Winfried Wolf

Die Weltwirtschaft vor der Krise –
China wird es nicht nochmals richten

Der „Handelskrieg“ ist Teil der Logik der kapitalistischen Wirtschaftsweise

(7. Dezember 2019)


Quelle: Lunapark21, Dezember 2019.
Kopiert mit Dank aus der Lunapark21-Webseite.
Transkription & HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Bertolt Brecht schrieb in den Flüchtlingsgesprächen: „Die Männer in den Konjunkturforschungsinstituten, die doch über genaue Notierungen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Erscheinungen verfügten, zeigten ihren Kopf nur dadurch, dass sie ihn schüttelten.“ [1] Fast achtzig Jahre, nachdem dies geschrieben wurde, dürften die vielen Männer und die wenigen Frauen in den Konjunkturforschungsinstituten über nochmals mehr „genaue Notierungen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Erscheinungen“ verfügen. Dennoch bleiben sie vage oder sie liegen daneben, wenn sie über die Lage der Wirtschaft schreiben und ihre Konjunkturprognosen abgeben.

Das Kieler Institut für Weltwirtschaft geht in einem am 11. September 2019 veröffentlichten Gutachten noch davon aus, dass der Welthandel im laufenden Jahr 2020 nochmals um 0,8 Prozent und das Welt-Bruttoinlandsprodukt (BIP) sogar um 2,2 Prozent wachsen würden. Dabei spricht alles dafür, dass der Welthandel 2019 rückläufig ist – wie dies im Übrigen bereits im Vorjahr der Fall war. Das Institut fand allerdings eine originelle Überschrift für die gesamte Konjunkturstudie, die gekonnt ambivalent ist. Sie lautet: „(Das) Potenzialwachstum kommt in die Jahre“. [2] Der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR)“ fand für sein Ende 2018 vorgelegtes Gutachten den hochspannenden Titel „Vor wichtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen“.

Das Gutachten geht dann davon aus, dass die Wirtschaft im Euroraum 2019 nochmals um 1,7 Prozent wächst und dabei das deutsche Bruttoinlandsprodukt um 1,5 Prozent zulegt. Tatsächlich lässt sich Mitte September 2019 sagen, dass das Wachstum im Euroraum im laufenden Jahr nahe Null liegt. Die BRD-Ökonomie verzeichnete nach zwei Quartelen mit Rückgängen bereits eine „technische Rezession“. Im Jahresverlauf dürfte das Wachstum ebenfalls nur nahe Null liegen.

Nun verfügt die marxistische Wissenschaft keineswegs über „genauere Notierungen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Erscheinungen“ als eben diese Institute. Und anders als vor 1990, als es in der Sowjetunion und in der DDR teilweise entsprechende Kapazitäten gab, gibt es heute keine Institute mit größerer finanzieller und personeller Ausstattung, die Konjunkturanalysen auf marxistischer Grundlage ausarbeiten könnten.

Allerdings gibt es im Fall einer aktuellen Analyse zwei Elemente, die eine Prognose auf marxistischer Grundlage eher realistisch sein lassen.

