Eduard Bernstein

 

Zur Frage des ehernen Lohngesetzes

V. Die Grossindustrie und die Bevölkerungsfrage


Ursprünglich: Neue Zeit, IX. Jg 1. Bd, Nr.17, 1890-91, S.529-535.
Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.1, Berlin 1904, S.40-51.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wie mit der Lohnfondstheorie verhält es sich mit dem Malthusschen Bevölkerungsgesetz. Dasselbe ist entstanden auf dem Boden einer Productionsweise, die bereits den mittelalterlichen Zunftverband gesprengft hatte, aber doch noch sehr viel Elemente des alten Handwerks beibehielt und sich nur langsam fortentwickelte, d.h. der Manufactur. Auch das Mittelalter hatte sein Bevölkerungsgesetz gehabt, aber dasselbe galt local, nicht national, und wie das Zunfthandwerk seine Bevölkerungsfrage zu lösen pflegte, ist bekannt. Mit der Verbesserung der Landstrassen und der allmählichen Beseitigung der den Handel und Verkehr beeinträchtigenden Beschränkungen verlor die locale Bevölkerungsfrage jede Bedeutung, aber das Vonuteil starb damit nicht aus. Es tauchte wieder auf als allgemeines Bevölkerungsgesetz, und das Zurückbleiben der Agricultur, die zwar hier und da bereits capitalistisch betrieben ward, aber deren Grundlage noch im wesentlichen die bäuerliche Bodenbearbeitung bildete, sowie ferner die Unvollkommenheit der Verkehrsmittel, die noch keinen regelmässigen internationalen oder intercontinentalen Verkehr auf grosser Stufenleiter gestatteten, sind weitere Erklärungsgründe für seine grosse Verbreitung im vorigen Jahrhundert. Seitdem jedoch Dampfschiff und Dampfwagen in einer Weise mit den Entfernungsschwierigkeiten aufgeräumt haben, dass die Beförderung califomischen Weizens nach Berlin oder Frankfurt am Main weniger Zeit erfordert wie ehedem der Transport einer Last Getreide von der einen der genannten Städte zur andern, seitdem die Anwendung der modernen Technik und die Fortschritte der Agrarwissenschaften, insbesondere der Agriculturchemie, die ganze Landwirtschaft revolutioniert und alle bisherigen Anschauungen von der natürlichen Grenze der Ertragsfähigkeit des Bodens hinfällig gemacht haben [1], kann von einem Bevölkerungsgesetz, wie es die classische Ökonomie verstand, nicht mehr die Rede sein. Es fehlt ihm auch der letzte Rest materieller Begründung. Wenn trotzdem die sogenannte realistisch-historische Schule in der Nationalökonomie, wie sie in Deutschland W. Röscher begründet hat, an der Malthusschen Lehre festhält, natürlich nachdem sie sie ihrer rücksichtslosen ursprünglichen Formulierung entkleidet hat, so erklärt sich das aus dem Umstände, dass ihre ökonomische Untersuchung, abgesehen von ihren sonstigen Qualitäten, zu bürgerlich wohlerzogen ist, um weiter zu gehen, als „bis gestern“. Dies ist notabene auch das Geheimnis ihrer Erhabenheit über die classische Nationalökonomie. Es ist heut ungemein billig, über die Abstractionen der classischen Ökonomie klug zu reden, aber auf der einen Seite noch inmier an der auf dem Boden der Manufactur erwachsenen Lehre festhalten, dass „die Menschen die Tendenz haben, sich rascher zu vermehren, als die Masse der Nahrungsmittel“, und auf der andern Seite „den Einfluss des relativen Rückgangs oder des Fehlens der Nachfrage“ als den entscheidenden Factor in dei „Morphologie der Industrie“ hinstellen, das verrät eine Betrachtungsweise, die alles ist, nur nicht historisch. [2]

