Clara Zetkin

 

Lenins Werk

(19. Januar 1928)


Internationale Presse-Korrespondenz (Berlin), Nr. 6 vom 19. Januar 1928, S.107/108.
Clara Zetkin, Für die Sowjetmacht, Artikel, Reden und Briefe, Berlin 1977, S.441-448.
Kopiert mit Dank von der verschwundenen Webseite Marxistische Bubliothek.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Lenin hat durch die Tat bewiesen, daß er unser genialster, unser bester Führer war. Die proletarische Revolution Rußlands steht vor uns, das gewaltigste Ereignis dieser Zeit, der erste große historische Beweis für Marxens Lehre, daß die Befreiung des Proletariats aus dem Joche des Kapitalismus das Werk des Proletariats selbst sein muß. Steht es damit vielleicht in Widerspruch, daß – soweit geschichtliches Geschehen eines Menschen Werk sein kann – die Revolution, die Sowjetrußland geschaffen hat, Lenins Werk ist? Keineswegs. Lenin war unbestritten das denkende, lenkende Hirn, das leidenschaftlich glühende Herz, der unbeugsame Wille der proletarischen Revolution. Lenin aber konnte das nur sein, weil zwei Quellströme revolutionärer Schöpfungskraft sich in ihm vereinigten. Er war bis in die tiefsten und letzten Fasern seines Wesens von der Überzeugung erfüllt, daß die wirtschaftliche, die gesellschaftliche Entwicklung zur Verwirklichung des Kommunismus durch das Proletariat führt und daß die Eroberung der Macht der große, entscheidende weltgeschichtliche Schritt zu diesem Ziel ist. Er war bis in die tiefsten, letzten Fasern seines Wesens mit den russischen Proletariern und Bauern, den Ausgebeuteten und Unterdrückten der ganzen Welt verbunden. Er liebte sie um ihres Leidens und Duldens willen, das er als eigene Qual empfand, und er achtete sie, hatte unerschütterliches Vertrauen zu ihnen als den revolutionären Kämpfern gegen die Ausbeutungs- und Herrschaftsgewalt des Besitzes, als den Werkleuten eines neuen, vollkommenen Gesellschaftsbaus. So lebte und webte in Lenin die wissenschaftliche Lehre des revolutionären internationalen Sozialismus zusammen mit dem besten, fortgeschrittensten Fühlen und Denken, Erkennen, Wollen und Handeln des Proletariats. Beides verschmolz miteinander zu einem unlöslichen Ganzen. Das höchste geschichtliche Wesen des Proletariats als revolutionärer Klasse fand in Lenin klaren Ausdruck, gab seinem Riesenwillen das leuchtende Ziel und befeuerte seine nie ermattende Tatkraft. In lebendiger Wechselwirkung aber brachte Lenin den Massen der Mühseligen und Beladenen eben dieses, ihr historisches Wesen und ihre Bedeutung als revolutionäre Klasse, zum Bewußtsein und ballte ihre erweckte Erkenntnis zu revolutionärem Willen und revolutionärer Tat zusammen. Lenin und das russische Proletariat, das Weltproletariat wurden eins. Mit dem Herzen und [dem] Verstand ging er in die Arbeiterschaft ein. Nie war er zufriedener, glücklicher, als wenn er unmittelbar unter den Arbeitern und Bauern lehrte, organisierte und die Geister vorbereitete, die politische Macht in die eigene starke Faust zu nehmen und auf dem steinigen, dornenreichen Weg zum Kommunismus vorwärtszuschreiten. Lenin ward der große, der unsterbliche Arbeiter der Weltrevolution.

Von Plechanow war Lenin zu Marx geführt worden. Jedoch er blieb nicht bei Plechanow stehen, und er setzte nicht nur Marxens Lehre in die Tat um, er ergänzte sie und entwickelte sie weiter, auch dabei die Theorie zur Praxis gestaltend. Dank unermüdlichem Studium, schärfster Beobachtung aller sozialen Vorgänge und Erscheinungen und lebendigstem Zusammenhang mit den fronenden Massen gewann er die überragende Einsicht und Kraft, Plechanows Werk gegen Plechanow selbst zu verteidigen, als dieser zum Menschewik wurde und mehr und mehr die frühere klare, revolutionäre Orientierung verlor. Er kehrte die Waffen erbarmungsloser Kritik gegen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, gegen alle in Rußland und jenseits seiner Grenzen, deren Lehren und Handeln das revolutionäre Bewußtsein des Proletariats trüben, seine revolutionäre Tatkraft schwach und siech machen konnten.

