Clara Zetkin

 

Die geistige Krise der bürgerlichen Gesellschaft und der ideologische Kampf der Kommunistischen Partei

Diskussionsrede auf dem VII. Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale

(26. November 1926)


Protokoll. Erweiterte Exekutive der Kommunistischen Internationale. Moskau, 22. November bis 16. Dezember 1926, Hamburg/Berlin 1927, S.250-256.
Zetkin, Clara: Zur Theorie und Taktik der kommunistischen Bewegung, Leipzig 1974, S.403-413.
Kopiert mit Dank von der verschwundenen Webseite Marxistische Bubliothek.
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Alle Sektionen der Komintern begrüßen es sicherlich anerkennend, daß der Versuch unternommen wird, von einer allgemeinen Analyse der Weltlage überzugehen zu der genauen und eingehenden Zergliederung und Durchleuchtung der wirtschaftlichen und politischen Tatbestände, Erscheinungen und Vorgänge in den einzelnen Ländern oder auch Ländergruppen, eine eingehende Zergliederung und Durchleuchtung dieser Faktoren mit ihrer Miteinander-, Aufeinander- und Gegeneinanderwirkung zu geben. Die Komintern als Ganzes und in ihren einzelnen Teilen erhält dadurch einen festgegründeten Boden für ihre Arbeit und ihren Kampf als führende revolutionäre Weltorganisation des Proletariats.

Im Mittelpunkt unserer Untersuchungen steht die Stabilisierung des Kapitalismus, mit anderen Worten: der Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Es versteht sich, daß wir als Marxisten die letzte, entscheidende Triebkraft des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses in der Wirtschaft suchen. Dementsprechend suchen wir Aufschluß zu erlangen über das Bestehen, die Stärke und das Tempo der kapitalistischen Stabilisierung, indem wir mit aller Gewissenhaftigkeit reichhaltiges Zahlenmaterial über die Produktion studieren, den Handel, die Kurszettel der Börse und andere Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens verfolgen. Dadurch gewinnen wir nicht nur außerordentlich wertvolles, sondern auch unentbehrliches Material zur Frage der Stabilisierung des Kapitalismus.

Meiner Auffassung nach müssen wir jedoch den Blick über die Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens und seiner Auswirkungen in der Politik hinaus lenken auf die Vorgänge, die sich – von der Politik abgesehen – auf den Gebieten des Überbaus der bürgerlichen Gesellschaft abspielen. Der Kapitalismus ist ein organisches Gesellschaftsganzes, für dessen Grundlage, wie es in dem Briefe unseres Altmeisters Engels an Bloch über den historischen Materialismus heißt, das ökonomische Moment das in letzter Instanz bestimmende ist; jedoch ist es nicht das einzige bestimmende Moment in der Geschichte. Wir wissen, daß fortwährende Wechselwirkungen zwischen der wirtschaftlichen Basis und dem Überbau der Gesellschaft stattfinden.

Wollen wir eine klare, erschöpfende Antwort auf die Frage bekommen, wie es sich mit der Stabilisierung des Kapitalismus verhält, so müssen wir außer den politischen Vorgängen auch die Erscheinungen in anderen Teilen des ideologischen Überbaus der Gesellschaft betrachten. Was zeigt uns da ein Blick auf die Gegenwart? Daß der gesamte Überbau der kapitalistischen Wirtschaft eine tiefe, andauernde und zunehmende Erschütterung erleidet. Diese elementare Erschütterung des ideologischen Überbaus der bürgerlichen Gesellschaft zeigt uns klar das eine: Die Stabilisierung des Kapitalismus ist nur eine zeitweilige, eine vorübergehende Erscheinung und außerdem ein außerordentlich zerbrechliches Ding.