Der „relative Rückgang der Nachfrage“ – das ist allerdings der modernen Industrie ganzer Jammer. Und ebenso der der Landwirtschaft, wenn es überhaupt noch einen Sinn hat, Industrie und Landwirtschaft als Zweige der Production grundsätzHch zu trennen. Nicht „zu viel Menschen“ sind auf der Welt, sondern „zu viel“ Lebensund Genussmittel, Waren. Wir leben im Zeitalter der chronischen Überproduction, und nicht nur einer auf der Unterconsumtion der Massen beruhenden. Es wird niemand einfallen, die letztere zu leugnen, aber erstens hat dieselbe schon bestanden, ehe es noch Krisen gab, und zweitens würde, wenn nur die mangelnde Kaufkraft der Massen, wie zuweilen erklärt wird, die Ursache der Überproduction bildete, die Thatsache ganz unerklärlich sein, dass die Krisen, diese acuten Stadien der Überproduction, jedesmal vorbereitet werden durch eine Periode, worin „der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterclasse realiter grösseren Anteil an dem für Consumtion bestimmten Teil des jährlichen Products erhält“. [3] In jener Periode „steigt die Consumtion notwendiger Lebensmittel; die Arbeiterclasse (in die nun ihre ganze Reservearmee activ eingetreten) nimmt auch momentan Anteil an der Consumtion ihr sonst unzugänglicher Luxusartikel, ausserdem auch an der Classe der notwendigen Consumtionsartikel, die sonst zum grössten Teil „notwendige“ Consumtionsartikel nur für die Capitalistenclasse bildet“ – und doch Überproduction – ja gesteigerte Überproduction, die zum momentanen Zusammenbruch der ganzen Herrlichkeit der Bourgeoisiewirtschaft führt.

Will man unter solchen Umständen ernsthaft von einem Bevölkerungsgesetz sprechen, so ist es klar, dass dasselbe grundverschieden sein muss von der Malthusschen Lehre, und nicht bloss „von manchen U eher treibungen und Unrichtigkeiten, mit denen sie zuerst vorgetragen wurde, gereinigt“. [4] Wo alle Voraussetzungen den Thatsachen ins Gesicht schlagen, da ist nichts zu „reinigen“, sondern rund heraus zu erklären, dass die Theorie, wenn sie je richtig war, total hinfällig geworden ist in einer Zeit, wo das ganze Unternehmertum, agrarisches wie industrielles, beständig klagt, dass die Producte die ganz unqualificierbar unmalthusianische „Tendenz“ haben , sich schneller zu vermehren als die Nachfrage: die nachfragenden Menschen, und wo irgend nur möglich sich gegenseitig verpflichtet, „kluge Vorsicht und Enthaltsamkeit“ – die Zauberformel der Malthusianer, der gereinigten wie der ungereinigten – zu üben in der Erzeugung von – Gebrauchswerten.

Allerdings hat auch die moderne, grosscapitalistische Productionsweise ihr Bevölkerungsgesetz, wie denn, nach dem Ausspruch von Karl Marx, „jede besondere historische Productionsweise ihre besonderen, historisch giltigen Populationsgesetze hat“. [5] Und es wird nach dem bisher Ausgeführten, dem engen Zusammenhang zwischen Lohnfrage und Bevölkerungsfrage, einleuchten, dass der Satz bereits den weitern einschliesst, dass jede besondere historisch-giltige Productionsweise auch ihre besonderen historisch-giltigen Lohngesetze hat. Die Gesetze, die heute die Löhne der Arbeiter bestimmen, können gar nicht die gleichen sein, wie die vor loo oder gar vor 150 Jahren wirkenden, sofern man nicht gemeinplätzliche Wahrheiten, wie die vier Species, für die bestimmenden Gesetze der Ökonomie ansieht und aus der Thatsache, dass auch heute noch 1 × 1 = 1 und 1 − 1 = 0 ist, den Schluss zieht, dass genau heute, wie vor 100 und 150 Jahren, Angebot und Nachfrage und das Existenzminimum des Arbeiters den Arbeitslohn regeln. Wenn nur nicht Angebot und Nachfrage selbst heute ganz anders aussähen, wie vor hundert Jahren, und das berühmte Existenzminimum ein gar so elastisches Ding wäre!

