jemals ernsthaft die Bedeutung dieser Losung durchdacht? Wenn wir der Meinung sind, daß die sozialen Grundlagen, die die Oktoberrevolution geschaffen hat, „automatisch“ in der Politik des Staates widergespiegelt werden, warum soll dann eine Revolution gegen die Bürokratie notwendig sein? Wenn die UdSSR andererseits vollkommen aufgehört hat, ein Arbeiterstaat zu sein, wäre nicht eine politische, sondern eine soziale Revolution nötig. Shachtman verteidigt weiterhin die Losung, die erstens aus dem Charakter der UdSSR als Arbeiterstaat und zweitens aus dem unversöhnlichen Antagonismus zwischen den sozialen Grundlagen des Staates und der Bürokratie folgt. Aber während er diese Losung wiederholt, versucht er ihr theoretisches Fundament zu untergraben. will er vielleicht wieder einmal die Unabhängigkeit der Politik von den wissenschaftlichen „Abstraktionen“ vorführen?

Unter dem Vorwand, einen Kampf gegen das bürgerliche Zerrbild des dialektischen Materialismus zu führen, öffnet Shachtman dem historischen Idealismus Tor und Tür. Eigentumsformen und Klassencharakter des Staates sind für ihn gleichgültig bei der Untersuchung der Politik einer Regierung. Der Staat erscheint ihm als ein geschlechtsloses Tier. Mit beiden Füßen fest in diesem Bett aus Kükenfedern erklärt Shachtman uns hochtrabend – heute, im Jahr 1940! –, daß es außer dem nationalisierten Eigentum auch den bonapartistischen Schmutz und seine reaktionäre Politik gibt. Wie neu! Dachte Shachtman vielleicht, daß er in einem Kindergarten spricht?

 

 

Shachtman bildet einen Block – auch mit Lenin

Um zu verschleiern, daß er nicht verstehen kann, was am Problem der Natur des Sowjetstaates wesentlich ist, stürzt Shachtman sich auf Lenins Worte, die er am 30. Dezember 1920 während der sogenannten Gewerkschaftsdebatte gegen mich richtete. „Gen. Trotzki spricht vom ‚Arbeiterstaat‘. Mit Verlaub, das ist eine Abstraktion ... Wir haben in Wirklichkeit nicht einen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat.“ Während Shachtman auf dieses Zitat hinweist und eilig verkündet, daß ich meinen Fehler von 1920 wiederholt hätte, bemerkt er in seiner Überstürzung einen größeren Irrtum nicht, der die Definition der Natur des Sowjetstaates betrifft. Am 19. Januar schrieb Lenin selbst über seine Rede am 30. Dezember:

„Ich sagte: ‚Wir haben in Wirklichkeit nicht einen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat.‘ ... Beim Lesen des Berichts über die Diskussion sehe ich nun, daß ich unrecht ... hatte. Ich hätte sagen sollen: ‚Der Arbeiterstaat ist eine Abstraktion. In Wirklichkeit haben wir nämlich einen Arbeiterstaat, erstens mit der Besonderheit, daß im Lande nicht die Arbeiter-, sondern die Bauernbevölkerung überwiegt; und zweitens haben wir einen Arbeiterstaat, mit bürokratischen Auswüchsen.‘“

Aus diesem Abschnitt sind zwei Schlußfolgerungen zu ziehen: Lenin maß der genauen soziologischen Definition des Staates eine so große Bedeutung bei, daß er es für notwendig hielt, sich mitten in der Hitze einer Polemik zu berichtigen! Aber Shachtman ist so wenig an der Klassennatur des Sowjetstaates interessiert, daß er zwanzig Jahre später weder Lenins Fehler noch Lenins Berichtigung bemerkt!

Ich werde mich hier nicht bei der Frage aufhalten, mit welchem Recht Lenin sein Argument gegen mich richtete. Ich glaube, er tat es zu Unrecht – es gab unter uns über die Frage der Definition des Staates keine unterschiedlichen Meinungen. Aber darum geht es hier nicht. Die theoretische Formulierung der Frage des Staates, die Lenin in dem Zitat oben gibt – in Verbindung mit der wichtigen Berichtigung, die er selbst einige Tage später hinzufügte –, ist vollkommen richtig. Aber wir wollen hören, welch unglaublichen Gebrauch Shachtman von Lenins Definition macht: „Genau wie es vor zwanzig Jahren möglich war“, schreibt er, „von dem Ausdruck ‚Arbeiterstaat‘ als Abstraktion zu sprechen, so kann man vom Ausdruck ‚degenerierter Arbeiterstaat‘ als Abstraktion sprechen.“ (New International, Januar 1939, S.14) Es ist klar, Shachtman versteht Lenin überhaupt nicht. Vor zwanzig Jahren konnte der Ausdruck „Arbeiterstaat“ keineswegs im allgemeinen als Abstraktion betrachtet werden, d.h. als etwas Nicht-Wirkliches und Nicht-Existierendes. Während die Definition „Arbeiterstaat“ an und für sich richtig war, war sie im bezug auf die besondere Aufgabe unzureichend, nämlich die Verteidigung der Arbeiter durch ihre Gewerkschaften, und nur in dieser Hinsicht war sie abstrakt. In bezug auf die Verteidigung der UdSSR war jedoch genau dieselbe Definition 1920 wie heute unerschütterlich konkret, indem sie die Arbeiter verpflichtete, den gegebenen Staat zu verteidigen.

Shachtman stimmt nicht zu. Er schreibt: „Genau wie man einst in Zusammenhang mit der Gewerkschaftsfrage konkret darüber sprechen mußte, welche Art von Arbeiterstaat in der UdSSR besteht, so muß man in Verbindung mit dem gegenwärtigen Krieg den Grad der Degenerierung des Regimes feststellen ... Und der Grad der Degenerierung des Regimes kann nicht festgestellt werden, indem man auf das Bestehen von nationalisiertem Eigentum hinweist, sondern nur, indem man die Realität“ (!) „der lebendigen“ (!) „Ereignisse“ (!) „beobachtet.“ Von da aus ist es gänzlich unverständlich, warum 1920 die Frage nach dem Charakter der UdSSR, zusammen mit den Gewerkschaften angeführt wurde, d.h. mit den besonderen, internen Fragen des Regimes, während sie heute zusammen mit der Verteidigung der UdSSR angeführt wird, das bedeutet, zusammen mit dem ganzen Schicksal des Staates. Im ersten Fall wird der Arbeiterstaat den Arbeitern gegenübergestellt, im letzteren – den Imperialisten. Kein Wunder, daß die Analogie auf beiden Beinen hinkt. Was Lenin gegeneinanderstellt, setzt Shachtman gleich.

Wenn wir aber trotzdem Shachtmans Worte für bare Münze nehmen, so folgt, daß die Frage, mit der er sich beschäftigt, nur der Grad der Degenerierung ist (wovon? Arbeiterstaates?); das bedeutet, quantitative Unterschiede in der Einschätzung. Angenommen, Shachtman habe den “Grad“ genauer berechnet als wir (wo?). Aber wie kann rein quantitativer Unterschied in der Einschätzung der Degenerierung des Arbeiterstaates unsere Entschlossenheit beeinträchtigen, die UdSSR zu verteidigen? Es ist unmöglich, daraus schlau zu werden. In Wirklichkeit hat Shachtman, der seinem Eklektizismus, d.h. sich selbst, treubleibt, die Frage nach dem „Grad“ nur hereingezogen, um das Gleichgewicht zwischen Abern und Burnham zu halten. Augenblicklich geht es nicht um den Grad, der durch „die Realität der lebendigen Ereignisse“ bestimmt wird, (was für eine genaue, “wissenschaftliche“, „konkrete“, „ auf Erfahrung gegründete Ausdrucksweise!) sondern darum, ob diese quantitativen Veränderungen in qualitative umgeschlagen sind; d.h. ob die UdSSR noch ein Arbeiterstaat ist, wenn auch ein degenerierter, oder ob sie zu einem neuen Typ des Ausbeuterstaates geworden ist.