Erstens die notwendige Einordnung in die mittel- und langfristige Entwicklung des Kapitalismus. Die gegenwärtige Lage der Weltwirtschaft muss als Teil des längerfristigen Konjunkturzyklus verstanden werden. Wie in der letzten LP21-Analyse (in Heft 44, erschienen im Dezember 2018) dargelegt – und damals dort mit einer Grafik bebildert – befindet wir uns am Ende eines langen Zyklus. Dieser setzte 2009 ein; nach zehnjähriger Dauer bewegt er sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf eine neue Krise zu. Die bürgerliche Konjunkturwissenschaft blendet in der Regel die Existenz dieser Zyklen aus. Sie tut dies nicht aus Ignoranz, sondern aus ideologischen Gründen. Es darf nicht wahr sein, was wahr ist: dass die kapitalistische Ökonomie nicht wirklich lenkbar und nur in begrenztem Maß beeinflussbar ist; dass es seit mehr als 200 Jahren diesen weitgehend fixen Verlauf der Weltwirtschaft gibt. Wobei dieser Verlauf ja nicht irgendeine sich wiederholende Kurve ohne größere wirtschaftliche Konsequenzen darstellt. Es handelt sich vielmehr um eine Bewegung mit einem ebenso verschwenderischen wie zerstörerischen Charakter. In der Hochkonjunktur werden riesige neue Anlagen geschaffen; es kommt zu Überkapazitäten. Gleichzeitig führt das Prinzip der Gewinnmaximierung – vulgo die „Profitgier“ – dazu, dass die Masseneinkommen zurückbleiben, die Arbeitseinkommen gedeckelt und „gedumpt“ werden – was ja zunächst höhere Profite bringt. Dies wiederum führt aber dazu, dass den produzierten Waren und den angebotenen Dienstleistungen keine ausreichend großen Nachfrage gegenübersteht. Überkapazitäten und zurückbleibende Massennachfrage sind dann zwei Elemente, die wesentlich zum Ende der guten Konjunktur, zum Einbruch der Konjunktur und meist auch zu einer Rezession oder Krise führen. Wobei auch diese wiederum „nur“ Resultate der Profitorientierung, der Bewegung der Profitrate, sind. I n den Krisen wiederum werden dann Kapital und Warenwerte in gewaltigen Mengen vernichtet: durch Pleiten, durch Fusionen (und in diesem Zusammenhang mit der Stilllegung von Fabriken und anderen Anlagen); durch Dumping-Preise, zu denen die Waren auf den Markt geworfen werden, um wenigstens die Gegenleistung für einen Teil des in ihnen steckenden Werts, der vergegenständlichten Arbeitszeit, zu erhalten. Gleichzeitig werden Hunderttausende Arbeitskräfte – weltweit viele Millionen – „freigesetzt“, zu Arbeitslosen degradiert. Was dazu beiträgt, dass die Konkurrenz unter den Noch-Beschäftigten und den Nicht-Mehr-Beschäftigten bzw. dem ständigen Arbeitslosenheer wächst und die Reallöhne (oder die Preise für den „Faktor Arbeit“) sinken. Erst in der Krise und als Resultat dieses zerstörerischen Prozesses kommt es wieder dazu, was die bürgerlichen Ökonomen immer gerne als grundlegend und immerwährend unterstellen: zu einem kurzzeitige n Gleichgewicht von Produktionskapazität und Nachfrage, oft beschleunigt durch sogenannte „Konjunkturprogramme“. Und auf dieser Grundlage dann zum Start in einen neuen Zyklus.

Zweitens das richtige Verständnis der großen wirtschaftspolitischen Tendenzen als Teil des ökonomischen Prozesses, hier: die zutreffende Analyse des „Handelsstreits“. Der „Handelsstreit“ oder auch „Handelskrieg“ wird von den bürgerlichen Konjunkturforschern als eine Ausgeburt eines einzelnen Präsidenten verstanden – als eine Fehlorientierung von Mr. Donald Trump. Wörtlich heißt es im bereits angeführten Jahresgutachten des deutschen „Sachverständigenrats“: „Seit der Amtsübernahme durch US-Präsident Trump ist eine Abkehr der Vereinigten Staaten von multilateralen Organisationen und Abkommen zu beobachten, etwa bei der WTO oder dem Pariser Klimaschutzabkommen.“ [3] Das ist nicht zutreffend. Seit vielen Jahren gibt es ein Anwachsen des Protektionismus weltweit. Die US-Regierungen spielten dabei eine wichtige Rolle. Dies trifft aber bereits auf die beiden Amtsperioden von Barack Obama zu, dem Vorgänger von Trampel Trump im US-Präsidentenamt. In LP21, Heft 44, berichtete Hannes Hofbauer von einer hochkarätig besetzten Konferenz, die im September 2018 in Paris unter Beteiligung führender westlicher Strategen und Ökonomen stattfand. Dort ging es u.a. um den wachsenden Protektionismus. Die Grundaussagen lauteten: Während die Zölle nach dem Zweiten Weltkrieg zügig reduziert worden seien, stecke man diesbezüglich „seit der Doha-Runde 2001 fest.“ Seither gebe es eine allgemeine Zunahme protektionistischer Tendenzen. [4]