Im 23. Capitel des Capital: Das allgemeine Gesetz der Accumulation, hat Marx die Umstände entwickelt, welche unter dem Einfluss der modernen capitalistischen Production und ihrer stetigen Fortentwicklung Angebot und Nachfrage der „Ware“ Arbeitskraft bestimmen, und wieder kann ich nicht umhin, den Leser auf das Studium des Originals zu verweisen, nicht nur eines der wichtigsten Capitel des ganzen Werkes, sondern zugleich auch dasjenige, in dem Marx neun Zehntel seiner Kritiker, ohne sie gelesen zu haben, a priori widerlegt hat.

In der That kann nur totale Unbekanntschaft mit diesem Capitel es fertig bekommen, von einem Ricardo-Marxschen oder Marx-Lassalleschen Lohngesetz zu sprechen, oder gar, wie es Brentano in dem, im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes citierten Artikel thut, zu erklären, „Marx wie Rodbertus haben gleichmassig (!) gelehrt, dass innerhalb der capitalistischen Production der Lohn notwendig auf die zur Erhaltung und Fortpflanzung nötigen Subsistenzmittel beschränkt bleibe“. Schon die blossen üeberschriften der Unterabschnitte des Capitels zeigen, dass Marx die Frage von Gesichtspuncten aus untersucht, die keiner seiner Vorgänger bezw. Zeitgenossen berücksichtigt oder selbst nur angedeutet hat. [6]

Wachsende Nachfrage nach Arbeitskraft mit der Accumulation mit gleichbleibender Zusammensetzung des Capitals – lautet der erste Abschnitt. Er entwickelt die für die Arbeiter günstigsten Möglichkeiten der Capitalsvermehrung. Bleibt die Zusammensetzung des Capitals gleich, d. h. erheischt eine bestimmte Masse Productionsmittel stets dieselbe Masse Arbeitskraft, um in Bewegung gesetzt zu werden, so bedeutet Vermehrung des Capitals gleichzeitig Vermehrung der Nachfrage nach Arbeit. Die Arbeiter kommen in die Lage, bessere Lebensbedingungen durchzusetzen, sich neue Bedürfnisse anzugewöhnen, oder, um es anders auszudrücken, von dem Mehrproduct ihrer Arbeit strömt ihnen ein grösserer Teil als bisher in Form von Zahlungsmitteln wieder zu. Indes, dieser idyllische Zustand hat seine Schranke. Die Abnahme des Quantums unbezahlter Arbeit, die der Arbeiter dem Capitalisten leistet, kann „nie bis zu dem Punct gehen, wo sie den capitalistischen Charakter des Productionsprocesses ernsthaft gefährden würde“. Steigt der Arbeitspreis bis zu einer Höhe, wo der Profit so stark beeinträchtigt wird, dass der Stachel des Gewinns abstumpft, so erschlafft die Accuniulation und nimmt ab. Mit ihr aber nimmt auch das Missverhältnis zwischen Capital und ausbeutungsfähiger Arbeitskraft ab. Die Nachfrage nach Arbeitern lässt nach, und der Arbeitspreis – der Lohn – „sinkt wieder zu einem, den Verwertungsbedürfnissen des Capitals entsprechenden Niveau“. (Marx.) Das braucht indes nicht immer gerade sein physisch tiefster Stand zu sein, so nahe es demselben auch oft kommen mag, ja, es kann sogar noch höher sein, als das ursprüngliche Niveau, da bei Zunahme des Capitals, trotz abnehmender Rate des Mehrwerts, dessen Masse noch wachsen kann. [7] Weil nun, wenn die Accumulation schnell vor sich geht, die Nachfrage nach Arbeitern zu steigen pflegt, und wenn sie nachlässt oder stockt, die Nachfrage nach Arbeitern fällt, so zieht die auf Malthus schwörende Ökonomie daraus den Schluss, dass das eine Mal zu wenig und das andere Mal zu viel Lohnarbeiter existieren, und erteilt der Arbeiterclasse die weise Lehre, sie möge durch „kluge und vorsichtige Massregeln“ ihre Fortpflanzung so einrichten, dass sie immer nur in der, dem Capital gerade genehmen Anzahl vorhanden sei. [8] Alsdann werde sein Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.

