Eduard Bernstein

 

Erklärung an den Parteitag

(29. September 1898)


Erklärung Eduard Bernsteins vom 29. September 1898 an den Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Stuttgart zur Begründung seiner revisionistischen Anschauungen[1*]
Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 3. bis 8. Oktober 1898, Berlin 1898, S. 122-125.
Die Fussnoten und Wiedergabe folgen der Ausgabe vom Institut für Marxismus Leninismus beim ZK der SED (Hrsgb.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, IV, 1898-1914, Dietz 1967, S. 19ff
Transkription u. HTML-Markierung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Die in der Serie Probleme des Sozialismus[2*] von mir niedergelegten Ansichten sind neuerdings in sozialistischen Blättern und Versammlungen zur Erörterung gelangt, und es ist die Forderung ausgesprochen worden, dass der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie zu ihnen Stellung nehmen solle. Für den Fall, dass dies geschieht und der Parteitag auf die Forderung eingeht, sehe ich mich zu folgender Erklärung veranlasst.

Das Votum einer Versammlung, und steht sie noch so hoch, kann mich selbstverständlich in meinen aus der Prüfung der sozialen Erscheinungen gewonnenen Anschau ungen nicht irremachen. Was ich in der „Neuen Zeit“ geschrieben habe, ist der Ausdruck meiner Überzeugung, von der ich in keinem wesentlichen Punkt abzugehen mich veranlasst sehe.

Aber es ist ebenso selbstverständlich, dass ein Votum des Parteitages mir nichts weniger als gleichgültig sein kann. Und darum wird man es begreifen, wenn ich vor allen Dingen das Bedürfnis fühle, mich gegen fälschliche Auslegung meiner Ausführungen und falsche Schlussfolgerungen aus ihnen zu verwahren. Verhindert, selbst auf dem Kongress zu erscheinen, tue ich dies hiermit auf dem Wege schriftlicher Mitteilung.

Es ist von gewisser Seite behauptet worden, die praktische Folgerung aus meinen Aufsätzen sei der Verzicht auf die Eroberung der politischen Macht durch das politisch und wirtschaftlich organisierte Proletariat.

Das ist eine ganz willkürliche Folgerung, deren Richtigkeit ich entschieden bestreite.

Ich bin der Anschauung entgegengetreten, dass wir vor einem in Bälde zu erwartenden Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft stehen und dass die Sozialdemokratie ihre Taktik durch die Aussicht auf eine solche bevorstehende große soziale Katastrophe bestimmen bzw. von ihr abhängig machen soll.[3*] Das halte ich in vollem Umfange aufrecht.

Die Anhänger dieser Katastrophentheorie stützen sich im wesentlichen auf die Ausführungen des Kommunistischen Manifestes. In jeder Hinsicht mit Unrecht.

Die Prognose, welche das Kommunistische Manifest der Entwicklung der modernen Gesellschaft stellt, war richtig, soweit sie die allgemeinen Tendenzen dieser Entwicklung kennzeichnete. Sie irrte aber in verschiedenen speziellen Folgerungen, vor allem in der Abschätzung der Zeit, welche die Entwicklung in Anspruch nehmen würde. Letzteres ist von Friedrich Engels, dem Mitverfasser des Manifestes, im Vorwort zu den Klassenkämpfen in Frankreich rückhaltlos anerkannt worden. Es liegt aber auf der Hand, dass, indem die wirtschaftliche Entwicklung eine weit größere Spanne Zeit in Anspruch nahm als vorausgesetzt wurde, sie auch Formen annehmen, zu Gestaltungen führen musste, die im Kommunistischen Manifest nicht vorausgesehen wurden und nicht vorausgesehen werden konnten.