Weiter heißt es im Sachverständigenrats-Gutachten: „Speziell im internationalen Handel und globalen Klimaschutz sind nationale Alleingänge mit Wohlfahrtsverlusten für die Staatengemeinschaft verbunden.“ Und: „Die gegenseitigen Zollerhöhungen dürften für die betroffenen Volkswirtschaften mit negativen Wohlfahrtseffekten einhergehen.“ Es wird so getan, als bestünde der Zweck kapitalistischen Wirtschaftens darin, „Wohlfahrtseffekte“ zu erzielen. Tatsächlich geht es im kapitalistischen Wirtschaftsprozess allgemein ausschließlich um Profitmaximierung für die einzelnen Konzerne und Banken – und im Fall des Protektionismus nicht zuletzt um die Wiederherstellung hoher Profitabilität für eine ganze Volkswirtschaft, für die der USA. Wobei ein Aspekt tatsächlich weitgehend neu ist bei der aktuellen protektionistischen Welle: Während Protektionismus früher meist von kapitalistischen Ökonomien eingesetzt wurde, die sich im Aufstieg befanden, setzen die US-Regierungen seit geraumer Zeit protektionistische Maßnahmen mit dem Ziel ein, den Niedergang der ökonomischen Macht der USA zu stoppen und die Profitabilität der US-Wirtschaft wieder qualitativ zu erhöhen. Dabei wird diese Politik von der gesamten politischen – selbsternannten – Elite der USA oder besser: von der in den USA herrschenden Klasse getragen. Es ist falsch, davon auszugehen, in diesem Handelskrieg gehe es um das Ego des Mr. Trump. In dem in Wien erscheinenden Blatt Der Standard wurde der Handelskrieg zwischen USA und China geradezu klassisch – und klassisch falsch – wie folgt beschrieben. „Krieg der Häuptlinge. Die rasche Streitbeilegung mit Mexiko hat Donald Trump ermutigt, mit neuen Strafzöllen in die Handelsschlacht mit China zu ziehen. Doch auch Xi Jingping ist kampfbereit. Was beide Seiten wirklich wollen, ist unklar. Klar ist: Die Rivalität der Supermächte gefährdet den globalen Wohlstand.“ [5] Tatsächlich hat sich Trump gleich beim Beginn seiner Amtszeit mehrere CEOs als Berater ins Weiße Haus geholt. Seine Wirtschaftspolitik ist weitgehend mit den Top-Kapitalisten abgestimmt. Auch die Tech- und IT-Konzerne aus dem Silicon Valley, die in den ersten Monaten von Trumps Regierungsperiode teilweise skeptisch waren und ab und an auch mal Kritisches verlautbaren ließen, sind längst auf Linie gebracht – und von der Trump´schen Politik überzeugt, oft auch begeistert. Es gibt sogar Kungelrunden von Silicon-Valley-Konzernbossen mit hochrangigen US-Geheimdienst-Leuten, in denen die CIA- und NSA-Mannen Geheimdienstmaterial ausbreiten, um zu belegen, dass China systematisch „Industriespionage“ betreibe, weswegen der Handelskrieg im Allgemeinen und der Krieg gegen den chinesischen Telekommunikations-Konzern Huawei sinnvoll seien. Das „Handelsblatt“ schrieb: „Wer von US-Unternehmern erwartet, sich gegen Trump zu stellen, der träumt. [...] Im Fall China zeigt sich nun, sind Trump und die Tech-Konzerne vereint. [...] Der Fall Huawei zeigt, wie sehr der Wirtschaftskrieg zwischen Amerika und China von einer breiten politischen Mehrheit in den USA getragen wird. Die Erkenntnis lautet: Trump zettelt keineswegs einen Streit mit der wichtigsten Volkwirtschaft der Welt im Alleingang an.“ Im selben Artikel wird belegt, dass auch die politische Konkurrenz, die Demokraten, in diesem Punkt Trumps Politik unterstützen. [6]

Springen wir ein letztes Mal zurück zur Interpretation des Handelskriegs durch den Sachverständigenrat. Dort ist auch zu lesen: „Zu beachten ist jedoch, dass die derzeitige Situation bislang nicht mit einem Handelskrieg wie in den 1920er- und 1930er-Jahren zu vergleichen ist. Damals erhöhten mehrere Staaten gleichzeitig jeweils gegenüber den anderen Staaten ihre Zölle, sodass der weltweit durchschnittliche Zollsatz von rund 8 % im Jahr 1920 auf rund 25 % im Jahr 1933 anstieg [...] Dagegen gehen die aktuellen Zollerhöhungen entweder nur von den Vereinigten Staaten aus oder richten sich ausschließlich gegen sie.“ Auch dies ist eine kurzatmige Analyse; erneut wird die Problematik auf einen eng umgrenzten Machtkampf reduziert. Tatsächlich gibt es inzwischen den Handelskrieg zwischen den USA und China, den „Krieg“ zwischen den USA und Mexiko, zwischen den USA und Japan und den Handelskonflikt zwischen den USA und der EU. Es gibt auch längst eine Verselbständigung der protektionistischen Tendenzen. Beispielsweise befindet sich Japan mit Südkorea in einem heftigen Handelskrieg, der teilweise einen politischen Hintergrund hat. [7] Und Teile der in Großbritannien herrschenden Klasse können sich vorstellen, mit dem Brexit – der ja im ökonomischen Kern Protektionismus zum Ausdruck bringt – besser zu fahren als mit einer Freihandelszone in der EU.

