Eduard Bernstein

 

Zusammenbruchstheorie und Colonialpolitik

(1898)


Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.2, Berlin 1904, S.79-87.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Vorbemerkung

Auch dieser Aufsatz hat seine Geschichte, und zwar seine Vor- und Nachgeschichte. Er ist das zweite Stück einer Antwort auf einen gegen mich und Karl Kautsky gerichteten polemischen Artikel des Herrn E. Belfort Bax: Colonialpolitik und Chauvinismus. [1] Herr Bax griff mich darin wegen eines Artikels an, worin ich von dem Recht der höheren Cultur über die niedere gesprochen hatte (ohne selbstverständlich dieses Recht als ein unumschränktes und unverbindliches hinzustellen), und vertrat ferner den Standpunct, dass die Socialdemokratie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln der Ausbreitung der Civilisation und den Colonialbestrebungen entgegenwirken müsse, weil diese den sonst in Bälde zu erwartenden Zusammenbruch der capitalistischen Wirtschaft weiter hinauszuschieben drohten. Ich antwortete Bax in zwei Artikeln unter dem Sammeltitel: Der Kampf der Socialdemokratie und die Revolution in der Gesellschaft. Der erste dieser Artikel: Polemisches war zum grössten Teil der Beleuchtung des Baxschen Standpunctes gewidmet und kann somit daher hier übergangen werden. Nur die Einleitung glaube ich davon ausnehmen zu sollen, da sie so gut zum zweiten wie zum ersten Artikel gehört und die generelle Auffassung kennzeichnet, in der beide geschrieben wurden. Ich gebe sie hier als Einleitung zum zweiten, den oben angegebenen Titel tragenden Artikel. Welche Polemik sich an diesen knüpfte, ist bekannt. In ihrem Fortgang ward sie zum Anlass meiner Zuschrift an den Stuttgarter Parteitag und der auf diese bezüglichen weiteren Debatten und Publicationen.

Aus der ersten Replik auf die mir von Socialisten entgegengehaltenen Kritiken lasse ich die wesentlichen Stellen in einem Nachtrag zu diesem Artikel folgen. Sie erschien unter dem Titel: Kritisches Zwischenspiel. [2]

Wie oben bemerkt, war der Baxsche Artikel auch gegen K. Kautsky gerichtet. Kautsky überliess die Beantwortung mir, äusserte sich jedoch brieflich mir gegenüber in der denkbar wegwerfendsten Weise über die Baxsche Argumentierung und drückte mir seine volle Zustimmung zu meiner Kritik derselben aus. Ich habe dies hier festzustellen, da Kautsky, der sich später auf die Seite meiner Opponenten schlug, mir in der, meiner Abthuung gewidmeten Schrift: Bernstein und das socialdemokratische Programm vorwirft, in dem vorliegenden Artikel falsche und übertriebene Behauptungen aufgestellt zu haben. [3] Das Wort Zusammenbruchstheorie sei eine Erfindung von mir, Bax habe, wenn er – Kautsky – „nicht irre“ (!). ähnliche Ansichten mitunter (!) vertreten, in der deutschen Partei seien aber dergleichen Anschauungen nicht zum Ausdruck gekommen. Was ich sachlich darauf zu erwidern habe, ist an andrer Stelle gesagt worden. Hier sei mir nur die Bemerkung erlaubt, dass, als mein Artikel erschien und heftige Angriffe erfuhr, mir ein in Deutschland lebender, wohlorientierter Parteischriftsteller schrieb, er sei nach wiederholter sorgfältiger Lektüre des Artikels zur Überzeugung gekommen, dass derselbe nichts enthalte, was nicht mit Fug und Recht gesagt werden könne.

Der Name dieses Schriftstellers ist Karl Kautsky.