Auf diese grundlegende Frage weiß Shachtman keine Antwort! Er hält sie auch nicht für nötig. Sein Argument ist nur verbale Nachäfferei von Lenins Worten, die in anderem Zusammenhang geäußert wurden, einen anderen Inhalt hatten und einen regelrechten Irrtum enthielten. Lenin erklärt in der berichtigten Fassung: „... wir haben nicht einen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchse.“ Shachtman erklärt: „Wir haben nicht nur einen degenerierten Arbeiterstaat, sondern...“ ... sondern? Shachtman hat nichts weiter zu sagen. Beide, Redner und Zuhörerschaft, starren einander an, die Münder weit geöffnet.

Was bedeutet „degenerierter Arbeiterstaat“ in unserem Programm? Auf diese Frage antwortet unser Programm mit einer Konkretheit, die völlig ausreicht, um die Frage der Verteidigung der UdSSR zu lösen, nämlich: (1) Jene Merkmale, die 1920 „bürokratische Auswüchse“ des Sowjetsystems waren, sind nun zu einem unabhängigen bürokratischen Regime geworden, das die Sowjets verschlungen hat; (2) die Diktatur der Bürokratie, die mit den internen und internationalen Aufgaben des Sozialismus unvereinbar ist, hat tiefgreifende Auswüchse auch im ökonomischen Leben des Landes herbeigeführt und tut es weiterhin; (3) im Grunde jedoch ist das System der Planwirtschaft, auf der Grundlage des staatlichen Eigentums an den Produktionsmitteln, beibehalten worden und bleibt weiterhin eine großartige Errungenschaft der Menschheit. Die Niederlage der UdSSR in einem Krieg mit dem Imperialismus würde nicht nur die Auslöschung der bürokratischen Diktatur bedeuten, sondern die Auslöschung der staatlichen Planwirtschaft, die Zerstückelung des Landes in Einflußsphären, eine neue Stabilisierung des Imperialismus und eine neue Schwächung des Weltproletariats.

Daraus, daß die „bürokratische“ Deformierung in ein Regime der bürokratischen Selbstherrschaft hinübergewachsen ist, ziehen wir den Schluß, daß die Verteidigung der Arbeiter durch ihre Gewerkschaften (die die gleiche Deformierung erlitten haben, wie der Staat) heute, im Gegensatz zu 1920, vollkommen unrealistisch ist. Man muß die Bürokratie stürzen. Diese Aufgabe kann nur durch die Schaffung einer illegalen bolschewistischen Partei in der UdSSR erfüllt werden.

Daraus, daß die Degenerierung des politischen Systems noch nicht zur Zerstörung der staatlichen Planwirtschaft geführt hat, ziehen wir den Schluß, daß es immer noch die Pflicht Weltproletariats ist, die UdSSR gegen den Imperialismus zu verteidigen und dem sowjetischen Proletariat in seinem Kampf gegen die Bürokratie zu helfen.

Aber was genau findet Shachtman an unserer Definition der UdSSR abstrakt? Welche konkreten Verbesserungen schlägt er vor? Wenn die Dialektik uns lehrt, „Wahrheit ist immer konkret“, dann gilt dieses Gesetz mit gleicher Stärke für die Kritik. Es reicht nicht aus, eine Definition abstrakt zu nennen. Man muß ihre Mängel aufzeigen. Sonst wird die Kritik selbst unfruchtbar. Anstatt die Definition, die, wie er behauptet, abstrakt ist, zu konkretisieren oder zu verändern, ersetzt Shachtman sie durch ein Vakuum. Das ist nicht genug, Ein Vakuum, selbst das anspruchsvollste Vakuum, muß als die schlimmste aller Abstraktionen erkannt werden – es kann mit überhaupt keinem Inhalt gefüllt werden. Kein Wunder. daß das theoretische Vakuum, das die Klassenanalyse ersetzt, die Politik des Impressionismus und des Abenteurertums eingesogen hat.

 

 

„Konzentrierte Ökonomie“

Shachtman zitiert außerdem Lenins Satz, daß die „Politik konzentrierte Ökonomie“ sei, und daß in dieser Hinsicht „die Politik die Herrschaft über die Ökonomie ergreifen muß“. Aus Lenins Worten zieht er für mich die Nutzanwendung, daß ich, mit Verlaub, nur an „Ökonomie“ interessiert sei (nationalisierte Produktionsmittel) und die „Politik“ überspringen würde. Dieser zweite Versuch, Lenin auszuwerten, ist nicht besser als der erste. Shachtmans Fehler nimmt hier wahrhaftig ungeheuere Ausmaße an! Lenin wollte sagen: Wenn die ökonomischen Vorgänge, Aufgaben und Interessen einen bewußten und verallgemeinerten („konzentrierten“) Charakter erlangen, dann betreten sie allein deswegen den Bereich der Politik und machen das Wesen der Politik aus. In diesem Sinne erhebt sich die Politik als konzentrierte Ökonomie über die dauernd zersplitterte, unbewußte und nicht verallgemeinerte ökonomische Tätigkeit.

Die Richtigkeit der Politik wird vom marxistischen Standpunkt genau dadurch bestimmt, daß sie die Ökonomie tiefgreifend und allseitig „konzentriert!“, das heißt, daß sie die progressiven Tendenzen ihrer Entwicklung ausdrückt. Deswegen gründen wir unsere Politik vor allem auf unsere Analyse der Eigentumsformen und der Klassenbeziehungen. Für uns ist eine genauere und konkretere Analyse der Faktoren nur auf dieser theoretischen Grundlage möglich. Daher würden wir zum Beispiel, wenn wir eine oppositionelle Fraktion des „bürokratischen Konservatismus“ bezichtigen, sofort die sozialen, d.h. die Klassenwurzeln dieser Erscheinung suchen. Jedes andere Vorgehen würde uns als „platonische Marxisten“ brandmarken, wenn nicht einfach als lärmende Possenreißer.

„Politik ist konzentrierte Ökonomie.“ Dieser Satz, sollte man annehmen, gilt auch für den Kreml. Oder ist die Politik der Moskauer Regierung, als Ausnahme von dem allgemeinen Gesetz, keine „konzentrierte Ökonomie“, sondern eine Äußerung des freien Willens der Bürokratie? Unser Versuch, die Politik des Kremls auf die nationalisierte Wirtschaft zu reduzieren, die durch die Interessen der Bürokratie gebrochen ist, ruft einen heftigen Widerstand bei Shachtman hervor. Shachtman läßt sich bezüglich der UdSSR nicht von der bewußten Verallgemeinerung der Ökonomie leiten, sondern von „der Beobachtung der Realitäten der lebendigen Ereignisse“ d.h. von Faustregeln, Improvisationen, Sympathien und Abneigungen. Er setzt diese impressionistische Politik unserer soziologisch begründeten Politik entgegen und beschuldigt uns gleichzeitig, daß ... wir die Politik nicht beachten. Unglaublich, aber wahr! Sicherlich, letzten Endes ist Shachtmans unentschlossene und launenhafte Politik ebenso der „konzentrierte“ Ausdruck der Ökonomie, aber ach, es ist die Ökonomie des deklassierten Kleinbürgertums.

