E. B―n

Bericht über den Fortgang der sozialistischen Bewegung

Deutschland

(März 1880)


Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, I. Jg, 2. Hälfte, Zürich 1880, S. 248–263.
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Die Darstellung der sozialistischen Bewegung Deutschlands seit der Mitte des Jahres 1879 ist eine ungleich leichtere Aufgabe, als die des Berichterstatters der vorhergehenden Epoche. Nicht nur haben sich die allgemeinen politischen Verhältnisse in Deutschland bedeutend geklärt, auch seitens der berufenen Vertreter der deutschen Sozialdemokratie liegen so unzweideutige Erklärungen vor, dass ein Irrthum über die Taktik derselben nicht mehr möglich ist. Anders in der ersten Zeit nach dem Inkrafttreten des Sozialistengesetzes.

Es kann nicht bestritten werden, dass das Verhalten der deutschen Sozialisten Anfangs auf den nicht Eingeweihten einen befremdlichen Eindruck machen musste. Es schien einen Augenblick, als habe die Partei sich selbst aufgegeben, als wolle sie sich thatsächlich dem Sozialistengesetz fügen. Die Publikationen, welche an Stelle der unterdrückten Blätter ins Leben traten, konnten unmöglich als sozialistische gelten, leugneten es vielmehr selbst, solche zu sein; die im Ausland veröffentlichten, für Deutschland bestimmten sozialistischen Blätter wurden nur als Privatunternehmungen betrachtet und behandelt, hier und da sogar als inopportun etc. bekämpft. Kurz es fehlte das äusserliche geistige Band, und wenn es auch noch Sozialdemokraten in Deutschland gab, so schien die Sozialdemokratie als eine einheitliche Partei durch das Sozialistengesetz thatsächlich vernichtet zu sein. Woher also diese befremdliche Erscheinung?

Sie wird sofort verständlich, wenn man sich die thatsächlichen Verhältnisse vergegenwärtigt. Die Partei war in den letzten Jahren ihres Bestehens bedeutend in die Breite gewachsen, und zwar derart, dass von einer eigentlichen Agitation, wie sie in den sechziger und Anfangs der siebziger Jahre betrieben wurde, kaum mehr die Rede war. Wo sie überhaupt vertreten war, beherrschte die Partei das öffentliche Leben derartig, dass die Gegner sich in den öffentlichen Versammlungen gar nicht mehr sehen liessen und den Kampf nur mehr in ihren Blättern führten. Das Zentralorgan der Partei reichte natürlich nicht aus, auf alle diese lokalen Angriffe zu antworten und so trat denn eine Bewegung ein, die man nicht mit Unrecht die Blattgründungsepidemie nannte. Nicht nur die grösseren Orte, sondern mittlere und kleinere Städte beanspruchten ihr eigenes Organ, und es ist eine durchaus oberflächliche Behauptung, wenn nicht eine dreiste Lüge, wenn man behauptet, es seien einzelne Stellungsjäger gewesen, von denen diese Bewegung inszenirt worden wäre. Im Gegentheil hatte die Parteileitung die grösste Mühe, das nöthige Redaktions- und Expeditionspersonal zu beschaffen. Der Parteikampf hatte eine andere Gestalt angenommen, und die vorhandene Presse genügte dem gesteigerten Bedürfniss bei weitem nicht mehr.

Trotz alledem that die Parteileitung ihr Möglichstes, um übereilte und nicht lebenskräftige Gründungen zu verhindern; nicht immer mit Erfolg. Die Drohung, bei etwaigem Ruin allen Blättern, die gegen den Beschluss der Parteileitung in’s Leben gerufen worden seien, die Hülfe zu versagen, half nichs, man wollte und musste sein eigenes Lokalorgan haben, gründete frisch darauf los und – schrie allerdings bald genug nach Hülfe.

Es stellten sich nämlich gar bald gewaltige Uebelstände heraus. Die meisten Blätter wurden von eigens dazu in’s Leben gerufenen Genossenschaften herausgegeben, deren bureankratische Verwaltung die Herstellungskosten nicht unbedeutend erhöhte. Hierzu kam dann noch dazu, dass in diesen Druckereien aus leichtbegreiflichen Gründen die besten Löhne gezahlt wurden, die in Privatdruckereien übliche Ausbeutung der Lehrlinge hinwegfiel, andererseits aber die Accidenzaufträge gar nicht oder sehr dürftig einliefen und die bei Lokalblättern die Haupteinnahmen bildenden Annoncen entweder ganz ausblieben oder wegen ihres Inhalts (Geheimmittel etc.) nicht aufgenommen wurden. Kurz und gut, fast alle Lokalblätter der Partei erforderten unverhältnissmässig grosse Opfer, und die aufopferendsten und treuesten Genossen brachten ihre Spar- und Nothpfennige als Einlagen, um ihr Blatt zu halten und den Kampf mit den Gegnern führen zu können.

So standen die Dinge, als die Attentate in Berlin stattfanden. Dieselben gaben der Polizei Gelegenheit, die Sozialisten als vogelfrei zu behandeln, Bourgeoisie und Spiedbürgerthum, sowie der zu ihnen haltende Tross unaufgeklärter oder bornirter Arbeiter wagten sich wieder hervor, und der jahrelang zurückgehaltene Hass feierte, gedeckt durch angeblich patriotische Gesinnungen, seine Orgien. Es war eine Art weisser Schrecken, der auch das raffinirteste Gewaltmittel in Anwendung brachte, den Hunger. Die Arbeiter, durch die jahrelange Krisis ohnehin herabgestimmt, wurden vollends entmuthigt. Jeder, der öffentlich in irgend einer Weise für den Sozialismus thätig war, wurde entlassen, ja das blosse Lesen sozialistischer Blätter wurde vielfach Grund der Entlassung. Unter solchen Umständen waren die sozialistischen Genossenschaften der Partei von grossem Vortheil. Einmal waren die von ihnen angestellten Arbeiter vor Massregelungen geschützt und konnten daher die nöthigen Wahlagitationen leiten, zweitens konnten nunmehr die Blätter den Wahlkampf führen, der jetzt den Arbeitern unmöglich gemacht war. Der Ausfall der Wahlen vom 30. Juli 1878 zeigt, dass alle diese „Käseblätter“ ihre Pflicht im vollsten Masse gethan hatten.