In allen Ländern, wo die socialistische Partei zu politischer Bedeutung gelangt ist, beobachten wir die gleiche Erscheinung, dass sich eine innere Wandlung in ihr vollzieht. Frühere Überschwänglichkeiten in Phrase und Argumentierung werden abgestreift, die Schwärmerei für Generalisierungen lässt nach, man speculierl nicht mehr über die Verteilung des Bärenfells nach vollendetem allgemeinen Kladderadatsch, man beschäftigt sich überhaupt nicht allzuviel mit diesem interessanten Ereignis, sondern studiert die Einzelheiten der Probleme des Tages und sucht nach Hebeln und Ansatzpunkten, auf dem Boden dieser die Entwicklung der Gesellschaft im Sinne des Socialismus vorwärts zu treiben. Dieser Wandlungsprozess ist nicht immer ein in jeder Hinsicht bewusster und gewollter, und noch seltener ein einheitlicher. Überliefcrungen aller Art, Verschiedenheiten der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung lassen ihn in den verschiedenen Ländern, Unterschiede im Temperament oder der Erkenntnis lassen ihn bei den verschiedenen Personen schneller oder langsamer, widerspruchsvoller oder folgerichtiger sich vollziehen. Aber der Grundzug ist überall derselbe, ob es sich um die deutsche oder die französische, die skandinavische oder die italienische Socialdemokratie handelt.

Formell erscheint diese Wandlung als ein Abfall von der Reinheit des Princips. Es fehlt denn auch nirgends an Elementen, die sich ilir mit aller Leidenschaft widersetzen. So hatte die deutsche Socialdemokratie Anfang der neunziger Jahre ihre „Jungen“, die thatsächlich die Alten waren, insofern sie an den alten Phrasen und Schlagworten festhielten, die bisher in der Partei teils fast dogmatische Kraft, teils mindestens guten Curs gehabt hatten. Soviel wird man denjenigen von ihnen, bei denen es sich um doctrinäre Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der damaligen Parteitaktik gehandelt hat, nachträglich zugestehen müssen. In der Parteilitteratur fand sich manches, das ihre Opposition rechtfertigte. Es sei hier nur an das Rundschreiben der Centralbehörde des Communistenbundes vom März 1850 erinnert, auf das sich die Redaction einer, damals mit der Opposition gehenden Parteizeitung berief. Sie übersah – was aber auch sonst gern übersehen wurde – dass der Urheber jenes Rundschreibens zur Zeit von dessen Abfassung keineswegs schon auf der Höhe seiner socialpolitischen Erkenntnis stand, und dass sich in den Voraussetzungen, von denen das Schreiben ausging, in der Zwischenzeit sehr erhebliches geändert hatte.

Die Voraussetzungen, auf die es bei der Bestimmung tactischer Fragen ankommt, sind zweierlei Natur. Zunächst handelt es sich da natürlich um die äussere Rückwirkung der rein thatsächlichen Verhältnisse: Die ökonomische Verfassung des betreffenden Landes, seine sociale Gliederung und seine politischen Zustände, die Naturund die Machtverhältnisse seiner Parteien. Das zweite Moment ist intellectueller Natur: Der Höhegrad der Erkenntnis des Gesellschaftszustandes, die erlangte Stufe der Einsicht in die Natur und die Entwicklungsgesetze des Gesellschaftskörpers und seiner Elemente. Beide Factoren verändern sich und beider Änderungen wollen bei der Erörterung tactischer Fragen berücksichtigt sein. Das klingt wie ein Gemeinplatz und sollte einer sein, aber in der Wirklichkeit finden wir die Regel häufig ignoriert, und ganz besonders glauben diejenigen sie ignorieren zu können, die die volle Verwirklichung des Socialismus von einem grösseren allgemeinen Zusammenbruch erwarten, in einem solchen die fundamentale Vorbedingung für den endgiltigen Sieg des Socialismus erblicken.