Was Marx, der Weitsichtige, in seinem Bürgerkrieg in Frankreich nur angedeutet hatte, arbeitete Lenin als festbegründete, wegweisende Erkenntnis heraus. Nämlich, daß das Proletariat den politischen Machtapparat der Bourgeoisie nicht einfach übernehmen und in den Dienst seiner Interessen stellen kann, daß es vielmehr den bürgerlichen Staat zerschlagen und seinen eigenen staatlichen Machtapparat schaffen muß. Er entdeckte, daß die Sowjets diesen Machtapparat bilden, daß sie das Werkzeug sind für die Durchführung der proletarischen Diktatur. In Verbindung mit dieser grundlegenden Theorie setzte sich Lenin eingehend, lichtvoll mit der bürgerlichen Demokratie auseinander als der höchsten und letzten politischen Form der bürgerlichen Klassenherrschaft. Unerbittlich zerfetzte er alle Illusionen, als ob dem Proletariat durch die Demokratie erspart werden könne, den harten, opferreichen Weg des revolutionären Klassenkampfes, des Bürgerkrieges zu gehen, um zur Freiheit, um zum Kommunismus zu gelangen. Die Richtigkeit seiner theoretischen Auffassung bewies er durch die proletarische Revolution in Rußland.

In der Partei der Bolschewiki, der jetzigen Kommunistischen Partei, schuf Lenin das starke Verbindungsglied zwischen sich und den breitesten schaffenden Massen. Gewiß, Hunderte, Tausende Ungenannter und Unbekannter, ein Stab glänzender Führer haben hingebungsvoll ihre Kraft, ihr Leben an das Werden und Reifen dieser Partei gesetzt. Nichtsdestoweniger bleibt es wahr, daß sie Blut vom Blut und Geist vom Geist Lenins ist. Mehr als jeder andere hat er dazu getan, daß die bolschewistische Partei sich ideologisch und organisatorisch zur führenden Klassenpartei des Proletariats in der russischen Revolution entwickelt hat, daß die Kommunistische Partei Sowjetrußlands heute führend als Musterpartei an der Spitze der Kommunistischen Internationale steht. Sie ist beispielgebend durch ihren festen, geschlossenen Aufbau als Organisation, eine Organisation, die Trägerin und Werkzeug zielklarer revolutionärer Einsicht, eisenharten revolutionären Willens und schrankenloser Hingebung an die Sache des Proletariats ist. Denn es ist und bleibt eine Binsenwahrheit, daß nicht die Organisationsform allein, wie wichtig sie auch ist, über das Wesen und Wirken einer Partei entscheidet. Letzten Endes ist es der revolutionäre Geist in ihr, der Leben und Tat gibt. In dieser Beziehung verdankt die Kommunistische Partei Rußlands Lenin Wertvollstes. Um den Preis einer Trennung von Martow und Genossen setzte er durch, daß laut Statut die Partei keine nur zahlenden Mitglieder duldet, daß jedes Mitglied sich aktiv betätigen muß. So ist die Partei eine Erzieherin großen Stils zu revolutionärem Pflichtbewußtsein und revolutionärer Pflichterfüllung geworden. Nur so konnte sie ihre schwere geschichtliche Aufgabe erfüllen, das Empfinden revolutionärer Notwendigkeit und die Kampfentschlossenheit breitester Massen rasch der Führung zu übermitteln und die Erkenntnis, den Opfersinn, die Kühnheit der Führung in diesen Massen lebendig wirksam zu machen. Die Führung aber war vor allem: Lenin. Dank ihm fand die revolutionäre Situation revolutionäre proletarische Massen und eine führende Klassenpartei, die einander ebenbürtig waren.

Der Bedeutung und dem Wert von Lenins Werk als unvergleichlicher Führer der proletarischen Revolution in Rußland steht zur Seite seine weltgeschichtliche Leistung als Schöpfer und Führer der Kommunistischen Internationale. Sie ist nicht mechanische Wiederholung und Übertragung „des russischen Beispiels“ auf ein umfangreicheres, weltweites Wirkungsfeld. Die Kommunistische Internationale ist eine Schöpfung für sich, so innig und fest auch die historischen Zusammenhänge sind, die sie mit der russischen Revolution und ihrem Leben, ihrer Entwicklung verbinden. Befruchtet durch die reichen, unerschöpflichen Lehren der russischen Revolution, angespornt durch das unvergleichliche Heldentum, den kühnen Sinn, die Opferbereitschaft des russischen Proletariats, soll die Kommunistische Internationale für das Weltproletariat die gleiche historische Aufgabe lösen, die die bolschewistische Partei für die Arbeiter Rußlands erfüllt hat. Sie soll eine zielklare, wegsichere Führerin in den revolutionären Kämpfen sein, die mit der Eroberung der Staatsmacht durch das Proletariat die Bahn frei legen für den Aufbau des Kommunismus.