Es ist heut sehr leicht sagen, dass man damals in Voraussicht des kommenden Sozialistengesetzes die Druckereien hätte liquidiren sollen. Das war fast überall gleichbedeutend mit dem Konkurse und bei der herrschenden Solidarhaft hätten tausende unserer bravsten Genossen nicht nur ihre wenigen Ersparnisse – die hätte man vielleicht am ehesten verschmerzt – sondern auch ihre ganze Habe eingebüsst. Und wenn man bedenkt, dass die übergrosse Mehrzahl unserer Genossen Familienväter, Proletarier sind, so wird man in ihrem Verhalten keine Feigheit finden können. Es ist etwas Anderes, auf der Barrikade zu sterben, als mit Weib und Kind dem gewissen Elend entgegenzugehen. Und zur Barrikade zu schreiten, wäre damals heller Wahnsinn gewesen. Ausserdem wusste man zwar, dass das Sozialistengesetz angenommen werden würde, nicht aber, in welcher Form, und wie es gehandhabt werden würde. Unter solchen Umständen erschien allgemein abwarten als das zunächst Gebotene.

Als nun das Sozialistengesetz in Kraft trat und in härtester Weise angewendet wurde, da wurde es allerdings sofort klar, dass eine öffentliche Agitation für den Sozialismus im Inlande absolut unmöglich sei, dass die Druckereien höchstens noch durch Herausgabe farbloser Blätter den Konkurs vermeiden, und die Liquidation vorbereiten oder sich den Fortbestand sichern konnten. Inwiefern mit dem letzteren der Partei gedient war, das zu untersuchen ist hier nicht der Ort. Nur soviel, dass sich den gegen den Fortbestand der Druckereien mit ihren farblosen Blättern vorgebrachten Gründen eine ganze Reihe stichhaltiger Gegengründe entgegenführen lassen.

Eine viel wesentlichere Frage war die, ob man nun überhaupt auf ein sozialistisches Zentralorgan verzichten dürfe, oder ob es nicht geboten sei, im Auslande ein solches in’s Leben zu rufen. Prinzipiell wurde wohl die Frage von Niemandem verneint, wohl aber differirten die Ansichten bezüglich des Zeitpunktes. Gegen ein sofortiges Inslebenrufen sprachen namentlich folgende Gründe:

Der Hass der Bourgeoisie und die mit den ausserordentlichen Vollmachten ausgestattete Regierung vermehrten mit jedem Tage die Zahl der Gemassregelten; der Belagerungszustand über Berlin war verhängt worden, die Ausweisungen erfolgten, die Familien der Ausgewiesenen mussten unterstützt, die Ausgewiesenen selbst versorgt werden. Während so die Ansprüche an die Partei mit jedem Tage stiegen, wurden durch die Verbote der Vereine und Versammlungen, durch die Unterdrückungen der grösseren Blätter die Einnahmen beträchtlich verringert. Was sollte da vorläufig ein im Auslande erscheinendes, also für Deutschland verbotenes Organ? Seine Hauptfolge musste eine Vermehrung der Gemassregelten, sein Werth für die Propaganda vorläufig ein sehr minimer sein. Die Genossen konnten nach der langjährigen aufreibenden Agitation eine kurze Ruhepause wohl vertragen, für das sozialistische Bedürfniss wäre durch die im Laufe der Jahre in’s Volk geschleuderten, aber noch nicht zum vierten Theil gelesenen und verdauten Tausende und Abertausende von Broschüren und Schriften hinlänglich gesorgt gewesen. Ausserdem gebot auch die Klugheit auf solange eine gewisse Zurückhaltung, bis die „Ordnungsparteien“ sich wieder gehörig unter einander in den Haaren liegen würden.

Dies die Ansichten, welche gegen eine sofortige Aggressive, gegen eine sofortige Blattherausgabe geltend gemacht wurden und auch ausschlaggebend waren. Obgleich Schreiber dieser Zeilen sie nicht durchweg billigte, und namentlich die Gründung einer Zeitung oder mindestens eines unperiodischen Flugblattes für geboten hielt, ist er doch weit entfernt, die gegentheilige Ansicht als „Verrath“ zu bezeichnen. Es war ein auf Ueberschätzung der Partei beruhender Irrthum, der indess jederzeit wieder gut gemacht werden konnte. Ein Vergleich mit dem Verhalten der preussischen Liberalen der Konfliktsperiode Bismarck gegenüber, hinkt insofern, als diese die ungeheuere Mehrzahl des Volkes seiner Zeit auf ihrer Seite hatten, während die Sozialisten nur über eine, durch die Krisis ohnehin gelähmte Minorität verfügten.

* * *

Wenn nun auch auf der Oberfläche des politischen Lebens alles ruhig erschien und die Gegner ob des Erfolges des Sozialistengesetzes triumphirten, vollzog sich in aller Stille und ohne alle pompösen Manifeste die Reorganisation der Partei. Nicht etwa als,ein Verschwörerbund mit geheimen Sektionen etc., sondern ganz spontan, wie sich je nach den lokalen Verhältnissen das Bedürfniss herausstellte. Es ist natürlich unthunlich, hier näher darauf einzugehen, nur soviel sei bemerkt, dass man es soviel als möglich vermied, solche Verbindungen zu schaffen, welche die Kriterien eines Vereines an sich trugen. Will man das ein „Ducken unter das Gesetz“ nennen, so mag man es immerhin thun.

Die ersten Gelegenheiten, sich nach dem 21. Oktober 1878 öffentlich zu manifestiren, gaben die Wahlen. Schon im vorigen Bericht war von verschiedenen derartigen Akten die Rede, aus denen hervorging, dass der Erfolg des Sozialistengesetzes gleich Null war. So verblüffend diese Thatsache die Gegner traf, so elektrisirend wirkte sie auf die sozialistische Partei. Die Wahlen in Breslau und Waldheim [1] gaben überall den Genossen neuen Muth und stärkten sie zum weiteren Kampfe; man darf sagen, dass sie es waren, die für das weitere Verhalten der Partei den Ausschlag gaben. Bis dahin im Stande der Nothwehr, ging sie nunmehr, soweit die Verhältnisse es möglich machten, zu positivem Schaffen, zur Offensive über.

Worin diese zunächst bestand, wird sich im weiteren Verlauf dieses Berichtes zeigen, wir halten es nunmehr für angezeigt, an den vorjährigen Bericht anknüpfend, in chronistischer Reihenfolge die wesentlichsten Ereignisse seit dem Juli vorigen Jahres zu berichten, dabei aber gelegentlich auf die allgemeinen politisch-sozialen Verhältnisse einzugehen, um dann zum Schluss über die Gesammtlage der Partei, ihre eventuellen Chancen etc. einige kurze Erörterungen anzustellen.