Es wird dem Leser wohl nicht entgangen sein, dass die im vorstehenden entwickelte Alternative keine andere ist, als die dem „ehernen Lohngesetz“ zu Grunde liegende, und er wird jetzt begreifen, warum bürgerliche Pf ifficusse dasselbe für etwas gar nicht so Übles – gar nichts „Entsetzliches“ – erklären. Schade nur, dass, was zu der Zeit, da die Classiker der politischen Ökonomie lebten, wenigstens relative Geltung hatte, seitdem längst durch die weitere Entwicklung der capitalistischen Productionsweise ad absurdum geführt worden ist.

Bei Adam Smith ist es ein selbstverständliches Axiom, dass mit dem Wachstum des Capitals im Verhältnis die Nachfrage nach Arbeitern wächst. Auch Ricardo hält noch im grossen und ganzen an dieser Annahme fest. Erst in dem bereits erwähnten Zusatzcapitel zur dritten Auflage seiner Grundlegungen giebt er zu, dass die Nachfrage nach Arbeit infolge der Einführung von Maschinen oft nur „in abnehmendem Verhältnis“ steigt und dass „die Meinung der Arbeiter, die Anwendung von Maschinen sei ihren Interessen häufig verderblich, nicht auf Vorurteil und Irrtum (welch ein Ketzer!) beruht, sondern mit den richtigen Grundsätzen der politischen Ökonomie wohl vereinbar ist“. [9] Indes sind seine Beispiele nuxr hypothetisch und stützen sich auf keine erschöpfende Analysen des Productionsprocesses des Capitals.

Relative Abnahme des variablen Capitalteils im Fortgang der Accumulation und der sie begleitenden Concentration – unter diesem Titel führt Marx die oben skizzierte Untersuchung weiter. In diesem zweiten Abschnitt wird der Nachweis geliefert, dass mit dem Anwachsen des Capitals eine Revolution vor sich geht in seiner organischen Zusammensetzung, wie Marx das Verhältnis zwischen dem constanten, dem in Productionsmittel, und dem variablen, dem in Arbeitskraft umgesetzten Capitalteil nennt. Der Concurrenzkampf der Unternehmer wird durch Verwohlfeilerung der Waren geführt, und diese hängt, unter sonst gleichen Umständen, von der Productivität der Arbeit ab. Diese wird erhöht durch Weiterentwicklung der Maschinerie; grössere Anlagen in Baulichkeiten, Maschinen etc. werden erforderlich, dagegen werden menschliche Arbeitskräfte im Verhältnis überflüssig. „Ein stets grösserer Teil des Capitals wird in Productionsmittel umgesetzt, ein stets kleinerer in Arbeitskraft.“

