Alexander Berkman

 

ABC des Anarchismus

 

Was ist Anarchismus?

„Können Sie mir kurz erklären“, fragt Ihr Freund, „was Anarchismus ist?“ Ich werde es versuchen. Kurz gesagt, der Anarchismus lehrt, daß wir in einer Gesellschaft frei von Zwang irgendwelcher Art leben können.

Ein Leben ohne Zwang bedeutet natürlich Freiheit; das heißt frei zu sein von Druck und Zwang, die Möglichkeit so zu leben, wie es Ihnen gefällt. Solch ein Leben können Sie aber nicht führen, bevor Sie nicht die Institutionen abschaffen, die Ihre Freiheit einschränken und in Ihr Leben eingreifen, sowie die Zustände, die Sie anders handeln lassen, als Sie eigentlich wollen.

Welche Institutionen und Zustände sind das? Lassen Sie uns prüfen, was wir abschaffen müssen, um ein freies und harmonisches Leben führen zu können. Wenn wir erst einmal wissen, was abgeschafft und durch was es ersetzt werden muß, dann werden wir auch einen Weg zur Verwirklichung finden. Was muß also abgeschafft werden, um die Freiheit zu erlangen?

Zuerst natürlich einmal das, was am meisten in Ihr Leben eingreift, was Ihre Handlungsfreiheit stört oder einschränkt; das, was Ihnen die Freiheit nimmt und anders zu leben zwingt, als Sie es nach eigener Wahl tun würden.

Das ist die Regierung. Wenn Sie sie genau überprüfen, werden Sie erkennen, daß die Regierung der schlimmste Störenfried ist; mehr als das, der größte Verbrecher, den die Menschen je gekannt haben. Sie füllt die Welt mit Gewalt Betrug und Täuschung, mit Unterdrückung und Elend aus. Wie ein großer Philosoph einmal sagte: „Ihr Atem ist Gift.“ Sie verdirbt alles, was sie anfaßt. „Ja, die Regierung bedeutet Gewalt und ist ein Übel“, geben Sie zu, „aber können wir ohne sie auskommen?“

Genau darüber wollen wir diskutieren. Wenn ich Sie jetzt frage, ob Sie eine Regierung brauchen, so bin ich sicher, daß Sie nein sagen würden, aber daß die anderen sie brauchen. Aber wenn Sie einen der „anderen“ fragen, wird er wie Sie antworten: Er wird sagen daß er sie nicht braucht, aber daß sie „für die anderen“ notwendig ist. Warum glaubt jeder, daß er auch ohne Polizist anständig genug ist, aber daß der Knüppel „für andere“ benötigt wird?

„Die Menschen würden einander berauben und ermorden, wenn es keine Regierung und kein Gesetz gäbe“, sagen Sie. Wenn sie es wirklich tun würden, warum wäre das so? Würden sie es einfach um des Vergnügens willen oder aus einem bestimmten Grund tun? Wenn wir ihre Beweggründe untersuchen, dann werden wir vielleicht ein Heilmittel entdecken.

Stellen Sie sich vor, daß Sie, ich und ein paar andere Schiffbruch erlitten hätten und uns auf einer Insel voll von Früchten aller Art wiederfinden. Natürlich würden wir erst einmal gemeinsam Nahrung sammeln. Aber angenommen, einer von uns würde erklären, daß alles ihm gehöre und keiner nur einen Bissen bekommt, bevor er ihm nicht einen Tribut gezahlt hätte. Wir wären entrüstet, nicht wahr? Wir würden über seine Ansprüche lachen. Wenn er versuchen sollte, deswegen Schwierigkeiten zu machen, würden wir ihn vielleicht ins Meer werfen, und geschähe ihm recht, nicht wahr? Nehmen Sie weiterhin an, da8, wir selbst und unsere Vorväter eine Insel kultiviert und mit allem versehen hätten, was zu Leben und Wohlstand notwendig ist, und dann käme einer daher und würde behaupten, daß alles ihm gehöre. Was würden wir sagen? Wir würden ihn ignorieren, nicht wahr? Vielleicht würden wir ihm sagen, daß er seinen Beitrag leisten und sich an der Arbeit beteiligen kann. Aber angenommen, daß er auf seinem Eigentumsrecht besteht und ein Stück Papier vorzeigt und nachweist, daß alles ihm gehöre. Was würden wir sagen? Wir würden ihm sagen, daß er verrückt ist, und wieder unserer Arbeit nachgehen.