Fast unmittelbar nach dem Wahlsiege in Breslau erlitt die Partei einen herben Schlag durch den Verlust eines ihrer besten Vorkämpfer. Am ersten August 1879 starb an einem Herzschlage, im blühendsten Mannesalter, August Geib, der langjährige Beamte der sozialiatischen Arbeiterpartei Deutschlands. Seine rastlose hingebende Thätigkeit, sein hoher Ernst, seine seltene Begabung und seine allseitig anerkannte Uneigennützigkeit hatten ihn zu dem beliebtesten und geachtetsten Mitgliede der Partei gemacht. Kein Wunder daher, dass sein Tod allgemeine Trauer in der Partei hervorrief, und dass sein Leichenbegängniss sich zu dem grossartigsten gestaltete, welches die deutsche Sozialdemokratie bis dahin gesehen hatte. 25 bis 50.000 Menschen folgten, nach Schätzungen gegnerischer Blätter, seinem Sarge; von allen Gegenden Deutschlands, von fast allen Orten des Auslandes, wo Deutsche leben, waren Beileidstelegramme, Nach-rufe, Kränze etc. gesendet worden; die allgemeine Trauer der Partei gab zu einer Demonstration Anlass, die rückwirkend den Genossen neuen Muth und neue Kräfte einflösste.

Bald darauf bereitete sich ganz im Stillen eine neue Lebensäusserung der Partei vor, die man ihr später von gewisser Seite her zum Vorwurf zu machen versuchte; in wie weit mit Recht, mag der Leser beurtheilen. Am 10. September war die Hälfte der sächsischen Landtagsabgeordneten neu zu wählen. Der verhältnissmässig niedrige Zensus hatte es schon früher möglich gemacht, nicht nur beträchtliche sozialistische Minoritäten aufzubringen, sondern, im Jahre 1877, sogar einen Sozialdemokraten in den Landtag zu wählen. Es kann dies auch gar nicht Wunder nehmen, wenn man bedenkt, dass im Erzgebirge und in dessen Umgebung, sowie in anderen Distrikten Sachsens, die hausindustriellen Kleinmeister seit je zu den treuesten und hingebendsten Anhängern der Sozialdemokratie zählen. Die Chancen werden noch dadurch erhöht, dass bei den Wahlen zum sächsischen Landtag nicht die absolute, sondern die relative Minorität entscheidet.

Bei einer privaten Besprechung wurde denn auch beschlossen, an dem Wahlkampf theilzunehmen und folgende Taktik innezuhalten. Da eine offene Proklamirung sozialistischer Kandidaturen ein sofortiges Zusammengehen der „Ordnungsparteien“ in den betreffenden Wahlkreisen zur Folge gehabt und so die Möglichkeit des Sieges durch relative Mehrheiten beträchtlich verringert hätte, so entschied man sich dahin, erst in den drei letzten Tagen offen hervorzutreten, bis dahin aber alle Vorbereitungen im Stillen zu treffen. Und thatsächlich gelangte auch bis zum bestimmten Zeitpunkt Nichts in die Oeffentlichkeit, eine treffende Antwort auf die von einigen Seiten gemachten Vorwürfe, die deutsche Partei sorge nicht genügend für eine geheime Organisation.

Die den Gegnern gegenüber so unschuldige, den eigenen Genossen aber so gefährliche Geheimnissspielerei wird die Partei wohl nie poussiren, sie hat das „glücklicherweise nicht nöthig“, wohl aber wird sie, wo es nöthig ist, ihre Kräfte auch ohne grosses Geschrei zusammenfassen.

Das Resultat der Wahl entsprach, um offen zu sein, wohl nicht ganz den gehegten Erwartungen, dagegen war die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen eine über Erwarten günstige. Immerhin war es gelungen, zwei Sozialdemokraten, die Genossen Liebknecht and Puttrich, in den Landtag zu wählen, so dass die Zahl unserer Vertreter dort jetzt drei beträgt.

Da man es den beiden Neugewählten mehrfach zum Vorwurf gemacht hat, dass sie den zum Eintritt in den sächsischen Landtag nöthigen Treueid geleistet haben, so dürfte es wohl geboten sein, hier auch diese Frage kurz zu berühren. Es ist unserer Ansicht nach durchaus falsch, wenn man der Eidesfrage ein grosses Gewicht giebt, die ja doch nur eine leere Formfrage ist, und nicht minder falsch ist es, wenn man die Eidesverweigerung der nordschleswig’schen Dänen im preussischen Landtage dabei anführt, da für die Letztgenannten in der Eidesverweigerung gerade die Erfüllung ihres Mandates – Protest gegen die Annexion – liegt. Die Frage liegt vielmehr so, soll die Sozialdemokratie lediglich Enthaltungspolitik treiben, oder wie bisher Unter allen möglichen Umständen in das öffentliche Leben eingreifen, überall ihre Stimme – bald protestirend, bald fordernd – erheben? Wir halten das Letztere unbedingt für geboten, die ganze Entwickelung der deutschen Sozialdemokratie weist auf diesen Weg hin. Die Enthaltungspolitik kann nur unter ganz bestimmten Verhältnissen einen Werth haben, im Uebrigen aber ist sie der grösste Fehler, in den eine aufstrebende Partei verfallen kann. Heut treibt das Volk in seiner grossen Mehrheit Abstinenzpolitik, aus dieser es herauszurütteln, es auf die Arena des politischen Kampfes zu drängen, ist eine viel revolutionärere Thätigkeit als man gewöhnlich glaubt. Hierzu genügt aber eine Flugblattagitation durchaus nicht, deren Werth ja an und für sich von Niemandem bestritten wird. Und wenn man diese unsere Ansicht im Allgemeinen theilt, dann wird man uns auch zustimmen müssen, dass die – nebenbei sehr unschuldige – Eidesformel kein genügender Grund ist, auf eine der wenigen Gelegenheiten zu verzichten, die es ermöglichen, auch nach dem Sozialistengesetz unsere Stimme zu erheben. Die Gegner wissen das sehr wohl zu würdigen, und so sehen wir denn auch die konservativen Professoren Treitsschke, Walker etc. energisch fordern, dass den Sozialisten auch das passive Wahlrecht genommen werde.

Wir wollen uns indess hier nicht weiter auf die Frage einlassen, wenn wir auch noch Manches darüber zu sagen hätten, vielleicht nehmen wir in einem demnächstigen Bande Gelegenheit, die Frage der „Taktik“ in einem besonderen Artikel eingehender zu prüfen. Man hat übrigens mehr Geschrei von der Sache gemacht, als geboten war; die Praxis ist stets die beste Lehrmeisterin, sie wird auch hier vielfach das entscheidende Wort zu reden haben. Wer, wie Schreiber dieser Zeilen, in der Sozialdemokratie eine kultur-historisch nothwendige Bewegung erblickt, den können vorkommende Fehler nur wenig alteriren. Wie deren bereits oft gemacht worden sind, ohne dass die Partei daran zu Grunde gegangen wäre, so wird das wohl auch in Zukunft noch manchmal der Fall sein. „Es irrt der Mensch so lang er strebt.“ Diese Worte des Dichters möge man bei Beurtheilung unserer Bewegung beherzigen, als deren Motto die Worte desselben Dichters dienen könnten: „Nur rastlos bethätigt sich der Mann“.