Und dieser Process steigert sich mit der fortschreitenden Concentration immer mehr. Die Ruhepausen in der Entwicklung, während deren das Wachstum der Capitale und mit ihm der Unternehmungen als blosse Erweiterung der Production auf gegebener technischer Grundlage wirken, verkürzen sich. Immer mehr Arbeiter werden überflüssig gemacht – „freigesetzt“. Die vermehrten Arbeitskräfte, die das Capital infolge seiner Vermehrung heute angezogen, stösst es morgen schon wieder ab. Da der Process sich nicht in allen Industrieen gleichzeitig und in gleichem Umfange vollzieht, so werden erhebliche Bruchteile der Arbeiterclasse bald der einen, bald der andern zugeworfen, da er aber in allen grossen Industrieen vor sich geht, so findet beständig Überschüssigmachung vorher angezogener Arbeiter statt [10] – und diese aus der Productionssphäre geworfenen Arbeiter bilden eine stets, weil immer neu geschaffen, zur Verfügung des Capitals stehende Arbeiterreserve. Es giebt keine Übervölkerung im Verhältnis zu den vorhandenen Productions- und Subsistenzmitteln, sondern nur noch um Überbevölkerung im Verhältnis zu dem jeweiligen Verwertungsbedürfnis des Capitals. Dieses aber ist eine ungemein elastische Potenz. Wenn es eben noch mit einer Kraft gewirkt, dass fast alle vorhandenen Arbeiter beschäftigt wurden und teilweise sogar wirklicher Arbeitermangel herrschte, zieht es sich plötzlich zusammen und wirft so riesige Massen von Arbeitern aufs Pflaster, dass Staat und Gesellschaft sich wohl oder übel gezwungen sehen, helfend einzugreifen, um einer Hungerkatastrophe oder Schlimmerem vorzubeugen. In solchen Perioden spricht der Bourgeois von Übervölkerung und jammert, dass zu viel Menschen auf der Welt sind. Wer aber ist zu viel auf der Welt? Rentier Schulze oder Particulier Mayer? O nein, das sind sehr nützliche Mitbürger, denn dadurch, dass sie consumieren, geben sie ja anderen Gelegenheit, zu arbeiten. Überflüssig sind immer nur diejenigen, die blos zu consumieren haben, wenn sie producieren, die productiv consumieren: die Arbeiter.

Diese Überbevölkerung ist aber nicht nur ein notwendiges Product der capitalistischen Production, wenn wir sie als Wirkung betrachten, sie ist auch notwendig als Zweck. Die moderne Production braucht diese Überbevölkerung, sie muss Arbeiter in beliebigen Massen auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung haben, soll das Capital frei agieren, seine wohlthätigen Wirkungen frei entfalten können. Und diese Überbevölkerung ist beständig da, wenn auch nicht immer in gleichen Massen; der Philister sieht sie nur nicht immer, ja, er schreit sogar über Arbeitermangel, wenn sie – bei prosperierendem Geschäftsgang – unter ein gewisses Verhältnis hinabsinkt. Das Capital braucht sie, um die Production in jedem gegebenen Moment beliebig erweitern zu können, und es braucht sie fernerhin, um die Löhne der beschäftigten Arbeiter auf einem seinem Verwertungsbedürfnis entsprechenden Niveau zu halten. Sie bildet, wie Marx es genannt hat, die „industrielle Reservearmee des Capitals“. [11]

Das „eherne Lohngesetz“ unterstellt, dass, wenn die Löhne wegen Mangel an Arbeiterangebot über den notwendigen Lebensunterhalt gestiegen sind, die Arbeiter leichter Ehen eingehen und sich schneller vermehren, als sonst, so dass in gewisser Zeit vermehrtes Angebot von Arbeitskräften geschaffen wird, das den Lohn wieder herunterdrückt. Dieses Argument setzt, von seinen sonstigen Fehlern abgesehen, eine Productionsweise voraus, die sich höchstens in Perioden fortentwickelt, die mit dem Heranwachsen einer neuen Arbeitergeneration zusammenfallen. Ein „Märchen aus alten Zeiten“. Als das Capital geschrieben wurde, pflegte sich der Periodenwechsel des industriellen Cyclus – mässiger Geschäftsgang, beschleunigter Geschäftsgang, rasender Geschäftsgang, Krise und darauffolgende Stagnation – etwa in zehn Jahren abzuspielen. Seitdem sind diese Perioden immer kürzer geworden, und mit immer stärkerer Wahrheit gilt das Wort von Marx: Bevor infolge der Lohnerhöhung irgend ein positives Wachstimi der wirklich beitsfähigen Bevölkerung eintreten könnte, wäre die Frist er und abermal abgelaufen, worin der industrielle Feldzug führt, die Schlacht geschlagen und entschieden sein muss“ [12] Der Abschnitt, dem dieses Citat entnommen ist, ist der dritte des genannten Capitels und überschrieben: Progressive Production einer relativen Übervölkerung oder industriellen Rervearmee.