 

 

Vergleich mit bürgerlichen Kriegen

Shachtman erinnert uns, daß bürgerliche Kriege zu manchen Zeiten fortschrittlich waren, daß sie aber in anderen Perioden reaktionär wurden und daß es deswegen nicht ausreicht, eine Klassendefinition eines in einen Krieg verwickelten Staates zu geben. Diese Behauptung macht die Frage nicht klar, sondern verwirrt. Bürgerliche Kriege konnten nur zu einer Zeit progressiv sein, als das ganze bürgerliche Regime progressiv war; mit anderen Worten, zu einer Zeit, als das bürgerliche Eigentum im Unterschied zum feudalen Eigentum ein progressiver und schöpferischer Faktor war. Bürgerliche Kriege wurden reaktionär, als das bürgerliche Eigentum eine Bremse für die Entwicklung wurde. Will Shachtman in bezug auf die UdSSR sagen, daß das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln eine Bremse für die Entwicklung geworden ist und daß die Ausbreitung dieser Eigentumsform auf andere Länder wirtschaftliche Reaktion darstellt? Shachtman will das offensichtlich nicht sagen. Er will einfach nicht die logischen Schlüsse aus seinen eigenen Gedanken ziehen.

Das Beispiel der nationalen Kriege bietet in der Tat eine sehr lehrreiche Lektion, aber Shachtman läßt sie ohne Interesse vorübergehen. Marx und Engels kämpften für eine vereinigte deutsche Republik. Im Kriege 1870/1 standen sie auf der Seite der Deutschen, obgleich der Kampf um die Vereinigung durch die herrschenden Parasiten ausgenützt und entstellt wurde.

Shachtman verweist darauf, daß Marx und Engels sich plötzlich gegen Preußen aufgrund der Annexion Elsaß-Lothringen wendeten. Diese Wendung aber verdeutlicht unseren Standpunkt nur um so mehr. Wir dürfen nie vergessen, daß es um einen Krieg zwischen zwei bürgerlichen Staaten ging. Daher hatten beide Lager einen gemeinsamen Klassennenner. Zu entscheiden, welche der beiden Seiten das kleinere Übel darstellte – sofern die Geschichte überhaupt Raum dafür ließ –, war nur auf der Grundlage weiterer Faktoren möglich. Auf deutscher Seite ging es um die Schaffung eines bürgerlichen Nationalstaates als wirtschaftlichem und kulturellem Kampfplatz. Der Nationalstaat war zu dieser Zeit ein historisch fortschrittlicher Faktor. Bis zu diesem Grad standen Marx und Engels auf der Seite der Deutschen, trotz der Hohenzollern und ihren Junkern. Die Annexion Elsaß-Lothringens verletzte das Prinzip des Nationalstaates im Hinblick sowohl auf Frankreich als auch auf Deutschland und schuf die Grundlage für einen Revanche-Krieg. Natürlich wandten sich Marx und Engels heftig gegen Preußen. Sie liefen dabei keineswegs Gefahr, sich in den Dienst eines Wirtschaftssystems zu stellen, das dem des Gegners unterlegen war, da in beiden Lagern, wir wiederholen es, bürgerliche Verhältnisse herrschten. Wenn Frankreich 1870 ein Arbeiterstaat gewesen wäre, wären Marx und Engels von Anfang an für Frankreich gewesen, da sie – man schämt sich, daß man dies sagen muß – beide in all ihren Handlungen vom Klassenkriterium ausgingen.

Heute geht es in den alten kapitalistischen Ländern durchaus nicht mehr um die Lösung der nationalen Frage. Im Gegenteil, die Menschheit leidet heute unter dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und dem allzu engen Rahmen der Nationalstaaten. Planwirtschaft auf der Grundlage sozialisierten Eigentums, befreit von den nationalen Schranken, das ist die Aufgabe des Proletariats vor allem in Europa. Genau diese Aufgabe wird durch unsere Losung „Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!“ ausgedrückt. Die Enteignung der Privateigentümer in Polen wie in Finnland ist an und für sich ein fortschrittlicher Faktor. Die bürokratischen Methoden des Kremls nehmen in diesem Prozeß genau den gleichen Platz ein wie einst die dynastischen Methoden der Hohenzollern bei der Vereinigung Deutschlands. Immer wenn wir vor der Notwendigkeit stehen, zwischen der Verteidigung reaktionärer Eigentumsformen durch reaktionäre Mittel und der Einführung fortschrittlicher Eigentumsformen durch bürokratische Methoden zu wählen, setzen wir die beiden Möglichkeiten keineswegs gleich, sondern wählen das kleinere Übel. Damit „kapitulieren“ wir nicht mehr vor dem Stalinismus, als Marx und Engels vor der Politik der Hohenzollern kapitulierten. Es ist kaum nötig hinzuzufügen, daß die Rolle der Hohenzollern im Krieg 1870/1 weder die allgemeine historische Rolle der Dynastie noch ihre Existenz gerechtfertigt hat.

 

 

Konjunktureller Defätismus oder das Ei des Kolumbus

Wir wollen nun genau prüfen, wie Shachtman, unterstützt von einem theoretischen Vakuum in einer besonders wichtigen Frage mit den „Realitäten der lebendigen Ereignisse“ arbeitet. Er schreibt: „Wir haben niemals die internationale Politik des Kremls unterstützt ... aber was bedeutet Krieg? Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Warum sollten wir dann den Krieg unterstützen, der eine Fortsetzung der internationalen Politik ist, die wir nicht unterstützen und nicht unterstützen?“ (Ebenda, S.15) Die Vollständigkeit dieser Beweisführung kann nicht geleugnet werden. In der Gestalt eines nackten Syllogismus wird uns hier eine abgerundete Theorie des Defätismus vorgestellt. Sie ist so einfach wie das Ei des Kolumbus! Da wir ja niemals die internationale Politik des Kremls unterstützt haben, sollen wir die UdSSR niemals unterstützen. Aber warum sagt er es nicht?

Wir verwarfen die interne und die internationale Politik damals schon vor dem deutsch-sowjetischen Pakt und vor der Invasion der Roten Armee in Polen. Das bedeutet, daß die „Realitäten der lebendigen Ereignisse“ des letzten Jahres nicht den geringsten Zusammenhang mit dieser Sache hatten. Wenn wir die UdSSR in der Vergangenheit verteidigt haben, so geschah das nur aus Inkonsequenz. Shachtman überprüft nicht nur die heutige Politik der Vierten Internationale, sondern auch die in der Vergangenheit. Da wir ja gegen Stalin sind, müssen wir auch gegen die UdSSR sein. Stalin ist schon lange dieser Meinung: Shachtman erst seit kurzem. Aus dieser Verwertung der Politik des Kremls entspringt vollständiger und unteilbarer Defätismus. Aber warum nicht so sagen?