Als ein weiteres bedeutungsvolles Ereigniss für die deutsche Parteibewegung war die Gründung ihres Parteiorgans, des in Zürich erscheinenden Sozialdemokrat. Immer grösser war das Bedürfniss nach einem solchen geworden, und auch Genosse Geib, der sich bisher der Gründung widersetzt hatte, hatte sich schliesslich von der Nothwendigkeit desselben überzeugt. Wir theilen dies nicht mit, um einen Stein auf diesen vortrefflichen Mann zu werfen, seine Verdienste um die Bewegung sind so gross, dass sie durch diesen – nebenbei sehr entschuldbaren – Irrthum nicht beeinträchtigt werden können; nur das Bestreben, wahr und offen zu berichten, nöthigt uns dieses Geständniss ab.

Als man über die Schaffung eines quasi offiziellen Organs einig war, bestanden im Auslande zwei für Deutschland bestimmte sozialistische Organe, durch deren Anerkennung man der Gründung eines neuen Organs überhoben gewesen wäre; es waren das die Laterne und die Freiheit. Von beiden wurde indess Abstand genommen, da die Erstere nach Format und Inhalt – der durch jenes bedingt amphletischer Natur war – den Bedürfnissen eines Zentralorgans nicht entsprach und desshalb so wie so hätte umgestaltet werden müssen, während die zweite bereits eine feindselige Haltung gegen die Parteileitung eingenommen hatte und sich daher wohl schwerlich einer Kontrole durch die Partei unterworfen haben würde. So wurde denn also die Herausgabe eines neuen Blattes beschlossen und als geeigneter Erscheinungsort Zürich in Aussicht genommen. Dort hat die schweizerische Arbeiterbewegung, die mit der deutschen Bewegung stets in engen Beziehungen stand, ihre eigene Druckerei; dort durfte man auch das meiste Verständniss für die Bedürfnisse der deutschen Partei erwarten. Und nachdem sich ein in der schweizerischen Arbeiterbewegung angesehener und geachteter Genosse bereit erklärt hatte, Redaktion und Verlag zu übernehmen, erschien Ende September die Probenummer des Sozialdemokrat, internationales Organ der Sozialdemokratie deutscher Zunge. Aus derselben heben wir folgende Stellen als besonders bemerkenswerth hervor:

„Die prinzipielle Grundlage unseres Wirkens bildet das von den Parteigenossen allerwärts anerkannte Gothaer Programm. Wohl gilt uns dasselbe weder – wie sich einer seiner Väter selbst ausgedrückt – als ein papierner Papst noch als ein steinernes Dogma, wie es denn auch kein Sozialist je als für alle Zeiten unverbesserbar gehalten hat. Aber in seiner Gesammtheit und mit Inbetrachtziehung aller begleitenden Umstände bildet es ein Malzeichen der bis jetzt höchsten Entwicklung der Sozialdemokratie, eine populäre Zusammenfassung der Ergebnisse des wissenschaftlichen Sozialismus und einen Wegweiser für die politische Haltung der Partei und es hat sich im Ganzen voll bewährt, so dass jede Veränderung derselben erst wohl erwogen werden, und man erst die Gewissheit haben muss, dass man wirklich Besseres an die Stelle des Bisherigen setzt.

„Die taktische Haltung unseres Blattes aber ist ebenfalls durch das Gothaer Programm und die organische Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie auf Grund desselben, sowie durch die Rücksicht auf die augenblicklichen Machtverhältnisse bedingt. Uns ist die Sozialdemokratie nach wie vor eine revolutionäre Partei im wahren und besten Sinnes des Wortes. Nach wie vor aber, oder besser, mehr denn je werden wir uns jetzt, wo in Folge des fast bis zur Unerträglichkeit gesteigerten Druckes der Reaktion die Versuchung stärker als sonst herantritt, die allerdings langwierige und beschwerliche Arbeit der succesiven Aufklärung und Organisation der Massen – und dadurch der allmäligen Erschütterung der Grundlagender bisherigen widersinnigen und ungerechten Gesellschafts- und Staatsordnung durch kluge Ausnützung jeder, auch der kleinsten Chance, – ermüdet sinken zu lassen und sich der scheinbar eher zum Ziele führenden, in Wahrheit aber thörichten und verderblichen Revolutions- und Putschmacherei in die Arme zu werfen, auf’s Energischste gegen diese wenden. Wohl glauben auch wir, dass die von uns angestrebte radikale Umgestaltung der Gesellschaft nicht allein und in aller Gemüthsruhe von den Ministertischen und Parlamentstribünen dekretirt werden wird. Allein diese Ueberzeugung ist himmelweit unterschieden von einem ‚Machen‘ von Revolutionen oder richtiger von Putschen; denn Revolutionen entstehen wohl; können aber nicht ‚gemacht‘ werden.

„Wir werden also auch in dieser Beziehung den von der deutschen Sozialdemokratie mit so viel Erfolg betretenen Weg gehen und von demselben weder durch die zahlreichen, dem Vormarsch auf ihm entgegenstrebenden Hindernisse, noch durch Aufreizungen der Reaktion – schon um der letzteren keinen Gefallen zu thun – abbringen lassen. Vielmehr werden wir, obgleich ausserhalb des Machtbereiches der deutschen und österreichischen Polizei stehend, trotzdem jede Verletzung des gemeinen Rechtes in der Form nach Möglichkeit vermeiden, was sich unsere Rücksichtslosigkeit in der Sache durchaus keinen Eintrag thun wird.

Der Sozialdemokrat steht mit Einem Wort sowohl in prinzipieller als taktischer Beziehung voll und ganz auf dem Standpunkt der deutschen Sozialdemokratie, wie sie war und wie sie ist! ― ― ―“

Das Erscheinen des Sozialdemokrat wurde nicht nur von den Genossen in ganz Deutschland mit grosser Freude begrüsst, auch die ganze sozialistische Presse des Auslandes drückte ihm ihre Sympathien aus. Nur ein Blatt machte davon eine Ausnahme – Die Freiheit (die Laterne war inzwischen eingegangen). Diese nahm sofort eine feindselige Haltung ein, suchte Anfangs indirekt, später offen, die Herausgeber desselben zu verdächtigen und provozirte so eine unerquicklichen Zwist, der damit endigte, dass sich ein Bruchtheil der deutschen Sozialdemokratie von der Gesammtpartei lossagte und zur Zeit seine revolutionäre Haltung dadurch bekundet, das er Alles, was vond der deutschen Partei geschieht, von vornherein verurtheilt und, wo es ihm möglich ist, deren Unternehmungen zu durchkreuzen versucht. Bis jetzt hat die „Avant-Garde der deutschen Sozialdemokratie“, wie sich die Anhängerschaft der Londoner Freiheit nennt, zwar nur sehr wenig Anhänger, in Deutschland fast gar keine, trotzdem bleibt die Spaltung im höchsten Grade bedauerlich.