Es ist kein Paradoxalsatz, sondern eine oft beobachtete Thatsache, dass der doctrinäre Revolutionarismus innerlich gerade so conservativ ist wie der Doctrinarismus der reactionärer Ultras. Beide sträuben sich gleich hartnäckig, Entwicklungen anzuerkennen, die ihrem „Princip“ widersprechen. Falls die Thatsachen eine zu laute Sprache sprechen, als dass man sie rundweg bestreiten könnte, werden sie sie auf alle möglichen Zufälligkeiten zurückführen, nur nicht auf ihre wirklichen, sachgemässen Ursachen. Ganz natürlich. Denn wo die Doctrin zur Marotte wird, – und es giebt Donquixotes des Umsturzes, wie es solche der Legitimität giebt, – da darf ihr Bekenner nie zugeben, dass an ihren Voraussetzungen sich irgend etwas wesentliches geändert hat. Er wird für Thatsachen, die ihm unbequem sind, Gründe aus allen möglicher Ecken zusammensuchen, aber er wird eines ängstlich vermeiden; ihre wirklichen Ursachen und Zusammenhänge sachgemäss zu untersuchen.

Auf dem Londoner internationalen Socialistencongress von 1896 wurde in der Resolution über die wirtschaftlichen Aufgaben der folgende Satz angenommen:

„Die ökonomische Entwicklung ist gegenwärtig schon so weit vorgeschritten, dass eine Krisis bald eintreten kann. Der Congress fordert daher die Arbeiter aller Länder auf, die Leitung der Production zu erlernen, um als classenbewusste Arbeiter die Leitung der Production zum Wohle der Gesamtheit übernehmen zu können.“

Es liegt klar auf der Hand, dass die „Krisis“, von der da gesprochen wird, nicht als eine gewöhnliche Geschäftskrisis gedacht wird, wie deren die moderne Gesellschaft schon öfter erlebt hat, sondern an die eigentliche, die grosse weltgeschichtliche Krisis, den Krach nicht so und so vieler capitalistischer Unternehmungen, sondern der ganzen capitalistischen Wirtschaft überhaupt. Es geht dies noch deutlicher aus dem englischen Wortlaut hervor, der wohl das Original des Satzes darbietet, während dem deutschen Text die Spuren der Überetzung, und zwar in Eile vorgenommener Übersetzung, unverkennbar anhaften. In der englischen Fassung nun wird von „reissend schneller ökonomischer Entwicklung“ gesprochen, die es zur „gebieterischen Notwendigkeit“ für das Proletariat mache, als „classenbewusste Staatsbürger“ das Verwaltungswesen zu studieren. [4]

Der Satz ist, wie vieles andere, auf dem Congress im „Ramsch“ mitangenommen worden, ohne dass sich über ihn eine Discussion erhoben hätte. Aber man kann annehmen, dass er auch bei weniger hastiger Verhandlung durchgegangen wäre. Was er empfiehlt, ist, wie Hafergrütze, unter allen Umständen nützlich, und was er behauptet, steht mindestens prinzipiell mit der zur Zeit in der Socialdemokratie vorherrschenden Auffassung vom Entwicklungsgang der modernen Gesellschaft im Einklang.

Nach dieser Auffassung wird früher oder später eine Geschäftskrisis von gewaltiger Stärke und Ausdehnung, durch das Elend, das sie erzeugt, die Gemüter so leidenschaftlich gegen das capitalistische Wirtschaftssystem entflammen, die Volksmassen so eindringlich von der Unmöglichkeit überzeugen, unter der Herrschaft dieses Systems die gegebenen Productivkräfte zum Wohle der Gesamtheit zu leiten, dass die gegen dieses System gerichtete Bewegung unwiderstehliche Kraft annimmt und unter ihrem Andrängen dieses selbst rettungslos zusammenbricht. Mit anderen Worten, die unvermeidliche grosse wirtschaftliche Krisis wird sich zu einer allumfassenden gesellschaftlichen Krisis ausweiten, deren Ergebnis die politische Herrschaft des Proletariats, als der dann einzig zielbewusst revolutionären Classe, und eine unter der Herrschaft dieser Classe sich vollziehende völlige Umgestaltung der Gesellschaft im socialistischen Sinne sein wird.