Was der Protektionismus im Fall der USA charakterisiert, wurde bereits beschrieben: Es handelt sich um ein Machtmittel, um den ökonomischen Verfall zu bremsen und um diese Entwicklung, die Mitte der 1970er Jahre mit der Niederlage in Vietnam begann, nach Möglichkeit umzudrehen. Eben: „Make America great again!“ Der Protektionismus ist aber auch allgemeine Begleiterscheinung einer massiv verschärften innerimperialistischen Konkurrenz. Und er ist ein Vorbote noch größerer Krisen als diejenige, die wir 2007 bis 2009 erlebt haben. Insofern wirkt der Verweis des Sachverständigenrates auf die 1920er und 1930er Jahre wie das sprichwörtliche Pfeifen im Wald. Alles, was vor dem Ersten Weltkrieg den Kapitalismus „auszeichnete“, was so massiv abstoßend und zerstörerisch an ihm war, wird seit rund 15 Jahren wieder ganz nach oben auf die ökonomische Agenda gesetzt. Die Gefahr einer großen Krise und großer Kriege inbegriffen (siehe die Quartalslü ge auf den Seiten 4 und 5).
 

Die Weltkonjunktur im Herbst 2019

Vor dem Hintergrund dieser zwei wichtigen Elemente, die den Rahmen abgeben, ergibt sich das folgende Bild der Weltkonjunktur und der wirtschaftlichen Lage in den großen Zentren des Weltkapitals. Vorwegnehmend und zusammengefasst gilt: Sehr viel spricht dafür, dass die neue weltweite Krise bereits begonnen hat. Sie hat den Welthandel und einen der drei großen Blöcke, die EU, erfasst. Sie hat einen Kernbereich der chinesischen Industrie – die Autoindustrie – erfasst. Und sie ist dabei, noch vorhandene Stützpfeiler der Konjunktur im dritten großen Block, in den USA, zu zerstören.
 

Welthandel und Welt-BIP

Der Welthandel – also der Welt-Export und der Welt-Import – war bereits 2018 rückläufig. Dass dennoch das Welt-BIP nochmals wuchs, bedeutet, dass es weiter ein Binnenwachstum – ein Wachstum innerhalb der einzelnen Volkswirtschaften respektive in den Blöcken – gab. 2019 wird der Welthandel ein weiteres Mal rückläufig sein. Laut Analyse der niederländischen ING-Bank von Mitte September wird es bei den weltweiten Ausfuhren und Einfuhren einen weiteren, wenn auch leichten, Rückgang um 0,2 Prozent geben. Das ist in Zeiten, in denen allerorten von Globalisierung die Rede ist, durchaus bemerkenswert, zumal die Commerzbank davon ausgeht, dass bereits ein langfristiger Prozess der De-Globalisierung eingesetzt habe. [8] Der weltweit größte Frachtkonzern, FedEx – er wickelt pro Tag 15 Millionen Sendungen ab – geht ebenfalls von einem Welthandelsrückgang 2019 aus. Der Konzern hat wegen einem Rückgang der Frachtaufträge bereits 20 Transportflugzeuge stillgelegt. [9]

Das Welt-BIP dürfte 2019 zwar nochmals moderat wachsen. Doch der Kern der kapitalistischen Weltökonomie, der industrielle Sektor, nähert sich bereits einer Stagnation. Im ersten Halbjahr 2019 sank die industrielle Produktion in der Eurozone, in Japan und in Südkorea. Im zweiten Quartal soll nach einigen Angaben auch die chinesische industrielle Produktion rückläufig gewesen sein. Laut US-Bank JPMorgan befindet sich Mitte 2019 die Weltindustrie „im vierten Monat in Folge in Kontraktion“. Die deutsche Industrie befinde sich sogar „im freien Fall“ – was übertrieben zu sein scheint. [10]
 