Kehren wir nun zu unserer Berichterstattung zurück, so haben wir zunächst ein Ereigniss zu erwähnen, das zwar in keiner direkten Beziehung zu unserer Bewegung steht, indess indirekt von grosser Bedeutung für dieselbe war. Wir meinen die entsetzliche Katastrophe im Zwickauer Brückenbergschacht vom 2. Dezember 1879. Noch wenige Tage vorher, am 27. November, hatte Genosse Liebknecht im sächsischen Landtag den vernunftwidrigen, Leben und Gesundheit der angestellten Arbeiter auf’s Aeusserste schädigenden Betrieb in den sächsischen Staats- und Privatbergwerken einer schneidigen Kritik unterzogen, und die ihm von dem Regierungsvertreter und den Anhängern aller Parteien darauf gewordenen Angriffe schlagend widerlegt, als jenes entsetzliche Unglück, das 89, sage neunundachtzig Menschenleben vernichtete, eine traurige Bestätigung seiner Ausführungen lieferte. Freilich versuchte man zunächst, die Explosion als ein von Niemand verschuldetes Naturereigniss darzustellen, und der bei dem Leichenbegängniss der Verunglückten fungirende Geistliche, Superintendent Körner, hatte sogar den unerhörten Muth, den Leidtragenden zuzurufen, „Ueber den Unglücksfall nicht nachzugrübeln, über die ‚Fügung Gottes‘ nicht zu murren und zu lästern“ etc., es steht aber fest, dass am Tage der Katastrophe die Ventilation gestört war und trotzdem weiter gearbeitet wurde. Durch ein Aussetzen der Förderung um sechs Stunden wären 89 Menschenleben geschont worden (vgl. Sozialdemokrat vom 28. Dezember 1879). Selbstverständlich wurde hinterher, wie gewöhnlich, an die öffentliche Mildherzigkeit appellirt und zu Sammlungen zu Gunsten der Hinterbliebenen aufgefordert, die damit bezweckte Abschwächung der in der Arbeiterschaft hervorgerufenen Entrüstung aber keineswegs erreicht. Soweit ist unser Arbeiterstand durch die jahrelange sozialistische Agitation denn doch schon entwickelt, dass er sich durch milde Gaben zu einem Verzicht auf sein gutes Recht nicht ködern lässt.

Wir glauben nicht irre zu gehen, wenn wir behaupten, dass die Zwickauer Katastrophe dazu beitrug, die acht Tage darauf in Magdeburg stattgehabte Reichstagswahl zu einer glänzenden Demonstration für die Sozialdemokratie zu gestalten. Ungeachtet aller Verläumdungen der Gegner, der auf’s Aeusserste getriebenen erwerblichen Beeinflussung, ungeachtet, dass die bis dahin in Magdeburg verbreitete Londoner Freiheit in gänzlicher Verkennung der Verhältnisse, Wahlenthaltung proklamirte, erhielt der sozialdemokratische Kandidat, Viereck, 4.721 Stimmen gegen 5.149 national-liberale, 4.018 fortschrittliche und etwa 1.000 auf Konservative, Klerikale etc. zersplitterte Stimmen. Noch glänzender gestaltete sich die – von der Freiheit übrigens todtgeschwiegene – Nachwahl, wo die Sozialisten 7.312 gegen 8.453 liberale Stimmen in’s Feld führten. Freilich dürfen wir es nicht verschweigen, dass unter diesen 7.312 Stimmen auch etliche fortschrittlich-radikale sich befinden, indess schätzt selbst die national-liberale Magdeburger Zeitung diesen Zuwachs für sehr geringfügig. Ein Vergleich der Wahlbezirke zeigt nämlich, dass in den Bezirken, wo die Fortschrittspartei stark vertreten war, der Zuwachs der sozialdemokratischen Stimmen minim gewachsen ist, derselbe sich vielmehr hauptsächlich au den Arbeiterdistrikten Magdeburg – Buckau, Neustadt und Sudenburg – rekrutirte.

So schloss die Jahr 1879 mit einem Erfolge der Soiialdsmokratie ab, der auf die Gegner eine äusserst niederschlagende Wirkung ausübte, während er die Genossen allerorts zu unentwegtem Fortarbeiten ermunterte. Frohen Muthes durfte die Sozialdemokratie dem neuen Jahre entgegensehen, ihre Kraft war nicht gebrochen, ihr Einfluss auf die Massen nicht vernichtet, im Gegentheil, mehr als je zeigten sich die Arbeiter dem sozialistischen Gifte empfänglich. Und wie sollte es auch anders sein? Die mit so vieler Salbung versprochenen „positiven Massregeln“ für die Arbeiter liessen noch immer auf sich warten, der Winter war überaus hart und streng, und an den verschiedensten Orten Deutschlands herrschte schreiender Nothstand, der sich in den an chronischem Nothstand leidenden Distrikten zu richtigen Hungersnöthen gestaltete. Wir müssen es uns versagen, auf eine Schilderung des im Spessart, in Oberschlesien, in Thüringen, im sächsischen Erzgebirge etc. herrschenden Elends näher einzugehen, selbst die Berichte der an einer möglichsten Vertuschung interessirten Blätter stellen dasselbe als grauenhaft dar. [2] Wie immer, so wurde auch diesmal an die Privatmildthätigkeit appellirt, ja man entschloss sich sogar, Nothstandskredite zu bewilligen, indess reichte, Alles in Allem, diese Hilfe nur aus, das grösste, das ausserordentliche Elend zu stillen; von einer dauernden Beseitigung der Noth ist ernsthaft nicht einmal die Rede. An Projekten in dieser Richtung fehlt es freilich nicht, sie bleiben aber meist Projekte oder werden in ausserordentlichen Zeiten mit Lebhaftigkeit in die Hand genommen, um nach und nach wieder einzuschlafen oder, wenn wirklich realisirt, in höchst unzureichende Wohlthätigkeitsanstalten zusammenschrumpfen. Die heutige Gesellschaft kann eben das Massenelend nicht beseitigen, ohne ihre eigene Existenz aufzugeben. Hierzu aber wird sie sich natürlich freiwillig nie entschliessen, vielmehr die hungrigen Mäulier von Zeit zu Zeit mit „christlichen“ Gaben zu stopfen versuchen oder, wenn das nichts nutzt, mit Gewalt zu schliessen. Ein Beispiel dafür bietet die im Monat Juli auf den fiskalischen Werken von Zabrze stattgehabte Niedermetzelung der wegen fortgesetzter Lohnabzüge empörten Grubenarbeiter.