Aber wenn er eine Regierung hinter sich stehen hätte, dann würde er sie zum Schutz „seiner Rechte“ anrufen, und die Regierung würde Polizisten und Soldaten entsenden, die uns vertreiben und dem „rechtmäßigen Eigentümer“ seinen Besitz zurückgeben würden.

Das ist die Funktion der Regierung, dafür ist sie da und so handelt sie ständig. Glauben Sie nun immer noch, daß wir uns ohne dieses Ding, das sich Regierung nennt, gegenseitig berauben und ermorden würden? Ist es nicht eher so, daß wir mit einer Regierung rauben und morden? Weil die Regierung unseren rechtmäßigen Besitz nicht schützt, sondern – im Gegenteil – ihn uns sogar zum Vorteil derer wegnimmt, die kein Recht darauf haben, wie wir schon in früheren Kapiteln gesehen haben. Wenn Sie morgen früh aufwachen und erfahren sollten, daß es keine Regierung mehr gibt, würde dann ihr erster Gedanke sein, auf die Straße zu stürzen und jemand umzubringen? Nein, Sie wissen, daß das Unsinn ist. Wir sprechen über gesunde, normale Menschen. Kranke gehören in die Obhut von Ärzten und Psychiatern und sollten in Krankenhäuser gebracht und behandelt werden. Wenn Sie oder Herr Johnson aufwachen und keine Regierung mehr vorfinden, so wird es eher so sein, daß Sie beide sich eifrig bemühen werden, Ihr Leben den neuen Bedingungen anzupassen.

Es ist natürlich auch sehr gut möglich, daß Sie Essen fordern werden, wenn Sie Menschen sehen, die sich vollstopfen, während Sie hungrig sind; und Sie würden damit vollkommen recht haben. Genauso würde es jeder andere tun. Das heißt, daß die Menschen nicht für jemanden eintreten würden, der all die guten Dinge des Lebens an sich reißt. Sie möchten daran Anteil haben. Das heißt auch, daß die Armen sich weigern würden, weiterhin in Armut zu leben, wahrend die anderen in Luxus schwelgen. Das heißt, der Bauer wird nicht zulassen, daß tausende Hektar Land brachliegen, während er nicht über genug Boden verfügt, um sich und seine Familie zu ernähren. Das heißt, das keinem erlaubt wird, das Monopol an Land oder an den Produktionsmitteln an sich zu reißen. Das heißt, daß privates Eigentum an den Lebensgrundlagen nicht mehr länger toleriert würde. Es würde als das größte Verbrechen angesehen, wenn einige mehr besäßen en als sie selbst in mehreren Leben verbrauchen können, während ihre Nachbarn nicht genug Brot für ihre Kinder haben. Das heißt, daß alle Menschen am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben und beitragen, diesen Reichturn zu schaffen. Das heißt nichts weiter, als daß zum erstenmal in der Geschichte Recht, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung statt des Gesetzes siegen würden. Sie sehen also, die Abschaffung der Regierung hat auch die Beseitigung von Monopol und Privateigentum an den Produktions- und Vertriebsmitteln zur Folge.

Daraus folgt, mit der Abschaffung der Regierung verschwinden auch Lohnsklaverei und Kapitalismus, da sie ohne Unterstützung und Schutz der Regierung nicht bestehen können. Ähnlich wie der verrückte Anspruch des Mannes, von dem ich vorher sprach, der ein Monopol auf der Insel ohne Hilfe der Regierung nicht durchsetzen konnte. Der Zustand, in dem Freiheit eine Regierung ersetzt, wäre Anarchie. Und dort, wo gleichberechtigte Nutznießung an die Stelle von Privateigentum tritt, wäre Kommunismus. Es wäre ein kommunistischer Anarchismus.

„Oh, Kommunismus“, ruft Ihr Freund aus, „aber Sie sagten doch, Sie wären kein Bolschewist!“ Nein, ich bin kein Bolschewist, denn ein Bolschewist will eine starke Regierung oder einen mächtigen Staat, wogegen der Anarchist Staat oder Regierung ganz und gar abschaffen will. „Aber sind die Bolschewisten keine Kommunisten?“ fragen Sie. Doch, die Bolschewisten sind Kommunisten, aber sie brauchen ihre Diktatur, ihre Regierung, um die Menschen zu zwingen, im Kommunismus zu leben. Anarchistischer Kommunismus ist dagegen ein freiwilliger Kommunismus, ein Kommunismus aus freier Wahl.“Ich verstehe den Unterschied, das wäre natürlich wunderbar“, gibt Ihr Freund zu. „Aber halten Sie das wirklich für möglich?“

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2004