Wie könnte es auch anders sein! Die Gegensätze und Widersprüche des Kapitalismus in den Tiefen der Produktion bewirken nicht bloß, daß die wirtschaftliche Kruste der Stabilisierung bald hier, bald da zerbirst; sie bewirken nicht nur Verschiebungen und Verlagerungen in den sozialen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft und in ihrem gegenseitigen Kräfteverhältnis, ebenso wie in dem Interessen- und Machtverhältnis der Staaten zueinander: Sie bewirken auch Erschütterungen des gesamten Überbaus, die ihrerseits wieder in die Tiefe zurückwirken. Die tragenden Pfeiler und Säulen des kapitalistischen Überbaus beginnen zu wanken und zu schwanken; sie zerbröckeln; glühende Lavaströme und heiße Aschenregen verwüsten und vernichten die früher blühenden Gärten der bürgerlichen Ideologie, der Weltanschauung der bürgerlichen Gesellschaft.

Die Entwicklung nähert sich mehr und mehr jenem Punkt, wo nach Marx der Besitz nur noch durch Diebstahl, das Recht nur noch durch Mord und Meineid gewährleistet wird. Mein verehrter Freund Rjasanow, der große Marx-Kenner, wird mir verzeihen, wenn ich nur dem Sinn nach, nicht wörtlich zitiere. Dafür will ich einige soziale Erscheinungen der Gegenwart anführen, die Marx' Worte vollauf bestätigen: Der Besitz wird nur noch durch Diebstahl gewährleistet.

Genossen und Genossinnen, haben wir nicht in diesen Tagen erlebt, daß der Besitz der Hohenzollern durch einen Diebstahl am Volksvermögen, wie er riesiger nicht gedacht werden kann, gewährleistet worden ist? Dieser Diebstahl bleibt Diebstahl, auch wenn er durch parlamentarische Formeln geheiligt worden ist und die Sozialdemokratie im Preußischen Landtag bei diesem Diebstahl geholfen hat. Die 14½ Millionen Männer und Frauen, die beim Volksentscheid die Enteignung der Fürsten gefordert haben, müssen die sogenannte Abfindung als Diebstahl empfinden.

Eine andere soziale Erscheinung, die die gleiche Lehre gibt: Über Deutschland, Polen, Österreich und noch andere Länder sind die Schrecken der Inflation gegangen. In Frankreich begannen sie, und mein Freund Semard stellte hier mit Recht fest, daß der jetzigen offiziellen Deflation eine heimliche, versteckte Inflation zur Seite geht. Was ist die Inflation, bei Licht betrachtet? Sie ist die Gewährleistung, ja sogar Vergrößerung des Besitzes einer winzigen Minderheit von Großindustriellen, Handelsherren, großen Agrariern und Finanzkapitalisten durch den Raub des Vermögens der kleinen Sparer, durch den Raub vom Munde des Proletariats, dessen Reallöhne gesenkt werden. Was ist die Inflation anderes als Diebstahl?

Eine andere Begleiterscheinung der Stabilisierung des Kapitalismus: der Zerfall des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft, seine Umwandlung in Mord und Meineid Erinnern Sie sich an die Fememordprozesse in Deutschland! Was sind sie anderes als Legalisierung des Mords und des Meineids? Das gleiche gilt von dem Matteotti-Prozeß in Italien, von den zahllosen anderen faschistischen Prozessen dort, ebenso von den Urteilen des weißen Justizterrors in einer Reihe von anderen Ländern. Es ist ein großes Verdienst der Internationalen Roten Hilfe, dieser parteilosen Massenorganisation, daß sie den Zerfall dessen, was sich in der bürgerlichen Gesellschaft Recht nennt, illustriert durch bergehohes Material über das Wüten des weißen Justizterrors überall dort, wo die Massen der Werktätigen gegen die Knechtung durch den Besitz vorstoßen.

Ein anderes Gebiet des Überbaus des Kapitalismus, des sich rationalisierenden und sich stabilisierenden Kapitalismus, das Allerheiligste der bürgerlichen Gesellschaft, ist die Eigentumsfamilie, zu deren Wesenszügen Kauf- und Schacherehe gehören und als ihre Ergänzung die Prostitution. Diese Familie ist die legal anerkannte Form des Sexuallebens und soll der Gesellschaft einen körperlich und geistig gesunden Nachwuchs verbürgen. Unter dem Anprall der sich revolutionierenden wirtschaftlichen Verhältnisse zerfällt die bürgerliche Familie, neue Formen des Sexuallebens suchen sich herauszubilden. Die überkommene bürgerliche Familie verliert in wachsendem Maße die Kraft, die Entwicklung eines gesunden nachwachsenden Geschlechts sicherzustellen, den größten Reichtum der Gesellschaft.