Die letztere „Revolte“, wie der technische Ausdruck für derartige unmittelbare Aeusserungen der Unzufriedenheit lautet, ist aber auf der anderen Seite ein neuer Beweis dafür, dass die Sozialdemokratie nur der bewusste Ausdruck eines bestehenden Klassengegensatzes ist, nicht, wie die Väter des Sozialistengesetzes meinen, die Urheberin desselben. Wenn es einmal – und man scheint ja in Deutschland mit Gewalt darauf hinzuarbeiten – zum allgemeinen Arbeiteraufstande kommen sollte, dann dürften es nicht gerade die sozialdemokratisch geschulten Arbeiter sein, welche die grösste Rachsucht und Vernichtungswuth entwickeln werden, und Mancher, der sich heute glücklich schätzt, dass auf seinem Gute, in seiner Fabrik das sozialistische Gift noch keinen Eingang gefunden, wird diesen Umstand vielleicht schmerzlichst zu empfinden haben.

Derartigen Erwägungen sind indess unsere herrschenden Klassen unzugänglich; sie versuchen es, wie gesagt, so lange als möglich, die Gewalt in Anwendung zu bringen und schüren dadurch einerseits den Hass des Volkes, indem sie es andererseits gerade durch ihr Vorgehen auf denselben Weg verweisen. Wie ernst es ihnen aber mit den vielverheissenen grossen Reformen war, die ja eine Entschuldigung für das Sozialistengesetz sein sollten, das wird mit jedem Tage einleuchtender. Jetzt, wo den Herren das Feuer nicht mehr auf den Nägeln brennt, wird es immer stiller und stiller auf diesem Gebiete, da man „diese schwierige Materie ja erst reiflich erwägen muss.“ Der Stumm’sche Antrag, der doch erst der Anfang des Anfangs sein soll, wird von Session zu Session hinausgeschoben, und die segensreichen Folgen des Schutzes der nationalen Arbeit lassen noch immer auf sich warten. Die Wilhelmsspende, die der Eitelste der Eiteln, Herr Berthold (von?) Auerbach in den Tagen des Attentats mit seinem geschraubtesten Pathos aber die Taufe gehoben, hat trotz hoher und höchster Protektion ein klägliches Missgebilde gezeitigt. Dem Hamburger Korrespondent, einem gewiss nicht radikalen Blatte, wird darüber unter dem 12. März 1880 geschrieben:

„Die Gründung der ‚Kaiser Wilhelmspende‘ kann als verfehlte bezeichnet werden. Die Aufnahme, welche sie im Publikum gefunden, ist eine derartig unsympathische, wie sie eklatanter nicht charakterisirt werden kann. Denn dieses Institut bietet weder etwas Neues, Vortheilhaftes, noch Besonderes im Vergleich zu den bestehenden Anstalten ähnlicher Art.“

Und nun weist der Artikelschreiber ziffernmässig nach, wie die bestehenden Sparkassen und Rentenversicherungsgesellschaften bei bedeutend günstigeren Bedingungen dasselbe, unter gewissen Umständen sogar mehr leisten, als die mit Hochdruck zusammengebrachte „Wilhelmsspende“.

Wir haben hier bereits unserer Schlussbetrachtung vorgegriffen, nehmen aber jetzt den Faden unserer Berichterstattung wieder auf. Von dem ungebrochenen Muthe unserer Genossen legen noch in den letzten Tagen des abgelaufenen Jahres einige Kommunalwahlen Zeugniss ab. In Esslingen gelang es den Sozialisten, von sieben zu erwählenden Gemeinderäthen fünf durchzubringen, in Lambrecht in der Pfalz errangen die Arbeiter einen glänzenden Sieg, den indess die dortigen Fabrikanten dadurch wett zu machen wussten, dass „sie fünfzehn in den Stadtrath gewählte Arbeiter unter Bedrohung mit Entlassung zwangen, ihren Austritt aus demselben zu erklären,“ eine drastische Illustration zu dem so oft bestrittenen Satze des sozialistischen Programms, dass die durch den Monopolbesitz der Kapitalistenklasse an Arbeitsmitteln „bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen“ ist. Wen aber darf es Wunder nehmen, wenn, wie gegnerische Blätter melden, „der Klassenhass in obigem Städtchen einen Höhepunkt erreicht hat, wie in wenigen Orten Deutschlands“.

Das erste hier zu berichtende Ereigniss des neuen Jahres ist leider der Verlust eines braven Kämpfers, der es wohl verdient hat, an dieser Stelle erwähnt zu werden. Am 12. Januar starb in Augsburg an einer Lungenentzündung Jakob Endres, ein Mann, der über ein Jahrzehnt hindurch in eifrigster, uneigennützigster Weise für die Sache des enterbten Volkes eingetreten ist. Die Augsburger Genossen gaben ihm bei seiner Beerdigung ein ehrenvolles Geleit, und zahlreiche Kränze von Nah und Fern legten Zeugniss davon ab, welcher Achtung sich der Verstorbene in der Gesammtpartei zu erfreuen hatte.

Im Monat Januar tagten in fast allen deutschen Staaten die Einzellandtage. Von grösserer Bedeutung für die Sozialdemokratie sind indess nur die Vorgänge in der sächsischen und der preussischen Kammer. Der Thätigkeit unserer Genossen in der ersteren haben wir bereits Erwähnung gethan; wer sich spezieller von ihrem mannhaften Eintreten bei jeder wichtigen Gelegenheit überzeugen will, den verweisen wir auf die in Leipzig erschienenen stenographischen Berichte über die betr. Sitzungen. Was dagegen den auf Grund des Dreiklassenwahlgesetzes gewählten preussischen Landtag anbetrifft, so feierte in demselben die Reaktion wahrhafte Triumphe. Die junkerlich-klerikal-kapitalistische Koalition suchte die Situation gründlich auszunutzen, was sich besonders bei dem berüchtigten Feld- und Forstpolizeigesetz, dieser Potensirung des „heiligen Eigenthums“, nach welchem die wild wachsenden Beeren und Pilze lieber verkommen sollen, als den armen Leuten zu einer, bekanntlich so überaus bescheidenen Erwerbsquelle, zu dienen, sowie bei dem, den treffendsten Andruck der Klassenherrschaft darstellenden Dienstbotengesetz zeigte. Was auch die Gesetzgeber bei Schöpfung derartiger Gesetze denken, wissen wir nicht, halten es aber fast für unmöglich, dass sie sich über die tiefe Missstimmung, den Groll, den dieselben in den unteren Volksschichten hervorrufen müssen, im Unklaren befinden. Zweifelsohne verlassen sie sich auf die Gewalt, den materiellen und geistigen Druck, den sie heute auszuüben vermögen. Auf wie lange noch? Diese Frage mögen sich wohl nur sehr Wenige unter ihnen vorlegen, desto eifriger aber ventilirt sie das Volk.