Die Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse hat sich nicht in der Weise vollzogen, wie sie das Manifest schildert. Es ist nicht nur nutzlos, es ist auch die größte Torheit, sich dies zu verheimlichen. Die Zahl der Besitzenden ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Die enorme Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums wird nicht von einer zusammenschrumpfenden Zahl von Kapitalmagnaten, sondern von einer wachsenden Zahl von Kapitalisten aller Grade begleitet. Die Mittelschichten ändern ihren Charakter, aber sie verschwinden nicht aus der gesellschaftlichen Stufenleiter.

Die Konzentrierung der Produktion vollzieht sich in der Industrie auch heute noch nicht durchgängig mit gleicher Kraft und Geschwindigkeit. In einer großen Anzahl Produktionszweige rechtfertigt sie zwar alle Vorhersagen der sozialpolitischen Kritik, in anderen Zweigen bleibt sie jedoch noch heute hinter ihnen zurück. Noch langsamer geht der Prozess der Konzentration in der Landwirtschaft vor sich. Die Gewerbestatistik weist eine außerordentlich abgestufte Gliederung der Betriebe auf; keine Größenklasse macht Anstalt, aus ihr zu verschwinden. Die bedeutsamen Veränderungen in der inneren Struktur der Betriebe und ihren gegenseitigen Beziehungen können über diese Tatsache nicht hinwegtäuschen.

Politisch sehen wir das Privilegium der kapitalistischen Bourgeoisie in allen vorgeschrittenen Ländern Schritt für Schritt demokratischen Einrichtungen weichen. Unter dem Einfluss dieser und getrieben von der sich immer kräftiger regenden Arbeiterbewegung hat eine gesellschaftliche Gegenaktion gegen die ausbeuterischen Tendenzen des Kapitals eingesetzt, die zwar heute noch sehr zaghaft und tastend vorgeht, aber doch da ist und immer mehr Gebiete des Wirtschaftslebens ihrem Einfluss unterzieht. Fabrikgesetzgebung, die Demokratisierung der Gemeindeverwaltungen und die Erweiterung ihres Arbeitsgebiets, die Befreiung des Gewerkschafts- und Genossenschaftswesens von allen gesetzlichen Hemmungen, Berücksichtigung der Arbeiterorganisationen bei allen von öffentlichen Behörden vergebenen Arbeiten kennzeichnen diese Stufe der Entwicklung. Dass in Deutschland man noch daran denken kann, die Gewerkschaften zu knebeln, kennzeichnet nicht den Höhegrad, sondern die Rückständigkeit seiner politischen Entwicklung.

Je mehr aber die politischen Einrichtungen der modernen Nationen demokratisiert werden, um so mehr verringern sich die Notwendigkeiten und Gelegenheiten großer politischer Katastrophen. Wer an der Theorie der Katastrophen festhält, muss die hier gezeichnete Entwicklung nach Möglichkeit bekämpfen und zu hemmen suchen, wie das die konsequenten Verfechter dieser Theorie übrigens früher auch getan haben. Heißt aber die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat bloß die Eroberung dieser Macht durch eine politische Katastrophe? Heißt es die ausschließliche Besitzergreifung und Benutzung der Staatsmacht durch das Proletariat gegen die ganze nichtproletarische Welt?

Wer das bejaht, der sei hier an zweierlei erinnert. 1872 erklärten Marx und Engels im Vorwort zur Neuauflage des Kommunistischen Manifestes, die Pariser Kommune habe namentlich den Beweis geliefert, dass „die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann“.[4*] Und 1895 hat Friedrich Engels im Vorwort zu den Klassenkämpfen ausführlich dargelegt, dass die Zeit der politischen Überrumpelungen, der von „kleinen bewussten Minoritäten an der Spitze bewusstloser Massen durchgeführten Revolutionen“ heute vorbei sei, dass ein Zusammenstoß auf großem Maßstabe mit dem Militär das Mittel wäre, das stetige Wachstum der Sozialdemokratie aufzuhalten und selbst für eine Weile zurückzuwerfen, kurz, dass die Sozialdemokratie „weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz“ gedeiht. Und er bezeichnet demgemäß als die nächste Aufgabe der Partei, das „Wachstum“ ihrer Stimmen „ununterbrochen in Gang zu halten“, bzw. „langsame Arbeit der Propaganda und parlamentarische Tätigkeit“[5*].

