Protokoll des Internationalen Arbeiter-Congresses in Paris (1889)

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Montag, den 15. Juli. Abend-Sitzung

Den Vorsitz führt der Bürger Brandt, welcher seinen Dank ausspricht für die Ehre, die man in seiner Person dem Schweizer Freistaate erweist. Die Schweiz rechnet in dem Kampfe um’s Dasein, den sie gegenwärtig zu bestehen hat allewege auf die französisch Republik, welche der Bürger Brandt eine Schwesterrepublik nennt. Wenn er hier Frankreich speziell begrüßt, so soll darin jedoch kein Aufruf einer Nationalität gegen eine andere liegen. Die Schweiz ist ja in der That eine Zusammenfügung verschiedener Nationalitäten, welche unter der Aegide derselben Gesetze in Friede und Freiheit mit einander auskommen. Die zu diesem Congreß gesandten Delegirten vertreten die Gesammtheit des Schweizer Proletariats (Beifall), welches diesen großen Verhandlungen der Männer der Arbeit um so mehr Interesse und Sympathie zuwendet, weil grade die Schweiz sich das Verdienst der Initiative bezüglich eines internationalen Arbeiterschutzgesetzes erworben hat. Diese Pariser Vereinigung der Arbeiter-Organisationen und der Socialistenparteien der ganzen Welt ist ein Pfand des Friedens, dieses Friedens, den allein die zu politischen Parteien zusammengetretenen Arbeiter ernstlich anstreben, eben so, wie sie allein die Freiheit und das Wohlergehen der Völker anstreben (Bravo).

Hierauf werden die seit dem Mittag eingetroffenen Telegramme und Zustimmungsadressen verlesen.

Bürger Lavigne, Berichterstatter für Frankreich, meldet das Eintreffen neuer Delegirter, unter welchen sich ein Gesandter der Bergarbeiter-Gewerkschaft des Loire-Departements befindet, Bürger Ottin, mit dem zwingenden Mandat, sich nur dem sogenannten „Marxisten«“-Congreß anzuschließen (Beifall).

Bürger Georg M. Hugh verliest eine Sympathie-Erklärung der American Federation of Labor, unterzeichnet vom Präsidenten Samuel Gompers, welche eine Erklärung enthält, dahin lautend, daß die Federation durch die Achtstundenbewegung zu sehr in Anspruch genommen sei, um einen Vertreter zum Congreß senden zu können, und welche die Vereinigung mit dem Possibilisten-Congreß und größeste Umsicht bei allen zu fassenden Beschlüssen anempfiehlt.

Bürger de Paepe theilt den Brief des National-Rathes der Belgischen Arbeiter-Partei mit, der an beide Congresse gerichtet ist und also lautet:

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Brüssel, 9. Juli 1889.

An die Vorstandsmitglieder und die Delegirtenversammlung des Internationalen Socialistencongresses zu Paris.

Bürger!

Die Belgische Arbeiter-Partei, überzeugt von der zwingenden Nothwendigkeit, alle socialistischen Arbeiterkräfte der Welt in ein einziges Bündel zusammenzufassen, gehorcht einer gebieterischen Pflicht, indem sie sich an Euch mit der Bitte wendet, Euch ihr anzuschließen bei dem Bemühen, die beiden nach Paris berufenen Socialistencongresse in einen zu verschmelzen.

Es handelt sich hier um das höchste Interesse des gesammten socialistischen Proletariats. Es gibt nicht zwei internationale socialistische Proletariate, es gibt nur eins; es gibt nicht zwei internationale Socialdemokratien, es gibt nur eine. Das heißt: ein Congreß muß genügen und zwei Congresse sind ein Moment der Schwäche für heute und eine Gefahr für morgen. Auf die Dinge zurückzukommen, welche zur Einberufung zweier Congresse geführt haben, ist unnütz. Was geschah, ist abgethan. Dringend und unerläßlich ist es, daß die Partei, welche dem Privatkapital seine Vorrechte und seine Herrschaft aufrecht hält, keine Gelegenheit finde, zu applaudiren bei dem Schauspiel der Zersplitterung der Arbeiterkräfte.

Alle Länder sind auf dem Pariser Congreß vertreten; Alle wollen eine brüderliche Verständigung im internationalen Socialismus. Mögen sie die Verschmelzung der beiden Congresse beschließen, und diese Verständigung wird sich vollziehen, wie sie sich vollziehen soll.