Der Monat Januar eröffnete in seinem Verlauf der Sozialdemokratie Aussicht auf neue Kämpfe. Der Reichstagsabgeordnete des siebzehnten sächsischen Wahlkreises, Genosse Bracke, legte aus Gesundheitsrücksichten sein Mandat nieder, desgleichen that der fortschrittliche Vertreter des zweiten Berliner Reichstags Wahlkreises, Herr Stadtgerichtsrath Hofmann. Für den erstgenannten Wahlkreis, einen der besten der Partei, war ein Eintreten der Sozialdemokratie selbstverständlich, doch war auch hier der Sieg nicht ganz unzweifelhaft. Ein schlimmer Feind hatte sich bekanntlich in jenen Weberdörfern und -Städten eingenistet, der Nothstand. Was das bei einer Bevölkerung, die auch in den besten Zeiten Hunger leidet, heissen will, lässt sieh schwer vorstellen, soviel wird man aber einsehen, dass ein solcher Nothstand unter Umständen wohl zu Hungerrevolten anreizen kann, jene geistige Elastizität aber, die zu einem so schwierigen Wahlkampf, wie der diesmalige, unerlässlich ist, eher schädigt als fördert. Wenn trotzdem die Genossen muthig in den Wahlkampf eintraten und unter so schwierigen Umständen schliesslich Sieger blieben – bekanntlich wurde am 2. März Genosse Auer mit 8.225 Stimmen gegen 7.256 konservative Stimmen gewählt – so zeugt das von einer Zähigkeit unserer Anhänger, die jeden Pessimismus Lügen straft. Die Glauchauer Wahl hat für die Sozialdemokratie noch dadurch eine gewisse Bedeutung, dass ein bürgerlicher Demokrat, der nach dem Inkrafttreten des Sozialistengesetzes den missglückten Versuch gemacht hatte, die Anhänger der Sozialdemokratie für seine – hier wörtlich zu nehmen – Partei zu gewinnen, gegen den sozialistischen Kandidaten zu Gunsten des konservativen agitirte, zu wessen Schaden, mag der Herr wohl seitdem eingesehen haben.

Was nun den in Berlin einzugehenden Wahlkampf anbetrifft, so liegen hier die Sachen allerdings derart, dass ein Zweifel, ob man überhaupt in denselben eintreten sollte, nicht unberechtigt genannt werden darf. Die Willkür, mit welcher der inzwischen natürlich verlängerte Belagerungszustand gehandhabt wird, macht nicht nur jede vorbereitende Thätigkeit unmöglich, selbst das Vertheilen sozialistischer Stimmzettel am Tage der Wahl, bei der geringen Gewähr des Wahlgeheimnisses sogar die Abgabe des sozialistischen Wahlzettels, kann für die Betroffenen eines der berüchtigten Ausweisungsformulare, d. h. den materiellen Ruin zur Folge haben. Und da kann man wirklich fragen: Ist der ausserdem in diesem Wahlkreise noch ziemlich aussichtslose Wahlkampf dieser Opfer werth? Die Berliner Genossen haben, ein schönes Zeichen ihres Muthes, die Frage bejaht, sie haben den Kampf, wo er ihnen geboten war, aufgenommen; hoffen wir, dass sie ihn rühmlich durchkämpfen werden. Soviel aber ist heute schon sicher, dass jede Stimme, die seiner Zeit für den sozialistischen Kandidaten, Wilhelm Körner, abgegeben werden wird, mindestens doppelt soviel gilt, als unter normalen Zeiten.

Wir erwähnten oben, dass der sog. kleine Belagerungszustand, unter dem die Reichshauptstadt sich befand, verlängert worden ist. Es gehörte diese Mittheilung eigentlich noch unter die Vorgänge des Jahres 1879, da indess die Verlängerung an der Situation der Partei gar nichts änderte – wenn man von der Bekehrung des letzten Bestes von Illusionisten, der sich hier und da noch vorgefunden haben mag, absieht, – so hielten wir es auch nicht für geboten, ihrer als eines besonderen „Ereignisses“ zu erwähnen. Auch dass die im ersten Jahre verfügten Ausweisungen verlängert werden würden, war vorauszusehen ; und wenn trotzdem einige Genossen am Tage nach Ablauf derselben nach Berlin zurückkehrten, so geschah dies nur, um die Thatsache dieser Verlängerung festzustellen. Von grösserer Bedeutung aber war der dem zum 12. Februar einberufenen Reichstag zugegangene Gesetzentwurf betreffs Verlängerung des Sozialistengesetzes auf weitere fünf Jahre. Zwar waltete in sozialistischen Kreisen auch darüber kein Zweifel ob, dass das in Deutschland herrschende System des Ausnahmegesetzes nicht mehr entrathen kann, wie ja auch längst alle Massnahmen der Partei auf eine Fortdauer des Sozialistengesetzes berechnet worden waren, dagegen ist ein grosser Theil der nicht direkt Betheiligten resp. nicht direkt interessirten Bevölkerung nichts weniger als angenehm von diesem, natürlich von Preussen ausgehenden Antrag berührt worden. Die anderthalb Jahre, seit denen das Gesetz in Kraft ist, haben bereits zur Genüge gezeigt, wie wenig es im Stande ist, der sozialistischen Idee Abbruch zu thun; namhafte Verschärfungen eintreten zu lassen, ist Angesichts der jüngsten Vorgänge in Russland höchst bedenklich geworden, andererseits aber hat die Handhabung und Auslegung des Sozialistengesetzes gezeigt, dass es lediglich vom guten Willen der Regierungen abhängt, ob sie seine Anwendung auf rein sozialistische Kreise beschränken, oder auch auf beliebige oppositionelle Elemente ausdehnen wollen. Selbstverständlich ist auch die ja unzweifelhaft vorgeschrittenere Bevölkerung Berlins von der Verlängerung des Belagerungszustandes nichts weniger als erbaut; die Willkür, mit welcher das Recht der Ausweisung gehandhabt wurde, liegt zu klar auf der Hand, als dass es anders sein könnte, und die höchst raffinirte Art, mit der man stets gerade Familienväter aussucht, ist nur in geeignet, die allgemeine Missstimmung zu vermehren. Kurz und gut, die Anhänger des Sozialistengesetzes haben bedeutend abgenommen, daran ändert auch die Thatsache nichts, dass infolge veränderter Haltung des Zentrums die Verlängerung wahrscheinlich mit grösserer Mehrheit votirt werden wird, als seiner Zeit das Gesetz selbst. Die Herren vom Zentrum waren eben nie prinzipielle Gegner des Sozialistengesetzes, sie hatten es nur ans opportunistischen Gründen abgelehnt, wie sie es nun aus Opportunität wohl auch – wenigstens das Gros der Partei – verlängern werden. Womit indess noch nicht gesagt ist, dass alle Wähler der Zentrumsmänner mit diesem Vorgehen einverstanden sein werden.