Aber Shachtman kann sich nicht überwinden, es so zu sagen. An einer früheren Stelle schreibt er: „Wir sagten die Minderheit sagt es weiterhin –, daß wir die Sowjetunion bedingungslos verteidigen werden, wenn die Imperialisten die UdSSR überfallen, um die letzten Errungenschaften der Oktoberrevolution zu vernichten und Rußland in ein Bündel von Kolonien verwandeln.“ (Ebenda, S.15) Mit Verlaub, mit Verlaub, mit Verlaub! Die internationale Politik des Kremls ist reaktionär; der Krieg ist die Fortsetzung der reaktionären Politik; wir können den reaktionären Krieg nicht unterstützen. Wie konnte sich dann unerwartet herausstellen, daß, wenn die bösartigen Imperialisten die UdSSR „überfallen“ und die bösartigen Imperialisten das nicht löbliche Ziel verfolgen, sie in eine Kolonie zu verwandeln, Shachtman unter diesen außerordentlichen „Bedingungen“ die UdSSR ... „bedingungslos“ verteidigen wird? Welchen Sinn hat das? Wo bleibt die Logik? Oder hat Shachtman, Burnham folgend, die Logik in die Sphäre der Religion oder anderer Museumsstücke verbannt?

Der Schlüssel zu diesem Knoten der Verwirrung liegt darin, daß die Feststellung „wir haben die internationale Politik des Kremls niemals unterstützt“ eine Abstraktion ist. Sie muß zergliedert und konkretisiert werden. In ihrer heutigen Außen- und Innenpolitik verteidigt die Bürokratie an erster Stelle ihre eigenen parasitären Interessen. Bis zu diesem Grad führen wir einen unversöhnlichen Kampf gegen sie. Aber letzten Endes werden durch die Interessen der Bürokratie die Interessen des Arbeiterstaates in einer sehr entstellten Form widergepiegelt. Diese Interessen verteidigen wir mit unseren eigenen Methoden. Daher führen wir überhaupt keinen Kampf dagegen, daß die Bürokratie (auf ihre eigene Weise!) das Staatseigentum und das Außenhandelsmonopol schützt oder es ablehnt, zaristische Schulden zu bezahlen. Dennoch geht es in einem Krieg zwischen der UdSSR und der kapitalistischen Welt – unabhängig von den Umständen, die zu diesem Krieg führen, oder den „Zielen“ dieser oder jener Regierung – um das Schicksal genau der historischen Errungenschaften, die wir bedingungslos, d.h. trotz der reaktionären Politik der Bürokratie verteidigen. Die Frage läuft folglich – in letzter und ausschlaggebender Instanz – auf die Klassennatur der UdSSR hinaus.

Lenin leitete die Politik des Defätismus aus dem imperialistischen Charakter des Krieges ab. Aber er blieb dabei nicht stehen. Er leitete den imperialistischen Charakter aus der besonderen Entwicklungsstufe des kapitalistischen Regimes und seiner herrschenden Klasse her. Da der Charakter des Krieges gerade durch den Klassencharakter der Gesellschaft und des Staates bestimmt wird, riet Lenin, daß wir von so „konkreten“ Umständen wie Demokratie und Monarchie, wie Aggression und nationale Verteidigung absehen sollen, wenn wir unsere Politik in bezug auf einen imperialistischen Krieg bestimmen. Dagegen schlägt Shachtman vor, daß wir unseren Defätismus aus den konjunkturellen Bedingungen herleiten sollen. Dieser Defätismus ist gleichgültig gegenüber dem Klassencharakter der UdSSR und Finnlands. Ihm genügen die reaktionären Züge der Bürokratie und die „Aggression“. Wenn Frankreich, England oder die Vereinigten Staaten Flugzeuge und Kanonen nach Finnland schicken, so steht das in keinem Zusammenhang mit der Bestimmung von Shachtmans Politik. Wenn aber britische Truppen in Finnland landen, dann will Shachtman ein Thermometer unter Chamberlains Zunge stecken und Chamberlains Absichten feststellen, – ob er Finnland nur vor der imperialistischen Politik des Kremls schützen will oder ob er außerdem noch die „letzte Errungenschaft der Oktoberrevolution“ vernichten will. Genau gemäß dem Thermometerstand ist Shachtman, der Defaitist, bereit, sich in einen Verteidiger zu verwandeln. Das kommt dabei heraus, wenn man die abstrakten Prinzipien durch die „Realitäten der lebendigen Ereignisse“ ersetzt.

Wie wir bereits gesehen haben, will Shachtman ständig, daß Präzedenzfälle angeführt werden: Wann und wo haben die Oppositionsführer in der Vergangenheit kleinbürgerlichen Opportunismus gezeigt? Die Antwort, die ich ihm hierzu schon gegeben habe, muß hier durch zwei Briefe ergänzt werden, die wir uns gegenseitig über die Frage der Verteidigung und über die Methoden der Verteidigung in Zusammenhang mit den Ereignissen der Spanischen Revolution schickten. Am 18. September 1937 schrieb mir Shachtman:

„... Sie sagen, ‚wenn wir ein Mitglied in den Cortes hätten, würde es gegen den Militärhaushalt von Negrin stimmen‘. Wenn dies kein Schreibfehler ist, scheint es uns inkonsequent. Wenn, wie wir alle behaupten, das wesentliche Element eines imperialistischen Krieges gegenwärtig im spanischen Krieg nicht vorherrscht und wenn stattdessen der ausschlaggebende Faktor noch der Kampf zwischen der verfaulenden bürgerlichen Demokratie (mit all dem, was das mit einschließt) und dem Faschismus ist, wenn wir weiterhin verpflichtet sind, den Kampf gegen den Faschismus militärisch zu unterstützen, sehen wir nicht, wie es möglich wäre, in den Cortes gegen den Militärhaushalt zu stimmen ... Wenn ein Bolschewik-Leninist an der Front von Huesca von einem sozialistischen Genossen gefragt würde, warum sein Vertreter in den Cortes gegen den Antrag Negrins gestimmt hat, eine Million Pesetas für den Kauf von Gewehren bereitzustellen, was soll da dieser Bolschewik-Leninist antworten? Wir glauben nicht, daß er eine überzeugende Antwort hätte. (Hervorhebungen von mir.)

Dieser Brief versetzte mich in Erstaunen. Shachtman wollte sein Vertrauen in die heimtückische Negrin-Regierung auf der rein negativen Grundlage ausdrücken, daß das „wesentliche Element eines imperialistischen Krieges“ in Spanien nicht vorherrschte.

Am 20. September 1937 antwortete ich Shachtman:

„Für den Militärhaushalt der Negrin-Regierung zu stimmen bedeutet, ihr politisch zu vertrauen ... Das wäre ein Verbrechen. Wie erklären wir unsere Stimmabgabe für die anarchistischen Arbeiter? Sehr einfach: Wir haben nicht das geringste Vertrauen in die Fähigkeit dieser Regierung, den Krieg zu führen und den Sieg zu sichern. Wir klagen die Regierung an, die Reichen zu schützen und die Armen hungern zu lassen. Diese Regierung muß zerschmettert werden. So lange wir nicht stark genug waren, sie zu ersetzen, kämpfen wir unter ihrem Befehl. Aber bei jeder Gelegenheit drücken wir offen unser Mißtrauen in sie aus: Das ist die einzige Möglichkeit, die Massen politisch gegen diese Regierung zu mobilisieren und ihren Sturz vorzubereiten. Jede andere Politik wäre Verrat an der Revolution.“

Der Ton meiner Antwort spiegelt nur schwach ... die Verwunderung wider, die Shachtmans opportunistische Haltung in mir hervorrief. Vereinzelte Fehler sind selbstverständlich unvermeidlich, aber heute, zweieinhalb Jahre später, erscheint dieser Briefwechsel in einem neuen Licht. Da wir die bürgerliche Demokratie gegen den Faschismus verteidigen, glaubt Shachtman, können wir der bürgerlichen Regierung nicht das Vertrauen verweigern. Indem er diesen bloßen Lehrsatz auf die UdSSR anwendet, wird er in sein Gegenteil verkehrt – da wir kein Vertrauen zur Regierung im Kreml haben, können wir den Arbeiterstaat nicht verteidigen. Pseudoradikalismus in diesem besonderen Fall ist nur die Kehrseite des Opportunismus.