Zwei Massenerscheinungen sind dafür charakteristisch: die Bewegung für die Aufhebung der Bestrafung der Abtreibung und die Bewegung für die sogenannte Geburtenkontrolle, das heißt die Verhütung der Empfängnis. Hier zeigt sich eine Loslösung des Sexuallebens von der Mutterschaft, die mangelnde Wertung der Mutterschaft als sozialer Funktion und die Ohnmacht der Gesellschaft, das neue Leben materiell zu schützen. Verschiedenartige Bewegungen und eine umfangreiche Literatur für die Reform des sexuellen Lebens in der Familie verkünden den unaufhaltsamen Verfall der alten Ordnung trotz der wirtschaftlichen Stabilisierung. Aus ihnen allen geht die Unmöglichkeit hervor, die einschlägigen Probleme auf dem Boden des Kapitalismus zu lösen. Der Auflösung der bürgerlichen Familie entströmt Fäulnisgeruch.

Die Religion hat ihre lebensbeherrschende, lebensregelnde Kraft verloren, sie wirkt nicht mehr gesellschaftsgestaltend. Sie ist nach dem Worte von Karl Marx nur noch Opium für das Volk. Die Gebildeten bedürfen eines feineren Narkotikums. Sie greifen vom kirchlichen Dogma zur Mystik, zum Buddhismus und ähnlichen überholten Ideologien.

Auch die bürgerliche Wissenschaft hat heute die gesellschaftsformende Kraft eingebüßt, sie wirkt nicht mehr lebensbejahend. Sie hat auf einzelnen Gebieten, zumal auf denen der Naturwissenschaften, große Fortschritte zu verzeichnen, aber die Ergebnisse der Geistes- und Naturwissenschaften werden nicht mehr zusammengefaßt zu einer einheitlichen, geschlossenen, klaren Weltanschauung.

Der Mangel [an] einer solchen Weltanschauung drückt sich auch in der Literatur aus, tritt auf jedem Gebiet der Kunst in Erscheinung. Die steigende Zersetzung und Auflösung der bürgerlichen Welt gibt dem gesamten Kulturleben unserer Zeit das Gepräge. Sie springt besonders scharf ins Auge auf dem Gebiet der sogenannten Volksbildung, von der Volksschule bis zur Presse. Der Verfall, die Korruption der Presse ist offensichtlich.

Und wie steht es mit der Entwicklung der Volksschule in den verschiedenen Ländern? Das republikanische Frankreich, das demokratische Deutschland können um die Ehre streiten, wo die meisten Maßregelungen von Volksschullehrern stattfinden, die sich dagegen auflehnen, die Volksschule zu einer Drillanstalt kapitalistischer Gesinnung zu erniedrigen, sie zu mißbrauchen zur Heranzüchtung von gefügigem Maschinen- und Kanonenfutter. Der Abstieg der bürgerlichen Kultur tritt kraß zutage in dem Reichsschulgesetzentwurf der deutschen Regierung, der die Volksschule der Verpfaffung ausliefert.

Es wäre durchaus irrig, den kulturellen Niedergang in Deutschland allein durch die wirtschaftliche Not des besiegten Staates zu erklären. Nehmen wir ein Land des aufstrebenden, des lebenskräftigen Kapitalismus, betrachten wir die Vereinigten Staaten! Und was sehen wir dort? Eine Pressekorruption, die zum Himmel stinkt, wie sie Upton Sinclair in seiner Schrift Der Sündenlohn geschildert hat; eine vollständige Abhängigkeit der höheren Bildungsanstalten und Bildungsmittel von den Kapitalmagnaten, wie sie Upton Sinclair in seinem Parademarsch stäupt. Die geistige Physiognomie dieses bürgerlich-freiheitlichen Landes ist ein Gemisch von Zügen eines grausamen, habgierigen, nüchtern rechnenden Geschäftssinnes und sentimental salbadernder religiöser Heuchelei. Die Kultur des stabilisierten Kapitalismus der ganzen Welt wird gekennzeichnet durch den „Affenprozeß“.