Seit dem 13. Februar tagt der deutsche Reichstag, und die Vertreter der Sozialdemokratie sind bereits mehrfach in gewohnter energischer Weise aufgetreten. Besondere Erwähnung verdienen die Bebel’schen Reden über den Reichs-Etat, das Militärgesetz und die Verlängerung des Belagerungszustandes – letztere lieferte eine scharfe Kritik der Willkür und Brutalität, mit welcher die Berliner Polizei verfahren ist – sowie die vortreffliche Rede Vahlteich’s über die Verlängerung des Sozialistengesetzes überhaupt, die zwar von jeder überflüssigen Provokation frei ist, aber in keiner Weise der nöthigen Energie und Entschiedenheit ermangelt. Wir verzichten hier auf eine Wiedergabe dieser Rede, da der stenographische Bericht der betreffenden Sitzung im Separatabdruck erschienen ist, und wir glauben, die Anschaffung der Heftchens, das ja auch die sehr lehrreichen Reden der gegnerischen Vertreter enthält, bestens empfehlen zu dürfen. Nur ein Passus, der die vielfach diskutirte Frage der Revolution behandelt, darf unserer Meinung wohl auch in diesem Bericht Raum beanspruchen. Es heisst da (S. 88 des Separatabdruckes [3]):

„Das bringt mich noch auf den erhobenen Vorwurf, dass wir nothwendigerweise mit unseren Bestrebungen zur Revolution kommen müssen, d. h. zur Revolution nicht im wissenschaftlichen Sinne, sondern zu der, wie man so sagt, mit Heugabeln, wie sie früher Mode war. Ich bin nun der Meinung, dass die Revolutionen im alten Stile mit Barrikaden und dergleichen bei der Vervollkommnung der Waffen, und bei der Art, wie unser Militarismus ausgebildet ist, einfach aus technischen Gründen überhaupt gar nicht mehr möglich sind. Aber abgesehen hiervon sind Prophezeihungen über das, was eine Partei in Zukunft thun oder lassen wird, ein Ding der Unmöglichkeit. Was in zehn Jahren sein wird, können Sie ebensowenig voraussagen als wir. Wir können Ihnen hier nicht eine Versicherung geben, dass wir niemals Revolution machen wollen, und Sie können nicht wissen, ob Sie nicht in zehn Jahren eine solche provozirt haben, auf den Wege dazu sind Sie. Das ist der Zukunft anheimgegeben, und darüber lassen wir uns mit Ihnen auf eine Diskussion nicht ein. Je nachdem die Dinge sich entwickeln, werden wir handeln, wie es nach Zeit und Umständen uns das Beste erscheint, und die Umstände werden kommen durch Sie und unter Ihrer Verantwortung. Also, wenn Sie Revolutionen nicht gern haben, wenn Sie sich davor fürchten – und das scheint doch der Fall zu sein –, dann vermeiden Sie dieselben, – wir machen sie nicht.“

Ehe wir unseren Bericht abschliessen, müssen wir noch eines Faktors in unserer Bewegung erwähnen, nämlich der Prozesse. Dass ein Gesetz, wie das Sozialistengesetz, bu Uebertretungen geradezu herausfordert, haben sich wohl auch seine eifrigsten Befürworter nicht verschwiegen, wenn es nicht gar geradezu darauf abgesehen war, recht viele Verurtheilungen zu bewirken. Wir glauben daher auf eine Aufzählung der einfachen Prozesse wegen Uebertretung des Sozialistengesetzes verzichten zu können und wollen nur hervorheben, dass es an denselben keineswegs gemangelt hat. Auch auf die verschiedene Auslegung des Sozialistengesetzes seitens der Gerichte einzugehen, müssen wir uns hier versagen, da diese Frage unzweifelhaft einer eigenen Abhandlung bedarf. Nur zweier gegen Sozialisten gefällter Urtheilssprüche müssen wir ausdrücklich hier gedenken, um zu zeigen, was gegenwärtig in Deutschland alles möglich ist. Es sind dies die Urtheile gegen die Genossen Kaufmann und Ibsen. Die Verurtheilung des Ersteren zu 4 Jahren Gefängniss wegen Verbreitung der Freiheit erinnert an die Attentatsorgien im Sommer 1878, im Prozess Ibsen hingegen sehen wir Staatsanwalt und Gerichtshof geradezu zum Meineid provoziren, um einem braven Genossen nicht nur die Freiheit, sondern auch die bürgerliche Ehre zu rauben. Es hat seit Erlass des Sozialistengesetzes schon starke Stückchen richterlicher Willkür gegeben, die genannten aber stehen bis jetzt unübertroffen da. Dass es von Seiten der Polizei an Ueberschreitungen ihrer Befugnisse nicht mangelt, liegt zu sehr in den Verhältnissen, als dass es jemand Wunder nehmen könnte. Die Haussuchungen nach verbotenen Schriften gehören bereits zu den alltäglichen Ereignissen, die Ueberwachung durch Geheimpolizisten ist meist nicht einmal dem Ueberwachten ein Geheimniss. Welche Folgen, aber ein solches System politischer Korruption auf der einen und gerechter Entrüstung auf der anderen Seite nothwendigerweise nach sich zieht, lehrt die Geschichte des zweiten Kaiserreichs.

Darum sieht aber auch die deutsche Sozialdemokratie getrost und muthig in die Zukunft. Ein System, das zur Unterdrückung und Spionage seine Zuflucht nimmt, zeigt damit selbst an, dass es auf schwachen Füssen steht. Sobald eine Gesellschaft die Kritik ihrer Grundlagen als eine auf Umsturz abzielende Untergrabung erklärt, ist sie bereits gerichtet. Darum muss auch heute noch unablässig unser Bestreben auf die Kritik – gleichviel in welcher Form – der gegenwärtigen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet sein; für die steigende Unzufriedenheit sorgen unsere Gegner, sorgen die thatsächlichen Verhältnisse; sorgen wir dafür, sie in die rechte Bahn zu leiten, sie ihres unbestimmten Charakters zu entkleiden, – mit einem Wort, sorgen wir für die Erkenntniss.

Ende März 1880
 

 
E. B―n



Fußnoten

1. Letztere wurde in der Laterne in gänzlicher Unkenntniss der Verhältnisse als eine Niederlage bezeichnet. Ein Beweis, wie vorsichtig der Aussenstehende mit seinem Urtheil sein muss.

2. Bezüglich der Nothstände in den sächsischen Weberdistrikten machen wir den Leser auf die im Selbstverlage des Verfassers erschienene Brochüre Bebels, Wie unsere Weber leben, aufmerksam. Trotz oder vielleicht gerade wegen der einfachen, schmucklosen Darstellung ist dieselbe das Aufreizendste, was wir seit langer Zeit in die Hände bekommen. Die darin enthaltenen Schilderungen und Einzelberichte sind ergreifend.

3. Leipzig, Genossenschaftsbuchdruckerei.


Zuletzt aktualisiert am 22. September 2016