 

 

Ablehnung des Klassenkriteriums

Wir wollen noch einmal zum ABC zurückkehren. In der marxistischen Soziologie ist der Ausgangspunkt einer Untersuchung die Klassendefinition einer bestimmten Erscheinung, z.B. Staat, Partei, philosophische Richtung, literarische Schule usw. In den meisten Fällen ist eine bloße Klassendefinition jedoch unzureichend, denn eine Klasse besteht aus verschiedenen Schichten, durchläuft verschiedene Entwicklungsstadien, unterliegt verschiedenen Bedingungen, ist dem Einfluß anderer Klassen unterworfen. Diese zweit- und drittrangigen Faktoren muß man zur Sprache bringen, um die Analyse abzurunden, und sie sind entweder ganz oder teilweise erforderlich, was von dem besonderen Ziel abhängt. Aber für einen Marxisten ist eine Untersuchung unmöglich, ohne die Klassencharakterisierung der Erscheinung in die Überlegung einzubeziehen.

Das Skelett und die Muskeln machen nicht die Anatomie eines Tieres aus. Trotzdem würde eine anatomische Abhandlung, die versucht, von den Knochen und Muskeln zu „abstrahieren“, in der Luft hängen. Krieg ist kein Organ, sondern eine Funktion der Gesellschaft, d.h. der herrschenden Klasse. Es ist unmöglich, die Funktion zu definieren und zu untersuchen, ohne das Organ, d.h. den Staat zu verstehen. Es ist unmöglich, wissenschaftliches Verständnis eines Organs zu erlangen, ohne die allgemeine Struktur des Organismus, d.h. der Gesellschaft, zu verstehen. Die Knochen und Muskeln der Gesellschaft bestehen aus den Produktivkräften und aus den Klassen-(Eigentums-)verhältnissen. Shachtman hält für möglich, eine Funktion, nämlich den Krieg, „konkret“ zu untersuchen, unabhängig von dem Organ, zu dem sie gehört, nämlich dem Staat. Ist das nicht haarsträubend ?

Dieser grundlegende Irrtum wird von einem anderen, gleich offenkundigen ergänzt. Nachdem Shachtman die Funktion vom Organ abgespalten hat, geht er bei der Untersuchung der Funktion selbst, entgegen allen seinen Versprechungen, nicht vom Konkreten zum Abstrakten, sondern löst im Gegenteil das Konkrete im Abstrakten auf. Der imperialistische Krieg ist eine Funktion des Finanzkapitals, d.h. der Bourgeoisie auf einer bestimmten Entwicklungsstufe, die auf einer besonderen Struktur des Kapitalismus beruht, nämlich dem Monopolkapital. Diese Definition ist für unsere grundlegenden politischen Folgerungen konkret genug. Aber indem Shachtman den Begriff imperialistischer Krieg auch auf den Sowjetstaat ausdehnt, sägt er den Ast ab, auf dem er sitzt. Um wenigstens eine oberflächliche Rechtfertigung dafür zu erlangen, daß er ein und denselben Ausdruck für die Expansion des Finanzkapitals und für die Expansion der Arbeiterstaates gebraucht, ist Shachtman gezwungen, sich von der sozialen Struktur beider Staaten ganz und gar zu lösen, indem er sie zu – einer Abstraktion erklärt. Auf diese Weise spielt Shachtman mit dem Marxismus Verstecken und bezeichnet das Konkrete als abstrakt und gibt das Abstrakte als konkret aus!

Diese unerhörte Spielerei mit der Theorie ist nicht zufällig. Jeder Kleinbürger in den Vereinigten Staaten ist ausnahmslos bereit, jede Besitznahme von Gebiet „imperialistisch“ zu nennen, insbesondere heute, wo die Vereinigten Staaten zufällig nicht damit beschäftigt sind, Gebiete zu erwerben. Wenn man aber genau den gleichen Kleinbürgern erzählt, daß die ganze Außenpolitik des Finanzkapitals imperialistisch ist, unabhängig davon, ob sie gerade annektiert oder Finnland gegen Annexion „verteidigt“, – dann schreckt unser Kleinbürger in frommer Entrüstung zurück. Natürlich unterscheiden sich die Oppositionsführer in ihren Zielen und ihrem politischen Niveau beträchtlich von einem durchschnittlichen Kleinbürger. Aber, ach, ihre Gedanken haben die gleichen Wurzeln. Ein Kleinbürger versucht ständig, die politischen Ereignisse von ihren sozialen Grundlagen loszureißen, da es einen inneren Widerspruch zwischen dem klassenmäßigen Herangehen an Ereignisse der sozialen Stellung und Erziehung des Kleinbürgers gibt.

 

 

Noch einmal: Polen

Meine Äußerung, daß der Kreml mit seinen bürokratischen Methoden den Anstoß zu einer sozialistischen Revolution in Polen gab, wird von Shachtman in die Behauptung umgewandelt, daß meiner Meinung nach eine „bürokratische Revolution“ des Proletariats voraussichtlich möglich sei. Das ist nur falsch, sondern verräterisch. Mein Ausdruck war streng begrenzt. Es handelt sich nicht um eine „bürokratische Revolution“, sondern um einen bürokratischen Anstoß. Diesen Anstoß zu leugnen, bedeutet, die Wirklichkeit zu leugnen. Die Volksmassen, in der westlichen Ukraine und in Weißrußland fühlten jedenfalls diesen Anstoß, verstanden seine Bedeutung und benutzten ihn, um einen grundlegenden Umsturz in den Eigentumsverhältnissen durchzuführen. Eine revolutionäre Partei, die diesen Anstoß nicht rechtzeitig bemerkt hätte und ihn nicht ausgenützt hätte, wäre zu nichts zu gebrauchen, außer für den Mülleimer.

Dieser Anstoß in Richtung auf die sozialistische Revolution war nur möglich, weil die Bürokratie der UdSSR sich auf die Ökonomie eines Arbeiterstaates stützt und ihre Wurzeln in der Ökonomie hat. Das revolutionäre Ausnützen dieses „Anstoßes“ durch die Ukrainer und Weißrussen war nur durch den Klassenkampf in den besetzten Gebieten und durch die Macht des Beispieles der Oktoberrevolution möglich. Schließlich wurde die schnelle Erdrosslung oder Halb-Erdrosslung dieser revolutionären Massenbewegung durch ihre Isolation und die Stärke der Moskauer Bürokratie ermöglicht. Wer die dialektische Wechselbeziehung zwischen den drei Faktoren Arbeiterstaat, unterdrückte Massen und bonapartistische Bürokratie nicht versteht, hätte besser wertloses Geschwätz über die Ereignisse in Polen bleiben gelassen.