Eurozone

In der Eurozone – in wirtschaftlicher Hinsicht weitgehend identisch mit der EU – gab es im zweiten Quartal nur noch ein 0,2-Prozent-BIP-Wachstum. Die Industrie der Eurozone war, wie berichtet, im ersten Halbjahr rückläufig. Während Frankreich und Spanien noch ein bescheidenes Wachstum aufweisen, befinden sich die italienische und die deutsche Wirtschaft bereits in der Rezession. Das deutsche BIP schrumpfte im 2. Quartal um 0,1 Prozent. Da, ebenfalls wie erwähnt, die industrielle Produktion in der BRD seit Monaten rückläufig ist, bilanzierte die Börsen-Zeitung am 9. September: „Nun stehen die Zeichen klar auf Rezession in der größten EU-Volkswirtschaft, die mehr als alle anderen auf den Export angewiesen ist.“ Das gelte bereits jetzt, noch ohne Berücksichtigung der negativen Effekte, die ein Brexit-Vollzug Ende Oktober mit sich bringen könnte. Wie ernst die deutschen Unternehmer selbst die Situation einschätzen, kommt darin zum A usdruck, dass sie bereits jetzt Hilfe von dem (an sich doch eher wenig geliebten) Staat anforderten. [11] Wie kritisch die Europäische Zentralbank (EZB) die Lage einschätzt, wird damit dokumentiert, dass sie im September ein ganzes Bündel von Maßnahmen wie Zinssenkung und ein neues Programm zum Anleihenkauf verkündete, um „auf die sich abzeichnende Abkühlung der Konjunktur und der sinkenden Inflationsprognosen zu reagieren.“ Dazu gab es die bezeichnende Schlagzeile: EZB schießt aus allen Rohren. [12]
 

China

Die Meldungen zur wirtschaftlichen Lage in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, zugleich der weltweit größte Exporteur, sind widersprüchlich. Nach offiziellen Angaben gab es im ersten Halbjahr 2019 in China weiterhin ein ansehnliches BIP-Wachstum von durchschnittlich gut 6 Prozent. Das ist allerdings das niedrigste Wachstum seit Jahrzehnten. Und es ist vor allem weniger als von der Partei- und Staatsführung vorgegeben – als von ihr dafür als notwendig erachtet wird, um den Transfer von Millionen von Menschen, die Jahr für Jahr vom Land in die Städte kommen – und in der Landwirtschaft freigesetzt werden – zu ermöglichen.

Der Absatz von Autos ist in China deutlich rückläufig – zum ersten Mal überhaupt. Chinas Automarkt stürzt ungebremst, so eine Schlagzeile im September. [13] Der Rückgang – so die Einschätzung im September – ist nochmals deutlich massiver als ursprünglich angenommen. Er liegt in den ersten acht Monaten bei gut 15 Prozent (im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum). [14] Die Einbrüche im Automobilsektor finden trotz massiver Gegenmaßnahmen wie Steuerreduktionen (Senkung der Mehrwertsteuer in der gesamten chinesischen Industrie von 16 auf 13 %) und Förderung der E-Auto-Motorisierung statt. Dabei leiden vor allem die chinesischen Hersteller unter der Branchenkrise; die ausländischen Hersteller, insbesondere diejenigen, die große Pkw, vor allem SUVs, herstellen, konnten sich bisher relativ stabil halten und damit im sich verkleinernden Markt ihre Markanteile ausbauen. Das gilt beispielsweise – noch – für Daimler, Audi, BMW und VW (so viel zum „anderen Weg“, den China im Bereich Automotorisierung angeblich beschreitet).

Die Autobranche und die mit ihr verbundene Ölindustrie sind auch in China inzwischen bestimmend für die Industrie als Ganzes; sie spielen in der gesamten Wirtschaft eine herausragende Rolle. Damit hat sich die Struktur von Chinas Ökonomie weitgehend derjenigen angepasst, die in Nordamerika, in Japan und Südkorea und in Westeuropa vorherrscht. Vor einem Jahrzehnt waren Eisenbahnbetreiber, Bahntechnik-Konzerne, die Stahlbranche und der Maschinenbau noch vorherrschend. Die drei chinesischen Konzerne, die bis 2018 in die Spitzengruppe der 10 größten Konzerne der Welt aufgestiegen sind, sind zwei Öl-Riesen und ein Energieversorger. Nimmt man die 119 chinesischen Unternehmen, die im Jahr 2018 Teil der „Global 500“, der nach Umsatz 500 größten Konzerne der Welt, waren, dann ist die Öl-Auto-Flugzeugbau-Gruppe auch hier mit 20 Unternehmen vorherrschend. [15] Es ist kaum vorstellbar, dass der beschriebene Einbruch auf Chinas Pkw-Absatzmarkt bzw. in der chinesischen Autoproduktion sich nicht zu einem deutlichen Rückgang in der gesamten chinesischen Industrie ausweitet.

Die staatlichen Stützungsmaßnahmen, die in diesem Zyklus in China ausgesprochen früh einsetzen, führen auch dazu, dass sich die Verschuldung im Land deutlich erhöht. Alle privaten, öffentlichen und Unternehmensschulden entsprachen im Jahr 2008, zu Beginn der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise, 164 Prozent des chinesischen BIP. Mitte 2019 entsprechen diese Schulden bereits 275 Prozent des China-BIP. Da ein erheblicher und ein wachsender Teil der Verschuldung von sogenannten Schattenbanken getragen wird, muss von einer wachsenden Labilität des chinesischen Finanzsektors ausgegangen werden.