Kurz, überall Verfallserscheinungen, Zersetzungserscheinungen im Überbau des Kapitalismus. Verfalls- und Zersetzungserscheinungen, die uns auf das entschiedenste verwehren, an eine wirkliche, an eine länger dauernde Stabilität des Kapitalismus zu glauben.

Im schroffsten Gegensatz dazu steht der revolutionäre neue Aufbau in der Sowjetunion, der sozialistische Aufbau der Sowjetunion unter der proletarischen Diktatur. Dieser Aufbau beschränkt sich nicht auf die sozialistische Gestaltung der Wirtschaft, nein, er greift weit darüber hinaus, er schafft auch im gesellschaftlichen Überbau neue Beziehungen von Mensch zu Mensch, Beziehungen, die befreit sind von der knechtenden Macht des Eigentums.

Schaut das blühende, reiche Leben, das sich auf der Grundlage der sozialistischen Wirtschaft in der Sowjetunion in allen Teilen des gesellschaftlichen Überbaus entwickelt! Wirtschaftliche und soziale Einrichtungen verbürgen die volle Gleichstellung der Frau mit dem Mann. Die Mutterschaft wird als gesellschaftliche Leistung anerkannt und das Recht des Kindes auf die Pflege und Erziehung durch die Gesellschaft sicherzustellen gesucht. Neue Formen werden gesucht für die Erziehung der Kinder, eine Umwälzung des gesamten Rechts vollzieht sich. treuer Inhalt sucht nach neuen Formen in der Wissenschaft, in der Kunst, auf allen Gebieten der Kultur.

Genossen und Genossinnen, unter der proletarischen Diktatur entsprießt überall schöpferisches Leben, wenn auch noch nicht zur Blüte ausgereift, aber doch bereits so kräftig, daß wir von seinem späteren vollkommenen Erblühen und Reifen überzeugt sein dürfen.

Wenn wir die Stabilisierung des Kapitalismus mit der höchsten Energie bekämpfen wollen, wenn wir trotz Stabilisierung, trotz Rationalisierung, trotz aller anderen Gewalten an die Niederschlagung, an die Zertrümmerung des Kapitalismus und an die Befreiung des Proletariats glauben, so müssen wir den Blick nicht nur in die Tiefen der Gesellschaft richten, sondern auch auf den ideologischen Überbau der Gesellschaft. Tod, Zersetzung, Fäulnis auf allen Gebieten der bürgerlichen Gesellschaft, neues, kräftiges schöpferisches, fruchtbares Leben dort, wo das Proletariat die wirtschaftliche und politische Herrschaft der Bourgeoisie niedergeworfen hat und den Kapitalismus überwindet und auf der Grundlage einer sozialistischen Wirtschaft auch einen neuen, sozialistischen Überbau errichtet.

Die Betrachtung der Verfallserscheinungen im Überbau der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Bedeutung für die Stabilisierung des Kapitalismus liegt nicht abseits von unserem Kampf und ist keine müßige Gedankenspielerei. Vergessen wir nicht, daß der Kapitalismus nicht bloß herrscht dank seiner wirtschaftlichen und politischen Machtmittel, sondern daß er auch herrscht durch seine Ideologie und die von ihr gestalteten Einrichtungen und Formen des Überbaus. Die bürgerliche Weltanschauung bestimmt noch die Einstellung breiter werktätiger Massen zum Kapitalismus, sie verdunkelt ihren Blick für die geschichtliche Notwendigkeit seiner Vernichtung, für das geschichtliche Muß des kommunistischen Aufbaus Alle Einrichtungen des ideologischen Überbaus sind Bastionen der Klassenherrschaft der Bourgeoisie, von denen aus sie eine knechtende Gewalt über das Proletariat ausübt. Die kapitalistische Ideologie liefert der Bourgeoisie Waffen, die sie gegen das Proletariat kehrt.