Das Programm für die Wahlen zur Nationalversammlung in der West-Ukraine und im westlichen Weißrußland enthielt, selbstverständlich von Moskau diktiert, drei äußerst wichtige Punkte: Anschluß beider Provinzen an den Staatenbund der UdSSR, Enteignung des Großgrundbesitzes zugunsten der Bauern, Nationalisierung der Großindustrie und der Banken. Die ukrainischen Demokraten, so kann man schließen, hielten es für das kleinere Übel, unter der Herrschaft eines einzigen Staates vereint zu werden. Und vom Standpunkt des künftigen Unabhängigkeitskampfes haben sie recht. Was die beiden anderen Punkte betrifft, sollte man annehmen, daß niemand von uns an ihrer Fortschrittlichkeit zweifeln kann. Shachtman versucht, um die Realität herumzukommen, nämlich darum, daß nichts anderes als die sozialen Grundlagen der UdSSR den Kreml sein sozialrevolutionäres Programm aufgezwungen haben, und verweist dazu auf Litauen, Estland und Lettland, wo alles beim alten geblieben ist. Ein Argument! Niemand hat behauptet, daß die Sowejetbürokratie immer und überall die Enteignung der Bourgeoisie durchführen will und kann. Wir sagen nur, daß keine andere Regierung den sozialen Umsturz hätte durchführen können, den die Kremlbürokratie trotz ihres Bündnisses mit Hitler in Ostpolen gutheißen mußte. Anderenfalls hätte sie das Gebiet nicht dem Staatenbund der UdSSR angliedern können.

Shachtman bemerkt zwar diesen Umsturz selbst. Er kann ihn nicht ableugnen. Er ist unfähig, ihn zu erklären. Er versucht trotzdem, den Schein zu wahren. Er schreibt: „In der polnischen Ukraine und in Weißrußland, wo die Klassenausbeutung durch nationale Unterdrückung verschärft wurde, begannen die Bauern, das Land zu besetzen, die Gutsherren zu verjagen, die bereits halb auf der Flucht waren“, usw. (Ebenda, S.16) Die Rote Armee stand, wie sich herausstellte, überhaupt nicht in Beziehung zu alldem. Sie kam nach Polen nur als „konterrevolutionäre Macht“, um die Bewegung zu unterdrücken. Warum trafen die Arbeiter und Bauern in Westpolen, das in der Hand von Hitler war, keine Vorbereitungen für eine Revolution? Warum waren es hauptsächlich Revolutionäre, „Demokraten“ und Juden, die von dort flohen, während in Ostpolen – vor allem die Gutsherren und Kapitalisten flohen? Shachtman hat keine Zeit, dies zu durchdenken – er hat es eilig, mir zu erklären, daß die Vorstellung der „bürokratischen Revolution“ unsinnig ist, denn die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein. Habe ich nicht recht, wenn ich wiederhole, daß Shachtman offensichtlich glaubt, in einem Kindergarten zu sein?

Im Pariser Organ der Menschewiki – die, wenn das möglich ist, sogar noch „unversöhnlicher“ in ihrer Haltung zur Außenpolitik des Kremls sind als Shachtman – wird berichtet, daß „in den Dörfern – sehr häufig beim bloßen Herannahen der Sowjettruppen (d.h. noch vor dem Einmarsch in ein bestimmtes Gebiet – L.T.) – überall Bauernkomitees auftauchen, die elementaren Organe der revolutionären Selbstverwaltung der Bauern ... „ Die militärische Obrigkeit beeilt sich selbstverständlich, diese Komitees den bürokratischen Organen unterzuordnen, die von ihr in den Städten eingerichtet worden sind. Trotzdem waren sie gezwungen, sich auf die Bauernkomitees zu stützen, da es ohne sie nicht möglich war, die Agrarrevolution durchzuführen.

Der Führer der Menschewiki, Dan, schrieb am 19. Oktober: „Nach den übereinstimmenden Berichten aller Beobachter sorgt das Erscheinen der Sowjetarmee und der sowjetischen Bürokratie nicht nur in dem von ihnen besetzten Gebiet, sondern auch über dessen Grenzen hinaus für einen Anstoß (!!!) für sozialen Aufruhr und soziale Veränderungen.“ Der Anstoß, so wird man bemerken, wurde nicht von mir erfunden, sondern von „den übereinstimmenden Berichten aller Beobachter“, die Augen und Ohren hatten. Dan geht sogar weiter und äußert die Vermutung, daß „die Wogen, die von diesem Anstoß erzeugt worden sind, nicht nur recht bald kräftig auf Deutschland treffen werden, sondern mehr oder weniger auch auf andere Staaten übergreifen werden.“

Ein anderer menschewistischer Autor schreibt: „Obwohl im Kreml wohl alles versucht wurde zu vermeiden, was nach der großen Revolution riechen könnte, mußte allein die Tatsache des Einmarsches von sowjetischen Truppen in die Gebiete Ostpolens mit seinen lange überlebten, halb feudalen Agrarverhältnissen eine stürmische Agrarbewegung hervorrufen. Bei dem Herannahen der sowjetischen Truppen begannen die Bauern, den Großgrundbesitz zu besetzen und Bauernkomitees zu bilden.“ Man beachte: bei dem Herannahen der sowjetischen Truppen und keineswegs bei ihrem Abzug, wie aus Shachtmans Worten folgt. Ich führe diesen Bericht der Menschewiki an, weil sie sehr gut informiert sind, denn sie erhalten ihre Informationen ihnen wohlgesonnenen polnischen und jüdischen Emigranten, die sich in Frankreich aufhalten. Diese Herren, die auch vor der französischen Bourgeoisie kapituliert haben, können ja wohl unmöglich verdächtigt werden, vor dem Stalinismus kapituliert zu haben.

Überdies wird dieses Zeugnis der Menschewiki durch die Berichte der bürgerlichen Presse bestätigt:

„Die Agrarrevolution im sowjetischen Polen hatte die Stärke einer spontanen Bewegung. Sobald bekannt wurde, daß die Rote Armee den Zbrucz überschritten hat, begannen die Bauern, die Felder der Gutsherren untereinander aufzuteilen. Land wurde hauptsächlich den kleinen Pächtern gegeben, und auf diese Weise wurden ungefähr 30% des Ackerlandes enteignet.“ (New York Times, 17. Januar 1940)

Unter dem Vorwand eines neuen Argumentes kommt Shachtman mit meinen eigenen Worten, daß die Enteignung in Ostpolen unsere Einschätzung der allgemeinen Politik des Kremls nicht ändern kann. Selbstverständlich kann sie es nicht! Niemand hat dies vorgeschlagen. Mit Hilfe der Komintern hat der Kreml die Arbeiterklasse verwirrt und demoralisiert, und damit hat er nicht nur den Ausbruch des neuen imperialistischen Krieges begünstigt, sondern auch die, Ausnützung dieses Krieges für die Revolution sehr erschwert. Verglichen mit solchen Verbrechen ist der soziale Umsturz in den beiden Provinzen, der überdies, mit der Unterjochung Polens bezahlt wurde, natürlich von zweitrangiger Bedeutung und ändert nichts an dem allgemeinen reaktionären Charakter der Kremlpolitik. Aber die Opposition selbst hat veranlaßt, daß die Frage, die jetzt gestellt ist, keine Frage der allgemeinen Politik, sondern ihrer konkreten Widerspiegelung unter bestimmten Bedingungen von Zeit und Ort ist. Für die Bauern in Galizien und Weißrußland war der Umsturz in der Agrarwirtschaft äußerst bedeutungsvoll. Die Vierte Internationale konnte diesen Umsturz nicht boykottieren, weil die Initiative dazu von der reaktionären Bürokratie ausging. Unsere direkte Pflicht war es, an dem Umsturz auf Seiten der Arbeiter und Bauern teilzunehmen und in diesem Maße auch auf der Seite der Roten Armee. Gleichzeitig mußte man die Massen unbedingt vor dem allgemeinen reaktionären Charakter der Kremlpolitik warnen und auf die Gefahren hinweisen, die er für die besetzten Gebieten besaß. Zu wissen, wie man diese Aufgaben, genauer, diese beiden Seiten ein und derselben Aufgabe verbindet – genau das ist bolschewistische Politik.