Der Gedankengang, der dieser Auffassung zu Grunde liegt, ist bekannt. Er stützt sich auf die sich vor unseren Augen vollziehende fortschreitende Concentration der Betriebe, die Zunahme der um Lohn arbeitenden Classen, die zwischen diesen und den capitalistischen Classen und in den Reihen der letzteren herrschenden Gegensätze, die Zwangsgesetze der Concurrenz, und die Rückwirkung ökonomischer Verschiebungen auf die Gestaltung der politischen Parteien wie des ganzen öffentlichen Lebens überhaupt. Alles dies erfahrungsmässig nachweisbare Thatsachen, aus denen sich die Folgerung, dass schliesslich eine grosse wirtschaftliche Krisis den entscheidenden Umschlag herbeiführen werde, mit zwingender Notwendigkeit zu ergeben scheint. So hat sich denn in der Socialdemokratie die Überzeugung eingebürgert, dieser Weg der Entwicklung sei unvermeidliches Naturgesetz, die grosse, allumfassende wirtschaftliche Krisis der unumgängliche Weg zur socialistischen Gesellschaft. Obendrein erscheint er auch als der sicherste und kürzeste Weg, und einmal daran gewöhnt, die wirtschaftlichen Vorgänge und Feststellungen fast nur noch auf die für diese Auffassung sprechenden Thatsachen hin zu untersuchen und sich vorwiegend mit ihnen zu beschäftigen, kommt man dann auch bald zu der weiteren Ansicht, dass diese grosse erlösende Krisis, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse dazwischen kommen und der capitalistischen Welt eine neue Galgenfrist gewähren, unmöglich in weiter Feme sein könne.

Wie steht es nun in Wirklichkeit mit der Aussicht auf diese grosse Krisis? Eine Reihe von Parteiblättern haben vor einigen Wochen sich mit den Ergebnissen der preussischen Gewerbezählung von 1895 beschäftigt und sind da zu äusserst pessimistischen Folgerungen für die Lebensdauer der gegebenen Gesellschaft gelangt. Unzweifelhaft zeigen die Erhebungen eine sehr bedeutende Zunahme der grossen Betriebe in Industrie und Handel, und wenn man diese allein, ohne jede weitgreifende Nutzanwendung ins Auge fasst, dann lassen sich auch Ausdrücke wie „reissend schnelle Verdichtung der Industrie“ oder „unwiderstehliche Gewalt der Durchsetzung des Grossbetriebs“ sehr wohl rechtfertigen. Aber auf die dem socialistischen Leser so nahe liegende Frage nach der Bedeutung dieser Zunahme für die Entwicklung zum Socialismus bezogen, sind Ausdrücke wie „reissend schnelle Verdichtung“ sehr geeignet, Vorstellungen zu erwecken, die dem wirklichen Stande der Dinge nicht entsprechen. Es sei uns daher erlaubt, einen Augenblick bei den betreffenden Zahlen zu verweilen.

In der eigentlichen Industrie ist die Verdichtung der Betriebe am stärksten. Wir sehen da die von einzelnen Personen allein besorgten Betriebe gegen 1882 um 12 Procent, die Kleinbetriebe (1 bis 5 Gehilfen) um ¾ Procent zurückgehen, Mittelbetriebe dagegen um 60 Procent und die Grossbetriebe um 83 Procent zunehmen. Diese Verhältniszahlen scheinen die kühnsten Folgerungen zu rechtfertigen. Ganz anders ist das Bild, das die einfachen Zahlen der Betriebe ergeben. Wir sehen da:

 

  

1882

  

1895

Zahl
der
Betriebe

 

Prozent
der
Betriebe

Zahl
der
Betriebe

 

Prozent
der
Betriebe

Alleinbetriebe

755.176

  61,8

674.042

  67,6

Kleinbetriebe (1-5 Gehilfen)

412.424

  33,7

409.332

  34,9

Mittelbetriebe (6-50 Gehilfen)