Je mehr und je schärfer wir erkennen, daß der ideologische Überbau des Kapitalismus in die Brüche geht, je kühner wir dadurch in die entstehenden Breschen der bürgerlichen Gesellschaft vordringen, je rücksichtsloser wir die ideologischen Waffen der Bourgeoisie abstumpfen und zerbrechen, um so machtvoller und erfolgreicher werden auch die Massen im Kampf gegen den Kapitalismus, seine Stabilisierung und alle Methoden seiner Ausbeutung und Knechtung. Dazu kommt noch ein anderes: Der Zerfall, die Zersetzung des ideologischen Überbaus der bürgerlichen Gesellschaft führt dem revolutionären kämpfenden Proletariat neue Bundesgenossen zu unter der Voraussetzung, daß wir die vor sich gehende Entwicklung klar erkennen und kraftvoll auszunutzen verstehen.

Nicht bloß Hunderttausende, nein, Millionen leiden nicht nur unter der unmittelbaren materiellen Auswirkung der kapitalistischen Gewalt, Millionen leiden, weil sie nicht mehr einen ernsten, verpflichtenden, mit der Gesellschaft verbindenden Lebensinhalt finden. Die bürgerliche Ideologie wirkt nicht länger gesellschaftserhaltend, sie gibt keinen Ausblick auf ein Entrinnen aus der Not der Zeit. Es gibt nicht nur Hunderttausende, es gibt Millionen, die unter dem Verfall, unter der Fäulnis im ideologischen Überbau des Kapitalismus genauso schmerzlich leiden wie andere unter dem Mangel an einem Stück Brot, unter dem Mangel an einem schützenden Dach. So können wir Kämpfer gewinnen nicht nur aus dem Proletariat, sondern auch aus den klein- und mittelbürgerlichen Schichten.

Indem wir die ideologischen Verfallserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft verfolgen, indem wir ihre Ursachen aufdecken, indem wir ihnen den Ausweg zeigen, der allein aus dem Elend herausführt, sammeln und schulen wir weitere Kämpferscharen, die in Einheitsfront gegen den sich stabilisierenden Kapitalismus vorstoßen. Und gerade die Notwendigkeit, diese Massen aufzuklären, an uns zu ziehen, erheischt die allerschärfste Trennung unserer grundsätzlichen Auffassung, unserer ideologischen Einstellung von der bürgerlichen Ideenwelt, auch in ihrer sozialdemokratisch-reformistischen Verkleidung.

Gerade indem wir auch den Verfall des ideologischen Überbaus der bürgerlichen Ordnung zu einem Ausgangspunkt unserer Gesellschaftskritik, unseres revolutionären Kampfes machen, ergibt sich die vollständige Scheidung von den Reformisten, von den Sozialdemokraten. Warum? Deswegen, weil wir dadurch gezwungen sind, unsere eigene kommunistische Ideologie mit größter Klarheit herauszuarbeiten, Grundsätzlichkeit gegen Grundsatzlosigkeit zu stellen. Es gibt kein ideologisches Gebiet des verfallenden ideologischen Überbaus des Kapitalismus, wo nicht die Sozialdemokratie herbeieilt, um zu stützen und zu schützen. Wir dagegen setzen alle Kräfte daran, den Kapitalismus zu stürzen und damit die Bahn für die neue Gesellschaft freizulegen. Das ist unmöglich ohne Aufnahme des Kampfes auch auf ideologischem Gebiet bei vollster Ausnützung aller Zerfalls- und Zersetzungserscheinungen und in heißem Ringen mit der Sozialdemokratie.

Und noch eins: Es ist kein Zweifel, daß der Blick auf die Zerfalls- und Zersetzungserscheinungen im ideologischen Überbau des Kapitalismus die kämpf enden Massen des Proletariats, der Werktätigen überhaupt, mit Kampfesentschlossenheit, mit Kampfeswillen und Siegeszuversicht erfüllt. Das aber sind wesentliche Faktoren für Kampf und Sieg.