 

 

Noch einmal: Finnland

Nachdem Shachtman beim Verstehen der Ereignisse in Polen einen solch zweifelhaften Scharfblick gezeigt hat, hat er für mich doppelte Glaubwürdigkeit bezüglich der Ereignisse in Finnland. In meinem Artikel Eine kleinbürgerliche Opposition schrieb ich, daß der „sowjetisch-finnische Krieg offenbar beginne, von einem Bürgerkrieg ergänzt zu werden, in dem die Rote Armee sich auf der gegebenen Stufe im gleichen Lager wie die finnischen Kleinbauern und Arbeiter finden wird ...“ Diese äußerst vorsichtige Formulierung findet nicht den Beifall meines unnachsichtigen Richters. Meine Einschätzung der Ereignisse in Polen hat ihn bereits aus dem Gleichgewicht gebracht. „Ich halte Ihre – wie soll ich sie nennen? – erstaunlichen Bemerkungen über Finnland für noch weniger stichhaltig“, schreibt Shachtman auf der Seite 16 seines Briefes. Es tut mir sehr leid, daß Shachtman lieber erstaunt ist, als Dinge zu durchdenken.

In den baltischen Staaten beschränkt der Kreml seine Aufgaben darauf, strategische Gewinne zu erzielen, zweifellos in der Berechnung, daß diese strategischen Militärstützpunkte es in Zukunft erlauben werden, auch diese früheren Teile des Zarenreiches zu sowjetisieren. Diese Erfolge im Baltikum, die mit diplomatischer Drohung erreicht wurden, stoßen jedoch bei Finnland auf Widerstand. Sich mit diesem Widerstand abzufinden, hätte bedeutet, daß der Kreml sein „Ansehen“ und damit seine Erfolge in Estland, Lettland und Litauen aufs Spiel setzt. Deswegen fühlte sich der Kreml gezwungen, entgegen seinen anfänglichen Absichten die Streitkräfte einzusetzen. Aus dieser Tatsache ergibt sich für jeden denkenden Menschen die folgende Frage: Will der Kreml nur die finnische Bourgeoisie erschrecken und zwingen, Zugeständnisse zu machen, oder muß er jetzt weiter gehen? Auf diese Frage konnte es nicht „automatisch“ eine Antwort geben. Man mußte sich – unter Berücksichtigung der allgemeinen Tendenzen an den konkreten Anzeichen orientieren. Die Oppositionsführer sind dazu nicht in der Lage.

Die militärischen Operationen begannen am 30. November. Noch am selben Tag gab das Zentralkomitee der Finnischen Kommunistischen Partei, das zweifellos entweder in Leningrad oder Moskau untergebracht war, eine Rundfunkerklärung an die Werktätigen Finnlands heraus. Diese Erklärung verkündete: „Zum zweiten Mal in der finnischen Geschichte beginnt die finnische Arbeiterklasse einen Kampf gegen das Joch der Plutokratie. Die erste Erfahrung der Arbeiter und Bauern 1918 endete mit dem Sieg der Kapitalisten und Grundbesitzer. Aber dieses Mal ... müssen die Werktätigen gewinnen!“ Allein diese Erklärung zeigt klar an, daß es nicht darum ging, die bürgerliche Regierung Finnlands zu erschrecken, sondern darum, Aufruhr im Land zu provozieren und die Invasion der Roten Armee durch einen Bürgerkrieg zu ergänzen.

Die Erklärung der sogenannten Volksregierung, die am 2. Dezember herausgegeben wurde, behauptet: „In verschiedenen Teilen des Landes hat sich das Volk bereits erhoben und die Schaffung einer demokratischen Republik verkündet.“ Diese Behauptung ist offensichtlich eine Erfindung, sonst hätte die Erklärung die Orte genannt, wo Versuche stattgefunden haben, sich zu erheben. Es ist jedoch möglich, daß isolierte Versuche, die von außen vorbereitet waren, im Zusammenbruch endeten und daß man es gerade deswegen für das beste hielt, nicht in die Einzelheiten zu gehen. Jedenfalls waren die Nachrichten über „Aufstände“ eine Aufforderung zu Aufständen. Außerdem enthielt die Erklärung Informationen über das Aufstellen des „ersten finnischen Armeekorps, das im Laufe bevorstehender Kämpfe durch Freiwillige aus den Reihen der revolutionären Arbeiter und Bauern vergrößert werden wird. „Ob in diesem „Korps“ eintausend oder nur einhundert Mann waren, die Bedeutung des „Korps“ für die Festlegung der Politik des Kremls war unbestreitbar. Zur gleichen Zeit berichteten Depeschen, daß Großgrundbesitzer in den Grenzgebieten enteignet worden seien. Es gibt nicht den leisesten Grund, daran zu zweifeln, daß das genau während des ersten Vorrückens der Roten Armee stattfand. Aber selbst wenn diese Depeschen für Fälschungen gehalten werden, behalten sie dennoch ihre Bedeutung als Aufforderung zur Agrarrevolution. Daher war ich voll und ganz im Recht zu erklären, daß „der sowjetisch-finnische Krieg offensichtlich beginne, von einem Bürgerkrieg ergänzt zu werden“. Anfang Dezember kannte ich, das ist durchaus wahr, nur einen Teil dieser Tatsachen. Aber auf dem Hintergrund der allgemeinen Lage und, ich nehme mir die Freiheit hinzuzufügen, da ich ihre innere Logik verstand, ließen mich die isolierten Symptome die notwendigen Schlußfolgerungen in bezug auf die Richtung des ganzen Kampfes ziehen. Ohne diese Halb-a-priori-Schlüsse kann man ein vernünftig denkender Beobachter sein, aber keineswegs aktiv an den Ereignissen teilnehmen. Aber warum reagierten die Massen nicht sofort auf den Appell der „Volksregierung“? Aus drei Gründen: Erstens wird Finnland vollständig von einem reaktionären Militärapparat regiert, der nicht nur von der Bourgeoisie, sondern auch von der Oberschicht der Bauern und der Arbeiterbürokratie unterstützt wird. Zweitens gelang es der Kremlpolitik, die Finnische Kommunistische Partei in einen unbedeutenden Faktor zu verwandeln. Drittens ist das Regime der UdSSR keineswegs in der Lage, Begeisterung unter den arbeitenden Massen Finnlands zu wecken. Sogar in der Ukraine antworteten zwischen 1918 und 1920 die Bauern nur sehr langsam auf die Appelle, den Großgrundbesitz zu besetzen, weil die lokale Sowjetmacht noch schwach war und der Erfolg der Weißen grausame Strafexpeditionen mit sich brachte. Um so weniger ist Grund zur Überraschung, daß die armen finnischen Bauern zögerten, dem Aufruf zur Agrarrevolution zu folgen. Um die Bauern in Bewegung zu setzen, sind bedeutende Erfolge der Roten Armee erforderlich. Aber während des ersten schlecht vorbereiteten Vormarsches erlitt die Rote Armee nur Rückschläge. Unter solchen Bedingungen konnte nicht einmal von Bauernaufständen die Rede sein. Im gegebenen Stadium konnte man unmöglich einen unabhängigen Bürgerkrieg in Finnland erwarten: Meine Berechnungen sprachen ziemlich genau von der Ergänzung der militärischen Operationen durch die Maßnahmen des Bürgerkrieges. Ich habe – wenigstens bis die finnische Armee vernichtet ist – nur die besetzten Gebiete und die nahe gelegenen Regionen im Sinn. Während ich heute, am 17. Januar, diese Zeilen schreibe, melden Depeschen aus Finnland, daß in eine der Grenzprovinzen Abteilungen finnischer Emigranten eingefallen sind und daß dort Brüder sich buchstäblich gegenseitig umbringen. Was ist das, wenn nicht eine Episode in einem Bürgerkrieg? Jedenfalls kann kein Zweifel daran bestehen, daß ein neues Vorrücken der Roten Armee nach Finnland mit jedem Schritt unsere allgemeine Einschätzung des Krieges bekräftigen wird. Shachtman gibt weder eine Analyse der Ereignisse noch die Andeutung einer Vorhersage. Er beschränkt sich selbst auf vornehme Entrüstung und sinkt aus diesem Grund auf jedem Schritt tiefer in den Sumpf.