So Engels, der, wie seine Zahlenbeispiele zeigen, bei alledem die Schnelligkeit des Entwicklungsganges immer noch etwas überschätzte. Wird man ihm nachsagen, er habe auf die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse verzichtet, weil er es vermieden sehen wollte, dass das durch die gesetzliche Propaganda gesicherte stetige Wachstum der Sozialdemokratie durch eine politische Katastrophe unterbrochen werde?

Wenn nicht, wenn man seine Ausführungen unterschreibt, dann wird man auch vernünftigerweise daran keinen Anstoß nehmen können, wenn erklärt wird, was die Sozialdemokratie noch auf lange hinaus zu tun habe, sei, statt auf den großen Zusammenbruch zu spekulieren, „die Arbeiterklasse politisch zu organisieren und zur Demokratie auszubilden und für alle Reformen im Staate zu kämpfen, welche geeignet sind, die Arbeiterklasse zu heben und das Staatswesen im Sinne der Demokratie umzugestalten“[6*] .

Das ist es, was ich in meinem angefochtenen Artikel gesagt habe und was ich auch jetzt noch seiner vollen Tragweite nach aufrechterhalte. Für die vorliegende Frage läuft es auf das gleiche hinaus wie die Engelsschen Sätze, denn die Demokratie heißt jedesmal so viel Herrschaft der Arbeiterklasse, als diese nach ihrer intellektuellen Reife und dem Höhegrad der wirtschaftlichen Entwicklung überhaupt auszuüben fähig ist. übrigens beruft sich Engels an der angeführten Stelle auch noch ausdrücklich darauf, dass schon das Kommunistische Manifest „die Erkämpfung… der Demokratie als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben des streitbaren Proletariats proklamiert“ habe.

Kurz, Engels ist so sehr von der Überlebtheit der auf die Katastrophen zugespitzten Taktik überzeugt, dass er auch für die romanischen Länder, wo die Tradition ihr viel günstiger ist als in Deutschland, eine Revision von ihr hinweg für geboten hält. „Haben sich die Bedingungen geändert für den Völkerkrieg, so nicht minder für den Klassenkampf“, schreibt er. Hat man das schon vergessen?

Kein Mensch hat die Notwendigkeit der Erkämpfung der Demokratie für die Arbeiterklasse in Frage gestellt. Worüber gestritten wurde, ist die Zusammenbruchstheorie und die Frage, ob bei der gegebenen wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands und dem Reifegrad seiner Arbeiterklasse in Stadt und Land der Sozialdemokratie an einer plötzlichen Katastrophe gelegen sein kann. Ich habe die Frage verneint und verneine sie noch, weil meines Erachtens im stetigen Vormarsch eine größere Gewähr für dauernden Erfolg liegt wie in den Möglichkeiten, die eine Katastrophe bietet.

Und weil ich der festen Überzeugung bin, dass sich wichtige Epochen in der Entwicklung der Völker nicht überspringen lassen, darum lege ich auf die nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie, auf den Kampf um das politische Recht der Arbeiter, auf die politische Betätigung der Arbeiter in Stadt und Gemeinde für die Interessen ihrer Klasse sowie auf das Werk der wirtschaftlichen Organisation der Arbeiter den allergrößten Wert. In diesem Sinne habe ich seinerzeit den Satz niedergeschrieben, dass mir die Bewegung alles, das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nenne, nichts sei, und in diesem Sinne unterschreibe ich ihn noch heute. Selbst wenn das Wort „gemeinhin“ nicht angezeigt hätte, dass der Satz nur bedingt zu verstehen war, lag es ja auf der Hand, dass er nicht Gleichgültigkeit betreffs der endlichen Durchführung sozialistischer Grundsätze ausdrücken konnte, sondern nur Gleichgültigkeit oder, vielleicht besser ausgedrückt, Unbesorgtheit über das Wie der schließlichen Gestaltung der Dinge. Ich habe zu keiner Zeit ein über allgemeine Grundsätze hinausgehendes Interesse an der Zukunft gehabt, noch kein Zukunftsgemälde zu Ende lesen können. Den Aufgaben der Gegenwart und nächsten Zukunft gilt mein Sinnen und Trachten, und nur soweit sie mir die Richtschnur für das zweckmäßigste Handeln in dieser Hinsicht geben, beschäftigen mich die darüber hinausgehenden Perspektiven.