Die industrielle Reservearmee, deren Realität selbst der realistischste aller bürgerlichen Ökonomen nicht hinwegzuignen vermag, ist die lebendige Widerlegung des „ehernen“ Lohngesetzes, und Marx, der zuerst die Entstehungsweise derselben, ihr von absoluter Ab- oder Zunahme der Arbeiterbevölkerung unabhängiges Wachstum, ihre Daseinsformen und ihren Einfluss auf die Löhne der Arbeiter, unter ausdrücklicher irückweisung des ehernen Lohngesetzes, dargelegt hat, Marx soll dieses selbe eherne Lohngesetz, bloss in etwas anderer „Formulierung“, als „Angelpunct der socialrevolutionären Doctrin“ festgehalten haben! Es ist, als ob man sagen wollte, Lyell habe die Cuviersche Theorie der Erdformationen, nur in etwas anderer Formulierung, festgehalten.

Alle Factoren, welche unter der Herrschaft der maschinellen Grossproduction die Lohnhöhe beeinflussen, sind elastische Potenzen. Selbst der Begriff der notwendigen Lebensmittel, um deren Höhe nach dem ehernen Lohngesetz der Arbeitslohn pendelt, ist elastisch. Da er u.a. von der Culturstufe abhängt, die ein Land erreicht hat, so ist es möglich, dass in einer aufsteigenden Productionsepoche die Arbeiter sich neue Bedürfnisse angewöhnen, die schliesslich in den Begriff der gewohnheitsmässigen Lebensansprüche eingehen. Andererseits zwingt sogar die capitalistische Leitung der gesellschaftlichen Production die Arbeiter, ihre gewohnheitsmässigen Bedürfnisse Änderungen zu unterwerfen, imd was die sogenannte Minimalschranke des Arbeitslohns betrifft, so wissen die Arbeiter der Textil- und anderer von der Maschine eroberten Industrieen ein nur zu drastisches Lied darüber zu singen, wie entsetzlich dehnbar dieselbe ist, wie der Capitalist immer von neuem entdeckt, dass der Arbeitslohn noch niedriger sein kann, ohne dass der Arbeiter absolut und notwendigerweise Hungers stirbt. Unter diesen Umständen kann das Wort ehernes Lohngesetz nur irre führen. Das Lohngesetz der modernen capitalistischen Grossproduction ist schlinmier als ehern, gerade weil es elastisch ist. Es wird nicht bestimmt durch Wachstum oder Abnahme der absoluten Kopfzahl der Arbeiterbevölkerung im Verhältnis zur Capitalgrösse, sondern es wird bestimmt durch die in immer kürzeren Perioden sich vollziehenden Schwankungen in der Bewegung des Capitals; es unterwirft nicht nur die Bestimmung der jeweiligen Lohnhöhe, sondern überhaupt das ganze Sein und Nichtsein inuner grösserer Bruchteile der Arbeiterclasse den wechselnden Interessen der Capitalsverwertung; es ist der Druck der Capitalmacht überhaupt, die Abhängigkeit des Arbeiters vom capitalbesitzenden Unternehmer, mit einem Wort, das ganze Walten des capitalistischen Wirtschaftssystems. Dieses, und nicht ein, wie immer man es auch nennen mag, „Lohngesetz“ gilt es, zu „zerbrechen“.

Damit wäre unsere Untersuchung, soweit sie allgemeiner Natuir, zu Ende. Es bleibt nur noch im speciellen zu untersuchen, welche Schlüsse sich für das Verhalten der Arbeiterschaft in der Gegenwart daraus ergeben, bei welcher Gelegenheit wir auch mit Herrn Brentano noch einige Worte zu sprechen haben werden.


Fussnoten

1. Principiell halte ich an diesem Satz insoweit fest, als er die Thatsache ausspricht, dass fortgesetzt neue Methoden entdeckt werden, dem Boden und der sonstigen unorganischen Welt mehr Nahrungsund Genussmittel zu entlocken. Dass die Praxis der Theorie nur langsam folgt, ist eine andere Sache.