Der Appell der „Volksregierung“ ruft nach Arbeiterkontrolle. Was kann das bedeuten!, schreit Shachtman. Es gibt keine Arbeiterkontrolle in der UdSSR; woher soll sie dann in Finnland kommen? Shachtman zeigt leider, daß er die Situation ganz und gar nicht versteht. In der UdSSR ist die Arbeiterkontrolle ein Stadium, das schon lange abgeschlossen ist. Von der Kontrolle über die Bourgeoisie schritten sie zur Leitung der nationalisierten Produktion. Von der Leitung der Arbeiter – zur Herrschaft der Bürokratie. Nun würde neue Arbeiterkontrolle die Kontrolle über die Bürokratie bedeuten. Sie kann aber nicht eingerichtet werden, es sei denn als Ergebnis eines erfolgreichen Aufstandes gegen die Bürokratie. In Finnland bedeutet Arbeiterkontrolle noch nicht mehr als das Hinausdrängeln der einheimischen Bourgeoisie, deren Platz die Bürokratie einzunehmen gedenkt. Außerdem sollte man nicht annehmen, daß der Kreml so dumm ist zu versuchen, Ostpolen und Finnland durch importierte Kommissare zu regieren. Es ist für den Kreml äußerst dringlich, einen neuen Verwaltungsapparat aus der arbeitenden Bevölkerung der besetzten Gebiete zu gewinnen. Diese Aufgabe kann nur in verschiedenen Etappen gelöst werden. Die erste Etappe sind die Bauernkomitees und die Komitees der Arbeiterkontrolle. [2]

Shachtman greift gierig sogar nach der Tatsache, daß Kuusinens Programm „formell das Programm der bürgerlichen ‚Demokratie‘ ist. Will er damit sagen, daß der Kreml mehr daran interessiert ist, die bürgerliche Demokratie in Finnland einzurichten, als Finnland in das System der UdSSR hineinzuziehen? Shachtman weiß selbst nicht, was er sagen will. In Spanien, das Moskau nicht auf einen Anschluß an die UdSSR vorbereitet, ging es tatsächlich darum zu zeigen, daß der Kreml die bürgerliche Demokratie gegen die proletarische Revolution schützen kann. Diese Aufgabe ergab sich aus den Interessen der Kremlbürokratie in einer besonderen internationalen Situation. Heute ist die Situation anders. Der Kreml bereitet sich nicht darauf vor, seine Nützlichkeit für Frankreich, England und die Vereinigten Staaten unter Beweis zu stellen. Seine Aktionen haben gezeigt, daß er fest entschlossen ist, Finnland zu sowjetisieren, auf einmal oder in zwei Etappen. Das Programm der Kuusinen-Regierung unterscheidet sich nicht vom Programm der Bolschewiki im November 1917, selbst wenn man es von einem „formalen“ Gesichtspunkt aus betrachtet. Es ist nur zu wahr, Shachtman macht viel aus der Tatsache, daß ich im allgemeinen dem Manifest des „Idioten“ Kuusinen Bedeutung zumesse. Trotzdem nehme ich mir die Freiheit zu meinen, daß der „Idiot“ Kuusinen, der sich nach dem Ukas des Kremls richtet und von der Roten Armee unterstützt wird, einen weitaus ernsthafteren politischen Faktor darstellt als Mengen oberflächlicher Klugtuer, die die innere Logik (Dialektik) der Ereignisse nicht durchdenken wollen.

Als Ergebnis seiner bemerkenswerten Untersuchung schlägt Shachtman jetzt offen eine defätistische Politik in bezug auf die UdSSR vor, wobei er (für den Notfall) hinzufügt, daß er keineswegs aufhört, ein „Patriot seiner Klasse“ zu sein. Wir sind sehr glücklich über diese Nachricht. Aber leider schrieb Dan, der Führer der Menschewiki, schon am 12. November, daß im Falle des Einmarsches der Sowjetunion in Finnland das Weltproletariat „eine endgültig defätistische Haltung zu diesem Gewaltakt einnehmen müsse.“ (Socialisticeskij Vestnik, Nr.19/20, S.43) Man muß hinzufügen, daß Dan während des Kerenski-Regimes ein wütender „Verteidiger“ war; er war sogar unter dem Zaren kein Defaitist. Nur der Einmarsch der Roten Armee in Finnland hat Dan zu einem Defätisten gemacht. Natürlich hört er dabei nicht auf, ein „Patriot seiner Klasse“ zu sein. Welcher Klasse? Diese Frage ist nicht uninteressant. Was die Analyse der Ereignisse angeht, stimmt Shachtman nicht mit Dan überein, der dem Schauplatz der Handlungen nähersteht und Fakten nicht durch Fiktionen ersetzen kann. Als Ersatz stellt sich Shachtman, wo es um die „konkreten politischen Folgerungen“ geht, als ein Patriot derselben Klasse wie Dan heraus. In der marxistischen Soziologie wird diese Klasse, wenn die Opposition gestattet, Kleinbürgertum genannt.

 

 

Fußnoten von Trotzki

1. Jungen Genossen empfehle ich, sich zu dieser Frage mit den Arbeitern von Engels (Anti-Dühring), Plechanow und Antonio Labriola zu beschäftigen.

2. Dieser Artikel war bereits geschrieben, als ich in der New York Times vom 17, Januar über das frühere Ostpolen Zeilen las: „In der Industrie wurden drastische Enteignungsmaßnahmen noch nicht in großem Maßstab durchgeführt. Die Hauptzentren des Danksystems, die Eisenbahn und einige Unternehmen der Großindustrie waren schon vor der russischen Besetzung Staatseigentum. In kleinen und mittleren Industriebetrieben üben die Arbeiter Kontrolle über die Produktion aus.

Die Industriellen behalten nominell das volle Eigentumsrecht in ihren eigenen Firmen, aber sie sind gezwungen, Berichte über die Produktionskosten usw. den Arbeiterdelegierten zur Durchsicht vorzulegen. Diese setzen zusammen mit den Unternehmern die Löhne, die Arbeitsbedingungen und eine gerechte Profitrate für die Industriellen fest.

So sehen wir, daß sich die „Realitäten der lebendigen Ereignisse“ überhaupt nicht den pedantischen und leblosen Modellen der Oppositionsführer unterwerfen. Währenddessen sind „Abstraktionen“ in Fleisch und Blut übergegangen.

 


Zuletzt aktualisiert am 16.06.2010