Es liegt auf der Hand, wie ungeheuer schwierig die Aufgabe ist, die von der Geschichte der Kommunistischen Internationale gestellt wurde. Es gilt, das gleiche Ziel zu erreichen und dafür in der ganzen Welt in internationaler Solidarität die Ausgeplünderten und Versklavten zu mobilisieren, die mehr als durch die Sprache getrennt sind durch die verschiedensten Stufen der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung und ihren Niederschlag in der Psyche der Menschen. Sicherlich: Der Weltkapitalismus hat nivellierend, ausgleichend gewirkt, indem er den Proletarier in England, den Fellachen in Ägypten, den indischen Bauern unter eine Ausbeutung und Peitsche brachte. Jedennoch: Welch ungeheures Beginnen, diese Massen, diese bunten, verschiedenartigen Riesenmassen zusammenzuballen in einem einheitlichen Zielwillen und zu einer einheitlichen Tat! Solche Zusammenballung hat zur Voraussetzung den felsenfesten Glauben daran, daß die vereinigten Proletarier, die Unterdrückten aller Länder – mit den Worten des Kommunistischen Manifests – durch den revolutionären Kampf „nichts zu verlieren haben als ihre Ketten und eine Welt zu gewinnen“. Sie hat zur Voraussetzung die klarste, schärfste Herausarbeitung des Allgemeinen, Verbindenden im Hinblick auf das Ziel und die klügste, liebevollste Beachtung und Berücksichtigung des historisch Gegebenen als des Ausgangspunktes für das zu Erreichende.

Der Führer der russischen Revolution und der bolschewistischen Partei war wie niemand sonst berufen, zum Begründer und Führer der Kommunistischen Internationale zu werden. Großrußland ist eine Internationale, eine Welt der sozialen Entwicklungsetappen im kleinen, die Überreste des urwüchsigen Kommunismus wie Massenausbeutung und Massenknechtung durch den Kapitalismus umschloß. Tagtäglich wird in der Folge die russische Revolution vor Probleme der Nationalität und Internationalität gestellt. Jedoch mehr als alles legitimierte die russische Revolution selbst in den Augen des Weltproletariats Lenin als den geborenen und in strenger Zucht geschulten und gestählten Führer der Kommunistischen Internationale. Sie schrieb die Urkunde seiner reifen Meisterschaft. Und wahrhaftig, er hat diese Meisterschaft unter den schwierigsten Umständen bewahrt seit den ersten Anfängen dieser Kampforganisation der Enterbten und Unfreien aller Länder bis zu dem letzten Tage, an dem er an ihrem Erblühen und ihrem Eingreifen in die Geschichte teilhaben konnte.

Für ungezählte Millionen Befreiungssehnsüchtiger war Lenins Name das Symbol ihrer Hoffnungen und ein Synonym der russischen Revolution. Er vereinigte die revolutionäre Vorhut des Proletariats der einzelnen Länder in dem Drängen nach einer Internationale der Tat, einer Weltorganisation, die im Zeichen der russischen Revolution stehen, kämpfen, siegen würde. Lenins Initiative ist es in hervorragendem Maße zu verdanken, daß dieses Drängen im März 1919 Leben und Gestalt gewann. Bei jedem Schritt nach vorwärts in der Entwicklung der Kommunistischen Internationale ging er wegweisend, tätig voran. Die feste Zusammenschweißung der einzelnen kommunistischen Landesparteien zu einer einheitlichen, straff zentralisierten Weltorganisation unter einheitlicher, strenger Disziplin; die reinliche Scheidung der Kommunisten von den Reformisten, Zentristen und Halbzentristen auf der einen Seite, von den unklaren Stimmungsrevolutionären und Putschisten auf der anderen; die Sammlung der breitesten Massen des Proletariats wie aller sozialen Schichten, die in steigenden Gegensatz zu der Ausbeutungs – und Knechtschaftsmacht des Kapitals geraten, in [der] Einheitsfront zum Kampf für die Eroberung der politischen Macht und die Aufrichtung der proletarischen Diktatur: All das sind Marksteine der Geschichte des revolutionären Weltproletariats, die unverwischbar und unzerstörbar den Namen Lenins tragen.


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008