Unser Genosse Kuusinen hat in seinem Bericht, meines Erachtens mit vollem Recht, darauf hingewiesen, daß die Verbindung zwischen den Teil- und Tagesforderungen, die wir stellen, und dem großen geschichtlichen Ziel der Eroberung der Macht noch vielfach recht äußerlich, recht mechanisch ist. Wie kann dem abgeholfen werden? Nicht nur dadurch, daß wir politisch alle unsere Forderungen Glied für Glied in einer logisch zusammenhängenden Kette aneinanderschmieden, von der Abwehr der steigenden Verelendung, der Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen durch den sich stabilisierenden Kapitalismus bis zum revolutionären Kampf für die Eroberung der Macht, nein, auch dadurch, daß wir alle unsere Forderungen und Ziele innerlich, organisch miteinander verbinden.

Das geschieht, indem wir in alle Tageskämpfe die volle revolutionäre, kommunistische Idee hineintragen. Der Kampf gegen die Verlängerung der Arbeitszeit, gegen die Steigerung der Intensität der Arbeit und damit gegen die Herauspressung des Letzten an Muskel- und Nervenkraft aus den Arbeitern, der Kampf gegen die Senkung der Löhne auch nur um einen Pfennig muß durchglüht werden von unserer grundsätzlichen, revolutionären Einstellung gegen den Kapitalismus, die bürgerliche Ordnung. Auch diese Tageskämpfe, diese Kämpfe um sogenannte kleine Dinge, müssen getragen werden von dem Bewußtsein, dem Willen der Proletarier, der Werktätigen:

Ecrasons l'infàme! Zerschmettern wir die Schändliche, zerschmettern wir die kapitalistische Ordnung!

Genossen und Genossinnen! Karl Marx hat in seinen Thesen über Feuerbach gesagt: „... die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“

Die Wahrheit dieses Wortes steht vor uns geschichtlich verwirklicht, lebenskräftig, schöpferisch da in Gestalt der Sowjetunion und ihres sozialistischen Ausbaues. Die Idee, die die Massen ergriffen hat, steht als die revolutionäre zerschmetternde Gewalt des Roten Oktobers vor uns. Die bolschewistische Partei hat es verstanden, die Idee von der Notwendigkeit der Machteroberung zum Kampfesziel der Massen zu erheben. Sie hat es verstanden, im Bürgerkrieg und im Krieg gegen die Intervention und die Blockade der kapitalistischen Staaten, im Ringen gegen Hunger und Frost die revolutionäre Idee der Massen zum entschlossensten Verteidigungswillen zu steigern. Die Idee wurde Gewalt, die über alle Feinde der proletarischen Diktatur triumphierte. Die bolschewistische Partei hat in Millionen und aber Millionen von Werktätigen die Idee zur Gewalt gemacht, zur unwiderstehlichen Siegesmacht, die den sozialistischen Aufbau durchführt.

Genossen und Genossinnen, lernen wir für unsere Kämpfe von dem Beispiel, das uns die Oktoberrevolution und ihre Führerin, die Kommunistische Partei der Sowjetunion, gegeben hat. Rings auf dem Erdball, überall, wo noch der Kapitalismus herrscht, wo er sich stabilisiert, wo er rationalisiert, geraten die ausgebeuteten Massen in Gärung, in Bewegung. Tragen wir in alle sich erhebenden Massen die revolutionäre, die kommunistische Idee hinein, daß der Kapitalismus vernichtet werden muß! Als Idee von Millionen wird sie Gewalt. Wenn uns das gelingt, diese Gewalt zu entfesseln, sie in jedem Tageskampf, auch bei der unscheinbarsten Kleinarbeit zur Geltung zu bringen, wenn es uns gelingt, die Massen in Bewegung zu setzen, geführt von der revolutionären Idee, dann brauchen wir keine Stabilisierung des Kapitalismus zu fürchten. Dann können wir sagen trotz Stabilisierung des Kapitalismus, trotz Rationalisierung: Unser die Welt trotz alledem! Die unwiderstehliche Gewalt der revolutionären Idee unter die Massen getragen, bedeutet Fortschreiten der proletarischen Weltrevolution, bedeutet unaufhaltsamen Sieg der proletarischen Weltrevolution.


Zuletzt aktualisiert am 19.7.2008