Alle socialistischen Arbeitergruppen streben darnach, zusammen zu marschiren, eng verbunden, auf dem Wege zur Verwirklichung des socialistischen Ideale. Da die Menge sich entschieden hat, und da man eine demokratische Partei ist, hat man sich zu beugen und zu gehorchen. Das verlangt die Arbeiterpartei, das erklärt sie jedem der beiden Congresse.

Und wenn – was ein wirkliches Unglück wäre – wenn dies Verlangen nicht befolgt würde, erklärt sie den Delegirten, daß man um jeden Preis eine Verschärfung der durch die Einberufung zweier Congresse hervorgerufenen Gegensätze vermeiden muß. Sie beansprucht die Ehre, den nächsten internationalen Socialistencongreß, für 1890 oder 1891, zu sich einluden zu dürfen. Die Annahme dieses Vorschlags in jeder der beiden Versammlungen würde die Beendigung der Doppelheit des internationalen Socialistencongresses gestatten.

Die Arbeiterpartei Belgiens grüßt Euch brüderlich und ladet die Vertreter der anderen ausländischen Socialistenparteien ein, sich ihr behufs einer festen und definitiven Organisation der gesammten Socialdemokratie anzuschließen .

Für die belgische Arbeiterpartei im Namen des Generalraths der Sekretär Gustave Defuet.

Bürger Lafargue theilt mit, daß der Bürger Keir Hardie 60,000 schottische Bergarbeiter vertritt.

Im Namen des Bureau’s stellt der Vorsitzende folgende Anträge:

  1. Meldungen zum Wort müssen schriftlich erfolgen (einstimmig angenommen).
     
  2. Abstimmungen erfolgen nach Köpfen, außer wenn die gesammte Delegation eines Landes für einen bestimmten Fall Abstimmung nach Nationalitäten Verlangt.
     
  3. Täglich soll von Morgens 9 Uhr bis Nachmittags 2 Uhr eine Sitzung stattfinden, am Mittwoch Abend 8 Uhr eine Abendsitzung, ein großes öffentliches Meeting am Sonnabend Abend und ein Schluß-Banket am Sonntag.

13 Bürger Volders will auf keinen Fall die Abstimmung nach Köpfen zulassen, da dieselbe aus eine Majorisirung des Congresses durch die Franzosen hinauskomme. Er fragt an, welche Gründe das Bureau gehabt habe, diesen Modus der Abstimmung vorzuschlagen.

Bürger Vaillant antwortet im Namen des Bureau’s, daß auf einem internationalen Congreß die Nationalität keine Bedeutung habe. Es soll hier nicht länger Franzosen, Deutsche, Belgier etc. geben, sondern nur Mitglieder einer großen internationalen Socialistenfamilie.

Bürger Keẞler will selbst als Ausnahme keine Abstimmung nach Nationalitäten zulassen. Es gibt hier nur ein einziges Proletariat, in welchem weder große noch kleine Nationalitäten, die majorisiren oder majorisirt werden könnten, einen Platz finden. Er bemerkt außerdem einen Grund der Praxis dafür, sich an die Abstimmung nach Köpfen zu halten, weil nämlich die andere Abstimmungsweise das Beiseitetreten der Delegirten einer jeden Nation zur Verständigung über ihr nationales Votum erfordern würde, wodurch man eine kostbare Zeit unnüẞ verliere.

Bürger Bebel entgegnet, die Abstimmung nach Nationalitäten müsse für gewisse Fälle aufrecht gehalten werden, damit denjenigen Socialisten-parteien, welche, wie die deutsche Socialdemokratie, Ausnahmegesetzen unterstellt seien, die Möglichkeit gewährt werde, sich von etwaigen Beschlüssen, für welche sie keine Verantwortung übernehmen kann, loszutrennen.

Mit großer Majorität wird angenommen, daß die Abstimmung nach Köpfen Regel ist und daß im Falle, die Delegirten eines Landes verlangen einstimmig die Abstimmung nach Nationalitäten, diese als Ausnahme zugelassen wird.

In einer langen Debatte verlangen einerseits die Bürger Guillot, Brunet und Duprès Abendsitzungen in größeren Sälen zu Zwecken der Propaganda und Agitation, und erklären andererseits die Bürger Antide Boyer, Vaillant und Bebel, daß ein internationaler Congreß eine ganz andere Aufgabe habe: die Verständigung zwischen den Arbeitern allerorts zu einer gemeinsamen Aktion, worauf der Congreß den Vorschlag des Bureau’s betreffs der Zeit der Sitzungen annimmt.

Die Sitzung wird geschlossen, nachdem man an die Spitze der Tagesordnung für die nächste Sitzung die Einigungsfrage gesetzt hat.

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Zuletzt aktualisiert am 26. Dezember 2022