Die Wachstumsdelle in China, die absehbare industrielle Kontraktion und die mögliche erste größere Rezession der chinesischen Wirtschaft haben deutliche Rückwirkungen auf die übrigen Sektoren des Weltkapitals. Das gilt vor allem für die exportstarken Staaten, zuallererst für Deutschland. Der Anteil der China-Exporte am gesamten deutschen Export lag 2009 bei 4,6 Prozent. 2019 liegt er bereits bei 7,2 Prozent. Mindestens so wichtig ist die Produktion deutscher Unternehmen in China selbst. VW setzt in China inzwischen mehr Autos ab als in ganz Europa. Davon werden gut 90 Prozent in China selbst produziert. Insgesamt haben die deutschen Autohersteller inzwischen 30 Fabriken in China; 2010 waren es erst acht. Eine Krise in Chinas Autobranche ist heute identisch mit einer Krise der internationalen Autoindustrie.

USA

Die USA blieben bislang eine wichtige Stütze der Weltkonjunktur. 2018 wuchs die US-Wirtschaft um 2,9 Prozent. 2019 dürfte es nochmals ein – allerdings bereits deutlich niedrigeres – BIP-Wachstum geben, wenn auch eher nahe 2 Prozent. Im zweiten Quartal lag das US-BIP-Wachstum bei 2 Prozent. Dieses Wachstum wird im Wesentlichen von den Verbrauchern getragen – eine für US-Verhältnisse niedrige Arbeitslosigkeit, im Durchschnitt leicht steigende Reallöhne und die Niedrigzinsen bilden dafür die Grundlage. Der niedrige Ölpreis begünstigt die Situation; einmal Volltanken kostet so wenig wie seit langem nicht mehr.

Die Basis dieser langen guten Konjunktur ist allerdings fragil. Der Handelskrieg mit China und hier die Zölle auf chinesische Importe werden sich mittelfristig in höheren Konsumwarenpreis niederschlagen. Trump verschob eine neu angekündigte Erhöhung von Zöllen auf chinesische Waren auf Ende 2019 – eindeutig mit –Blick auf das Weihnachtsgeschäft, das nicht zu sehr eingetrübt werden sol. Kurzfristig werden die höheren Zölle noch durch eine Abwertung der chinesischen Währung ausgeglichen.

Es war nicht zuletzt das 2018 wirksam gewordene massive Steuersenkungspaket mit einem Volumen von 1,9 Billionen US-Dollar und einer Absenkung der Unternehmenssteuern von 35 auf 21 Prozent, das die Unternehmen beflügelt hat. Allerdings mündete dies in erster Linie in einem exzessiven neuen Boom von Immobilienspekulation und in dem gigantischen Aufkauf eigener Aktien. 2018 gaben die US-Unternehmen 800 Milliarden US-Dollar für den Aufkauf eigener Aktien aus – was teilweise noch über Kredite finanziert wurde (siehe ausführlich in LP21, Heft 44, S. 33). 2019 zeichnet sich ein Rückgang dieser Sonderstütze der Konjunktur ab. In jedem Fall handelt es sich um eine künstliche Maßnahme, die die Aktienkurse spekulativ hoch hält – und damit auch einen spektakulären Verfall denkbar sein lässt. Vor allem führte das Steuersenkungsprogramm zu einer rapide wachsenden Staatsverschuldung. Trump war als neuer US-Präsident ausdrücklich mit dem Ziel angetreten, binnen acht Jahren, in zwei Amtsperioden, den Schuldenberg des US-Staates komplett abzutragen. Damals betrugen die addierten öffentlichen Schulden 19,5 Billionen US-Dollar. Nach zwei Dritteln seiner ersten Amtszeit ist der Schuldenberg auf 22 Billionen angewachsen – und der Anstieg beschleunigt sich noch. Das Haushaltsdefizit liegt bei 4,4 Prozent des BIP – weit höher, als es Maastricht-Kriterien und Weltbank-Richtlinien vorsehen. Von Schuldenabbau ist nicht mehr die Rede. Der Handelskrieg und die Hochrüstung kosten hunderte Milliarden US-Dollar im Jahr – wobei ein Teil dadurch „gegenfinanziert“ wird, dass Sozialprogramme und Umweltausgaben drastisch reduziert werden.
 