2. Die Versündigungen der historischen Schule an der classischen Nationalökonomie sind, seitdem obiges geschrieben, trefHich blossgelegt worden in der Schrift von Dr. R. Schüller: Die classische Nationalökonomie und ihre Gegner (Berlin 1895, C. Heymann.) Vgl. auch desselben Verfassers Schrift: Die Wirtschaftspolitik der historischen Schule (Ebendaselbst). Was speciell Malthus betrifft, so könnte man, mit Variierung eines bekannten Wortes beinahe von ihm sagen, qu’il n’était pas malthusien. Er hat die Bedingtheit seiner Aufstellungen, ihre Abhängigkeit von den besonderen Wirtschaftsverhältnissen, so energisch betont, dass seine Lehre, wie er sie in den späteren Auflagen seines Hauptwerkes darlegte, im Princip bereits den Marxschen Satz einschliesst, dass jede Productionsweise ihr eigenes Bevölkerungsgesetz hat, und ihm jedenfalls nicht widerspricht. Marx leugnet ja nicht, und es wäre Wahnsinn, es zu verkennen, dass es jeweilig Grenzen für die Bevölkenmgsvermehrung giebt. Ja, man findet bei Marx und Engels zuweilen starke Anklänge an Malthus und selbst an die alte Formel des ehernen Lohngesetzes. Vgl. z.B. Marx: Capital, III. Bd., pag.199, und Engels: Zur Wohnungsfrage, 2. Aufl., pag.35. [Zusatznote]

3. Das Capital, II. Bd., pag.406.

4. Brentano: Die Arbeitergilden der Gegenwart; II. Bd. pag. 170. – Dieser Satz ist entsprechend der vorvorigen Note zu berichtigen! [Zusatz]

5. Das Capital, I. Bd., pag.656.

6. Genauere Kenntnis der ökonomischen Literatur nötigt mich, den Satz einzuschränken. Marx überragt seine Vorgänger hier an Systematik und Tiefe der Analyse, mit den Problemen selbst haben sich aber auch schon viele Leute vor ihm beschäftigt. Zur Sache selbst siehe weiter unten und den Nachtrag. [Zusatznole zur Buchausgabe]

7. Zur Erläuterung ein Beispiel. Ein Unternehmer beschäftigt 100 Arbeiter bei einem Lohn von drei Mark pro Tag und einer Mehrwertsrate von 100 Procent, d.h. ebenfalls drei Mark. Sein Capital wächst, er vergrössert sein Geschäft und braucht jetzt 150 Arbeiter. Inzwischen ist jedoch mit der Nachfrage nach Arbeitern der Lohn gestiegen und steigt noch fernerhin, bis er schliesslich eine Höhe erreicht, die die Accumulation des Capitals ernsthaft in Frage stellt. Die Nachfrage lässt nach, und unser Capitalist kommt in die Lage, seinen Arbeitern den Brotkorb höher zu hängen. Selbst wenn er den Lohn bloss bis auf drei Mark fünfzig Pfennig pro Tag drückt, also auf einen Satz, bei dem die Rate des Mehrwerts nur noch 2,50 : 3,50 = 71,4 Procent beträgt, ist, unter sonst gleichen Umständen, die Masse des Mehrwerts von 100 × 3 Mark = 300 Mark auf 150 × 2 Mark 50 Pfennig = 375 Mark gestiegen, der Lohn aber oberhalb des ursprünglichen Niveaus verblieben.

8. Natürlich gilt dies nicht für arbeiterfreundliche und socialistische Malthusianer, wie Mill etc., denen die Einschränkung der Arbeiterzalil ein Mittel ist, die Arbeiter zu besserer Beherrschung des Arbeitsmarkts zu befähigen.

9. Principles etc., pag.239.

10. Die Schaffung ganz neuer Industrieen, welche die Maschinenproduction zur Folge gehabt hat, verlangsamt den Gesamtprocess zeitweise, hebt ihn aber nicht auf.