Die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, die Expropriation der Kapitalisten sind an sich keine Endziele, sondern nur Mittel zur Durchführung bestimmter Ziele und Bestrebungen. Als solche sind sie Forderungen des Programms der Sozialdemokratie und von niemand bestritten. Über die Umstände ihrer Durchführung lässt sich nichts voraussagen, es lässt sich nur für ihre Verwirklichung kämpfen. Zur Eroberung der politischen Macht aber gehören politische Rechte, und die wichtigste Frage der Taktik, welche die deutsche Sozialdemokratie zur Zeit zu lösen hat, scheint mir die nach dem besten Weg der Erweiterung der politischen und gewerblichen Rechte der deutschen Arbeiter zu sein. Ohne dass auf diese Frage eine befriedigende Antwort gefunden wird, würde die Betonung der anderen schließlich nur Deklamation sein.

London, den 29. September 1898

Ed. Bernstein

 

Anmerkungen der Herausgeber

 

[1*] Diese Erklärung wurde von August Bebel auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 4. Oktober 1898 in Stuttgart vorgetragen, da Eduard Bernstein auf Grund einer Anklage, die gegen ihn wegen seiner Verlegertätigkeit während des Sozialistengesetzes erhoben worden war, nicht nach Deutschland zurückkehren konnte. Mit den revisionistischen Anschauungen Bernsteins setzte sich der folgende Parteitag, der 1899 in Hannover abgehalten wurde, allseitig auseinander.

[2*] Von 1896 bis 1898 veröffentlichte Eduard Bernstein in der von Karl Kautsky redigierten theoretischen Zeitschritt der deutschen Sozialdemokratie Die Neue Zeit seine Artikelserie Probleme des Sozialismus, mit der er die bürgerliche Kritik an den Grundideen des Marxismus in die Reihen der organisierten Arbeiterbewegung trug.

[3*] Eduard Bernstein entstellte hier demagogisch die revolutionären Auffassungen der Marxisten und konzentrierte seine Erklärung einseitig auf diesen Punkt, um seine revisionistischen Anschauungen besser rechtfertigen zu können.

[4*] Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd.18, Berlin 1965, S.96.

[5*] Die von Eduard Bernstein zitierten Stellen sind der Einleitung von Friedrich Engels zu der Schrift von Karl Marx Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850 entnommen (Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd.22, Berlin 1963, S.509-527). Bernstein fälschte die Einleitung in eine Begründung für die kleinbürgerliche opportunistische Reformpolitik um. Friedrich Engels, der in seiner Einleitung die Kampfbedingungen der Arbeiterklasse in den 90er Jahren untersucht hatte, warnte die Arbeiterklasse, sich von den herrschenden Klassen zu einem vorzeitigen Aufstand provozieren zu lassen, gleichzeitig forderte er aber von der Sozialdemokratischen Partei, keinen Schritt von dem revolutionären Klassenziel des Proletariats abzurücken, und betonte, gegen den Opportunismus gerichtet, dass die internationale Arbeiterklasse keineswegs „auf ihr Recht auf Revolution“ (ebenda, S.524) verzichten darf.

[6*] Eduard Bernstein: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. In: Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/1898, Erster Band, S.556.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2009