Gefährliche Zuspitzung und die sich abzeichnende neue Massenarbeitslosigkeit

Der Handelskrieg in Kombination mit der Abkühlung der Weltkonjunktur und vor dem Hintergrund einer neuen weltweiten Rezession droht sich zuzuspitzen. Die US-Regierung hat im September erstmals massiv die US-Unternehmen aufgefordert, sich aus China zurückzuziehen. „Wir brauchen China nicht und, offen gesagt, würde es uns ohne China sehr viel besser gehen.“ So lautete Ende August eine Twitter-Botschaft von Mr. President. Das wirkte bizarr – und wurde auch so in den europäischen Medien kommentiert. Aber das war unangemessen. Es gibt seit zwei Jahren einen Prozess des Rückzugs von US-Kapital in China. Die Zuspitzung des Handelskriegs kann diese Entwicklung durchaus beschleunigen und den Twitter-Präsidenten bestätigen. Auf der anderen Seite steht die chinesische Regierung innenpolitisch – auch aufgrund der politischen Zuspitzung in Hongkong – unter erheblichem Druck, der US-Politik Paroli zu bieten. Ein Mittel dabei kann der Verkauf von US-Anleihen sein . China ist der größte Gläubiger der USA. Das Land befindet sich im Besitz von US-Staatsanleihen im Wert von 1,11 Billionen US-Dollar. Mitte 2019 wurde bekannt, dass China in den vorausgegangenen zwölf Monaten bereits US-Bonds im Wert von 69 Milliarden US-Dollar verkauft hat. Ein massenhafter Verkauf der Treasuries wird als Pekings „nukleare Option“ bezeichnet. Diese hätte ohne Zweifel negative Rückwirkungen auf China selbst. Und in jedem Fall könnte ein solcher Massenverkauf das gesamte Weltfinanzsystem zum Einsturz bringen. Chinas Partei- und Staatsführung dürfte sich dessen bewusst sein – und möglicherweise rationaler handeln als die US-Regierung. Doch es geht eben nicht in erster Linie um die Subjekte und deren Vernunft oder Unvernunft; es geht um die dem System Kapitalismus innewohnenden Tendenzen, die – aus Sicht menschlicher Bedürfnisse – irrational und zerstörerisch sind.

Der Chef der US-amerikanischen Notenbank, Jerome Powell, der eigentlich ein Trump-Mann ist und von diesem in das Top-Amt der US-Notenbank gehievt wurde, warnte im August vor der Eigendynamik des Handelskriegs. Er sieht darin eine große Gefahr für eine kommende weltweite Krise. Donald Trump griff Powell darauf ein weiteres Mal frontal an und twitterte: „Meine einzige –Frage lautet: wer ist unser größerer Feind, Jay Powel [sic] oder der Vorsitzende Xi?“ [16] Kurz darauf gab Powell nach und senkte ein zweites Mal binnen weniger Wochen den Zinssatz (nun auf eine Spanne von 1,75 bis 2 %). Das heißt aber auch, dass die Notenbank bereits zu einem Zeitpunkt mit akzeptablem Wirtschaftswachstum ihr Pulver verschießt – und in einer Zeit mit tatsächlicher Krise über keine wirksamen Möglichkeiten mehr verfügt, um wirksam gegensteuern zu können.

Just dies ist auch die Situation in der Eurozone, wie es in einem Kommentar nach den jüngsten EZB-Maßnahmen hieß:

„Die Notenbank muss fürchten, dass sie mehr und mehr die Erwartung verankert, dass die EZB gerade nicht mehr der Garant für stabile Preise ist, sondern [...] immer hektischer feuert. Das jüngste Bündel an weitreichenden Maßnahmen sorgt eher für ein Gefühl der Unsicherheit [...] Die Lage, in die sich die EZB manövriert hat, birgt drei schwere Risiken: Erstens dass die Politik des offenen Portemonnaies bereits jetzt jede Menge Nebenwirkungen entfaltet, die vor allem die Banken belasten. Zweitens dass die Notenbank in Zeiten negativer Zinsen und billionenschwerer Anleiheprogramme keine Pfeile mehr im Köcher hat, um einzugreifen, falls sie im Fall einer echten Wirtschaftskrise [...] dringend gebraucht würde. Und drittens dass mit jedem Maßnahmepaket das Vertrauen in die Zentralbank als letzte Bastion der Glaubwürdigkeit in s chwierigen Zeiten erodiert.“ [17]