11. Es ist neuerdings bestritten worden, dass die capitalistische Production ans sich heraus die industrielle Reservearmee schaffe. Thatsächlich biete die Industrie unter dem Capitalismus Arbeitern in steigendem Masse Unterkunft. Die Erscheinung der „Reserverarmee“ aber sei eine Folge des aus der Feudalzeit übernommenen Grossgrundbesitzes und des entsprechenden Bodenrechts, das zur Entvölkerung des flachen Landes bezw. einem continuierlichen Strom schlechtbezahlter Mitglieder der Landbevölkerung (Arbeiter, Kleinbauern, bezw. deren Söhne etc.) in die Städte führe. Diese Theorie, die mit besonderer Schärfe von Dr. Franz Oppenheimer (Grossgrundeigentum und sociale Frage, Berlin 1898) vertreten wird, kann schon deshalb nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden, weil in der That die wirtschaftlich vorgeschrittenen Länder teils einen relativen, teils aber, und zwar gerade, wo der Grossgrundbesitz überwiegt, sogar einen relativen und absoluten Rückgang der landwirtschaftlichen Bevölkerung verzeichnen, dagegen eine beständige Zunahme der industriellen Arbeiterschaft aufweisen. Sie hat also anscheinend die erfahrungsmässigen Thatsachen für sich, während das empirische Beweismaterial bei Marx unleugbar viele Mängel aufweist. Indes übersieht Oppenheimer zwei Umstände. Erstens, dass die Zunahme der industriellen Bevölkerung der bezeichneten Länder bis in eine sehr vorgeschrittene Epoche hinein – und. wenn wir, wie billig, alle in den Weltmarkt hineinbezogenen Länder in Betracht ziehen – selbst heute noch zu einem grossen Teil auf der Ablösung der Industrie aus ihrer alten Verbindung mit der Landwirtschaft und auf geographischen Verschiebungen, d.h. dem Rückgang der industriellen Arbeit der Landbevölkerung und der Industrie zurückgebliebener Länder beruht. Die Vorführung einzelner Lander giebt daher kein richtiges Bild der Wirkungen des Capitalismus. Wir müssen vielmehr entweder das ganz ungeheure Gebiet des Weltmarkts untersuchen oder uns auf die Analyse der Geschichte bestimmter Industrieen verlegen. In ersterer wie in letzterer Hinsicht stossen wir aber auf verschiedene Beispiele, die, wie z.B. die Entwicklung der Baumwolltndustrie, Marx recht geben. Zweitens lässt Oppenheimer ausser Betracht, dass wir uns heute in den vorgeschrittenen Landern schon nicht mehr in der Ära des ungefesselten Waltens des capitalistischen Systems und freien Concurrenz befinden, diesem vielmehr durch Fabriks- und Sanitätgesetze, Volksschulwesen, Collectivaction der Arbeiter und ähnliche Gegenkräfte Schranken gesetzt sind, die eine volle Verwirklichung seiner Tendenzen verhindern. Wenn also die Wirklichkeit anders aussieht, als es nach den Deductionen von Marx der Fall sein müsste, so beweist das noch nicht die Unrichtigkeit dieser Deductionen und die Richtigkeit der Lehre von der Selbstheilungskraft der freien Concurrenz bezw. dem Verschwinden der industriellen Reservearmee bei Ablösung des Grossgrundbesitzes. Oppenheimers Kritik trifft einseitige und übertriebene Folgerungen aus den Marxschen Deductionen, lässt aber den Kern dieser unberührt. Bei Marx wiederum spielen wiederholt in die ökonomische Entwicklung ethische oder ästhetische, sowie politische Urteile hinein und bewirken eine Verkennung von Lücken oder selbst Widersprüchen der erstern. [Zusatznote zur Buchausgabe]

12. Das Capital, I. Bd., pag.663. – Über die Frage, ob die neueren Erscheinungen auf dem Gebiete der Marktbewegungen das hier Gesagte umstossen, siehe den Nachtrag.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2009