G.W.F. Hegel

Philosophische Propädeutik

Erster Kursus. Unterklasse. Rechts-, Pflichten-, und Religionslehre.

 

 

Einleitung

§1

Der Gegenstand dieser Lehre ist der menschliche Wille und zwar nach dem Verhältnis des besonderen Willens zum allge­meinen Willen. Als Wille verhält der Geist sich praktisch. Das praktische Verhalten, wodurch er in seine Unbestimmtheit eine Bestimmung oder an die Stelle in ihm ohne sein Zutun vor­handener Bestimmungen andere aus sich selbst setzt, ist von seinem theoretischen Verhalten zu unterscheiden.

§2

Das Bewusstsein überhaupt ist die Beziehung des Ich auf einen Gegenstand, es sei ein innerer oder äußerer. Unser Wissen ent­hält teils Gegenstände, welche wir durch sinnliche Wahrneh­mungen erkennen; teils aber Gegenstände, die in dem Geist selbst ihren Grund haben. Jene machen die sinnliche, diese die intelligible Welt aus. Die rechtlichen, sittlichen und religiösen Begriffe gehören zur letzteren.

§3

In der Beziehung des Ich und des Gegenstandes auf einander ist Ich: 1) als passives und der Gegenstand als die Ursache von Bestimmungen in mir. In diesem Fall kommen die bestimmten Vorstellungen, die ich in mir habe, daher, dass unmittelbar vor­handene Gegenstände auf mich einen Eindruck machen. Dies ist das theoretische Bewusstsein. Sei es, dass es sich als wahrneh­mend oder als Einbildungskraft oder als denkend verhalte, so ist sein Inhalt immer ein schon gegebener und vorhandener und im Denken das an sich Seiende sein Inhalt. — 2) Hingegen er­scheint Ich als praktisches Bewusstsein, wenn die Bestimmungen des Ich nicht nur Bestimmungen seines Vorstellens und Den­kens sein, sondern in äußerliches Dasein treten sollen. Hier be­stimme ich die Dinge oder bin die Ursache von Veränderungen der gegebenen Gegenstände.

§4

Das praktische Vermögen bestimmt sich überhaupt innerlich, aus sich selbst. Der Inhalt seiner Bestimmungen gehört ihm an und es erkennt sie für die seinigen. — Diese Bestimmungen sind aber zunächst nur innerliche und also von der Realität der Äußerlichkeit getrennt, aber sie sollen äußerlich werden und sich realisieren. Dies geschieht durch das Handeln, durch welches die innerlichen praktischen Bestimmungen eine Äußerlichkeit, d. h. ein äußerliches Dasein erhalten. — Umgekehrt kann dies auch so betrachtet werden, dass eine vorhandene Äußerlichkeit aufgehoben und mit der innerlichen Bestimmung übereinstim­mend gemacht wird.

§5

Die innerliche Bestimmung des praktischen Bewusstseins ist nun selbst entweder Trieb oder eigentlicher Wille. Der Trieb ist ein natürliches Selbstbestimmen, welches auf beschränkten Gefüh­len beruht und einen beschränkten Zweck hat, über den es nicht hinausgeht, oder es ist das unfreie, unmittelbar bestimmte, nie­dere Begehrungsvermögen, nach welchem sich der Mensch als Naturwesen verhält. — Durch die Reflexion geht er über den Trieb und dessen Schranken auch hinaus. Er vergleicht ihn durch sie nicht nur mit den Mitteln seiner Befriedigung, sondern auch diese Mittel, so wie die Triebe selbst unter einander und mit den Zwecken seines Wesens und überläßt sich mit dem Schluss der Reflexion entweder der Befriedigung des Triebes, oder er hält sie auf und entsagt ihr.

§6

Der eigentliche Wille oder das höhere Begehrungsvermögen ist: 1) reine Unbestimmtheit des Ich, die als solche keine Beschrän­kung noch einen durch die Natur unmittelbar vorhandenen In­halt hat und an sich gegen jede Bestimmtheit gleichgültig ist; 2) kann ich zugleich zu einer Bestimmtheit übergehen und die eine oder andere zur meinigen machen, die ich alsdann in Wirk­lichkeit versetze.

§7

Die abstrakte Freiheit des Willens besteht also in jener Unbe­stimmtheit oder Gleichheit des Ich mit sich selbst, worin eine Bestimmung nur ist, insofern er sie zur seinigen macht oder in sich setzt; zugleich aber darin mit sich selbst gleich bleibt und von jeder Bestimmung wieder abstrahieren kann. — Es können zwar dem Willen von Außen mancherlei Reizungen, Beweg­gründe, Gesetze vorgelegt werden, aber, wenn der Mensch den­selben folgt, so geschieht es nur, insofern der Wille selbst sie zu den seinigen macht und sich dazu entschlossen hat. — Dies ist auch der Fall mit den Bestimmungen des niederen Begehrungs­vermögens oder dem, was aus den natürlichen Trieben und Nei­gungen herkommt.

§8

Die Schuld hat der Wille insofern, als: 1) seine Bestimmung nur von ihm selbst zu der seinigen gemacht ist oder seinem Ent­schlusse angehört: ich habe gewollt; 2) insofern ein Wille die Bestimmungen kennt, die durch seine Handlung, wie sie in sei­nem Entschluss liegt, hervorgebracht werden oder die notwendig und unmittelbar mit ihr zusammenhängen.

§9

Die Tat ist überhaupt die hervorgebrachte Veränderung und Bestimmung des Daseins. Zur Handlung aber gehört nur das­jenige, was von der Tat im Entschlusse liegt oder im Bewusstsein war, was somit der Wille als das Seinige anerkennt.

§10

Der freie Wille als frei ist ferner nicht an die Bestimmtheit und Einzelheit, wodurch ein Individuum sich von einem andern unterscheidet, gebunden, sondern er ist allgemeiner Wille und der Einzelne ist nach seinem reinen Willen ein allgemeines Wesen.

§ 11

Der Wille kann zwar mancherlei äußerlichen d. h. nicht aus sei­nem Wesen hervorgehenden Inhalt in sich aufnehmen und zum seinigen machen. Insofern bleibt er nur der Form nach sich ; gleich, nämlich, dass er sich bewusst ist, von jedem Inhalt so­gleich wieder abstrahieren und seine Reinheit wiederherstellen zu können, nicht aber dem Inhalt und Wesen nach. Er ist inso­fern überhaupt nur Willkür.

§12

Dass aber der Wille wahrhaft und absolut frei sei, kann das, was er will, oder sein Inhalt, nichts Anderes sein, als er selbst. Er kann nur in sich selbst wollen und sich zum Gegenstande haben. Es will also der reine Wille nicht irgend einen besondern Inhalt um seiner Besonderheit willen, sondern dass der Wille als sol­cher in seinem Tun frei sei und freigelassen werde, oder dass der allgemeine Wille geschehe.

Die nähere Bestimmung und Entwicklung von diesem allgemei­nen Grundsatze des Willens stellt die Rechts- Pflichten- und Religionslehre dar.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.11.2007