Alexander Berkman

 

ABC des Anarchismus

 

Nichtkommunistische Anarchisten

Bevor wir fortfahren, möchte ich kurz etwas erklären. Ich bin es den Anarchisten schuldig, die keine Kommunisten sind. Denn Sie müssen wissen, daß nicht alle Anarchisten Kommunisten sind: Nicht alle glauben nämlich, daß Kommunismus – gemeinsames Eigentum und das Aufteilen je nach Bedürfnis – das beste und gerechteste Wirtschaftssystem ist. Ich habe Ihnen zuerst den kommunistischen Anarchismus vorgestellt, weil er meiner Meinung nach die wünschenswerteste und am besten praktizierbare Gesellschaftsform ist. Die kommunistischen Anarchisten vertreten die Ansicht, daß nur unter kommunistischen Bedingungen der Anarchismus gedeihen und gleiche Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für jeden ohne Diskriminierung garantiert werden können. Aber es gibt Anarchisten, die nicht an Kommunismus glauben. Sie können im allgemeinen in Individualisten und Mutualisten eingeteilt werden.

Alle Anarchisten stimmen in diesem fundamentalen Punkt überein: Daß Regierung Ungerechtigkeit und Unterdrückung bedeutet, daß sie sich einmischt, versklavt und das größte Hindernis für die Entwicklung und Entfaltung des Menschen darstellt. Alle glauben sie, daß Freiheit nur in einer Gesellschaft bestehen kann, die frei von Zwang jeglicher Art ist. Alle Anarchisten sind sich daher in dem Grundprinzip einig, daß die Regierung abgeschafft werden muß. Sie stimmen hauptsächlich in folgenden Punkten nicht überein:

Erstens: Die Art und Weise, wie die Anarchie realisiert werden soll. Die kommunistischen Anarchisten sagen, daß nur eine soziale Revolution die Regierung abschaffen und die Anarchie herbeiführen kann, während die Individualisten und Mutualisten nicht an diese Revolution glauben. Sie glauben, daß die heutige Gesellschaft sich allmählich von der Regierung weg zu einem Zustand der Nichtregierung entwickeln wird.

Zweitens: Individualistisch eingestellte Anarchisten und Mutualisten glauben an das individuelle Eigentum im Gegensatz zu den kommunistischen Anarchisten, die in der Institution des Privateigentums eine der Hauptursachen für Ungerechtigkeit und Ungleichheit, für Armut und Elend sehen. Die Individualisten und Mutualisten bestehen darauf, daß Freiheit „das Recht eines jeden auf das Produkt seiner Arbeit“ bedeutet, was natürlich richtig ist. Freiheit bedeutet auch das. Aber die Frage ist nicht, ob jemand das Recht auf sein Produkt hat, sondern ob es so etwas wie ein individuelles Produkt gibt. Ich habe in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt, daß es so etwas in der modernen Geschichte nicht gibt. Da alle Arbeit nur in Gemeinschaft geleistet werden kann, gehören die erzeugten Produkte auch der gesamten Gesellschaft; daher hat das Argument vom Recht der Einzelperson auf sein Produkt keinen praktischen Wert.

Ich habe auch gezeigt, daß der Güter- oder Warenaustausch nicht individuell oder privat erfolgen kann, ohne daß das Profitsystem angewandt wird. Da der Wert einer Ware nicht angemessen bestimmt werden kann, ist kein Tauschhandel gerecht. Diese Tatsache führt meiner Meinung nach zum Recht der gesamten Gesellschaft am Eigentum und dessen Gebrauch, das heißt, zum Kommunismus als dem am besten praktizierbaren und auch gerechtesten Wirtschaftssystem.

Aber wie schon gesagt, die Individualisten und Mutualisten stimmen in diesem Punkt nicht zu. Sie behaupten, daß das Monopol die Quelle wirtschaftlicher Ungleichheit sei, und sie argumentieren, daß das Monopol mit der Abschaffung der Regierung verschwinden wird, weil es ein spezielles Privileg sei – gegeben und geschützt durch die Regierung -, das das Monopol ermöglicht. Freier Wettbewerb, erklären sie, würde das Monopol und seine Übel beseitigen. Individualistische Anarchisten, Nachfolger von Stirner und Tucker, ebenso wie die auf Tolstoi zurückgehenden Anarchisten, die an Gewaltlosigkeit glauben, haben keinen sehr klaren Plan für das Wirtschaftsleben in der Anarchie. Die Mutualisten dagegen schlagen ein ganz bestimmtes neues Wirtschaftssystem vor. Mit ihrem Lehrer, dem französischen Philosophen Proudhon, glauben sie, daß genossenschaftliche Banken und Kredite ohne Zinsen die beste Wirtschaftsform einer Gesellschaft ohne Regierung sei. Laut ihrer Theorie würde der freie Kredit, der jedermann die Gelegenheit gibt, Geld ohne Zinsen zu leihen, dazu beitragen, das Einkommen anzugleichen, Profite auf ein Minimum zu reduzieren und somit Reichtum genauso wie Armut beseitigen. Freier Kredit und Wettbewerb auf dem offenen Markt, sagen sie, würde zu wirtschaftlicher Gleichheit führen, während die Abschaffung der Regierung gleiche Freiheiten garantieren würde. Das Gesellschaftsleben in der Gemeinschaft der Mutualisten genauso wie in der der Individualisten würde auf der Heiligkeit der freien Abmachung, des freien Vertrages basieren.

Ich habe hier die Ansichten der individualistischen Anarchisten und Mutualisten nur grob skizziert. Es ist nicht die Absicht dieses Buches, die anarchistischen Ideen detailliert zu diskutieren, die der Autor für fehlerhaft und undurchführbar hält. Als kommunistischer Anarchist möchte ich dem Leser die Ansichten nahebringen, die ich für die besten und vernünftigsten halte. Ich hielt es jedoch für fair, Sie auch über die Existenz anderer, nichtkommunistischer anarchistischer Theorien zu informieren.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2004