Letzten Endes zahlen die arbeitenden Menschen und die sozial Schwachen die Zeche, die die kapitalistische Ökonomie und diejenigen, die sie scheinbar dirigieren, zubereiten. Ein Prozess von Massenentlassungen kündigt sich an. Die Pläne der globalen Banken liefen bereits im August auf einen Abbau von mehr als 35.000 Arbeitsplätzen hinaus. Die Pleite des Reiseveranstalters Tom Cooks wird mindestens 20.000 Arbeitsplätze vernichten. Nach den im September vorliegenden Plänen der deutschen Autobauer werden in den nächsten zwei bis drei Jahren 15.000 bis 20.000 Arbeitsplätze abgebaut werden. Im Südwesten gab es im September eine weitgehend unkommentierte, aber im Grunde spektakuläre Pleite des Autozulieferers Eisenmann mit dem Verlust von 3000 Jobs. All das dürfte erst der Anfang sein. Von „Alarmsignalen“ spricht zu Recht eine Kommentatorin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. [18]

Geben wir nochmals Bertolt Brecht alias Ziffel das Wort:

„Ich stelle fest, dass das Leben in den Zentren der Zivilisation so verwickelt geworden war, dass auch das beste Gehirn es nicht mehr überblicken [...] konnte. Mit unserer ganzen Existenz hängen wir also von einer Wirtschaft ab, und sie ist eine so komplizierte Angelegenheit, dass, sie zu überblicken, so viel Verstand nötig ist, als es überhaupt nicht gibt. Hier hatten Menschen eine Wirtschaft aufgebaut, die zu überblicken Übermenschen nötig waren!“ [19]

* * *

Anmerkungen

1. Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche, Gesammelte Werke, Band 14, Seite 1419.

2. Kieler Konjunkturberichte, herausgegeben vom IfW Kiel Institut für Weltwirtschaft, Mittelfristprojektion für Deutschland im Herbst 2019, vom 12. September 2019.

3. Jahresgutachten des Sachverständigenrats, November 2018, Seite 11.

4. Hannes Hofbauer, Den Kapitalismus retten – eine Strategiediskussion hochrangiger Denkfabriken, Lunapark21, Heft 44, Seite 36 ff.

5. In: Standard vom 15. Juni 2019 (Verfasser des zitierten Beitrags ist Eric Frey).

6. Thomas Jahn, Tech-Konzerne folgen Trump, in: Handelsblatt vom 21. Mai 2019.

7. Das Oberste Gericht in Seoul verurteilte im Herbst 2018 zwei japanische Unternehmen dazu, Entschädigung an koreanische Zwangsarbeiter zu zahlen, die während der Kolonialzeit und im Zweiten Weltkrieg für diese Unternehmen arbeiten mussten. Japan strich im August 2019 Südkorea von der 27 Länder umfassenden „weißen Liste“ von Ländern, die einen bevorzugten Handelsstatus genießen. Nach: Japan verschärft Konflikt mit Südkorea, in: Börsen-Zeitung vom 3. August 2019.

8. Welthandel nimmt dieses Jahr ab, in: Börsen-Zeitung vom 19. September 2019.

9. FedEx shares drop 14 % on sales gloom, in: Financial Times vom 15. September 2019.

10. “The manufacturing surveys released over the past week confirmed entrenched weakness. The JPMorgan global index saw its fourth month of contraction – the longest decline since 2012. It is also the most severe. More than half of the 30 countries tracked have manufacturing sectors in decline. Europe is hurting the most, with industry-intensive Germany in freefall. The export-dependent economies in Asia have also seen sharp declines.” In: Financial Times vom 7. September 2019.

11. Deutsche Wirtschaft fordert Hilfe und Rezessionsängste schüren Debatte über Konjunkturstütze” – zwei Überschriften aus den Ausgaben der Börsen-Zeitung vom 15. und vom 23. August 2019.

12. Börsen-Zeitung vom 13. September 2019.

13. Börsen-Zeitung vom 18. September 2019.

14. Der folgende Artikel zur Weltautobranche wurde Anfang September in den Satz gegeben; der Artikel zur Weltlage konnte Daten bis zum 22. September 2019 berücksichtigen. Wir verzichteten aus technischen und Zeit-Gründen darauf, den nachfolgenden Artikel nochmals „anzupassen“.

15. Nach: Global 500, in: Fortune vom 26. August 2019. Die erwähnten drei China-Kolosse unter den zehn größten Unternehmen der Welt sind: Sinopec (Öl; Rang 2), China National Petroleum (Rang 4), State Grid (ein Energieversorger; Rang 5). Der größte chinesische Autokonzern ist SAIC; er rangiert unter „Global 500“ auf Rang 39.

16. Powell warnt vor Risiken der Handelspolitik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. August 2019.

17. Die unendliche Geschichte, in: Börsen-Zeitung vom 13. September 2019.

18. Susanne Preuß, Alarmsignale im Südwesten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. September 2019.

19. Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche, a. a. O., S. 1420.


Zuletzt aktualisiert am 29. Juni 2023