49.010

    4,0

78.627

    6,7

Grossbetriebe (51 und mehr Gehilfen)

5.529

    0,5

10.139

    0,9

 

1.222.139

100,0

1.172.140

100,0

Hier erscheint die Verschiebung geradezu unbedeutend, Zwerg- und Kleinbetriebe zusammen machen noch immer 90 Procent aller industriellen Betriebe aus. Nun täuschen freilich auch diese Zahlen, und zwar nach der, dem vorher gegebenen Bilde entgegengesetzten Seite hin. Sie lassen das Verhältnis der Grossbetriebe zu den kleinen Betrieben als bedeutend geringer erscheinen, wie es in Wirklichkeit ist. Am nächsten der Wirklichkeit führt uns die Tabelle der in den verschiedenen Betriebsgfruppen thätigen Personen. Diese zeigt folgende Entwicklung:

 

  

1882

Procent

  

1895

Procent

Alleinbetriebe

755.176

  22,3

674.042

  14,78

Kleinbetriebe

1.031.141

  30,4

1.078.396

  23,66

Mittelbetriebe

641.594

  18,9

1.070.427

  23,48

Grossbetriebe

962.382

  28,4

1.734.884

  38,06

 

3.390.293

100,0

4.557.749

100,00

Der Anteil der Grossbetriebe an der in der Industrie geleisteten Arbeit stellt sich somit als unvergleichlich beträchtlicher heraus, als wie ihn die Zahlen der blossen Betriebe zeigten. Es ist indess zu bemerken, dass hier schon alle Betriebe mit über 50 Personen als Grossbetriebe gerechnet wurden. Trennen wir die Betriebe von 51 bis 200 Personen von denen, die 201 Personen und darüber beschäftigen, so teilt die letzte Reihe in der obigen Tabelle wie folgt:

 

  

1892

Procent

  

1895

Procent

Mässige Grossbetriebe (51 bis 200 Pers.)

403.049

11,9

757.357

16,62

Sehr grosse Betriebe (201 Pers. u. mehr)

559.333

16,5

977.527

21,44

 

962.382

28,4

1.734.884

38,06

Verhältnis und Wachstum der sehr grossen Betriebe erscheinen hier weniger bedeutend. Die in solchen beschäftigten Personen machten 1895 erst etwas über ein Fünftel der gesamten in der Industrie beschäftigten Personen aus, während Mittel- und mässige Grossbetriebe zusammen noch zwei Fünftel derselben in Anspruch nehmen. Und wenn wir uns betrefs der Zahlen für die kleineren Betriebe nähere Auskunft holen, so erfahren wir, dass gerade die grössten von ihnen (Betriebe mit 3 bis 5 Personen) einen absoluten und relativen Zuwachs zeigen. Sie beschäftigen 1882 564.652, 1895 665.607 Personen, ein Mehr von 17,88 Procent. Es sind die ganz kleinen, die Zwergbetriebe (zwei Gehilfen und darunter), die teils absolut, teils relativ zurückgegangen sind.

Es zeigen also die grösseren Kleinbetriebe und Mittelbetriebe noch wenig Neigung, von der Bildfläche zu verschwinden. Sie treten nur in ihrem Verhältnis zur Grossindustrie schrittweise zurück, bezw. werden schrittweise von ihr überflügelt. Mit „Riesenschritten“, wenn man will. Und man weitergeht und nach dem, von Dr. L. Sinzheimer in seinem Buche über die Weiterbildung des fabrikmässigen Grossbetriebs [5] gegebenen Beispiel ein Vergleich der auf die einzelnen Betriebsgruppen entfallenden Productenmasse anstellt, so wird man für den Grossbetrieb noch günstigere Zahlen erhalten, bis an 60 Procent der Gesamtproduction. Aber die Viertelmillion grösserer Klein- und Mittelbetriebe mit ihren nahezu zwei Millionen Arbeitern bleiben darum doch eine Realität. Auch darf nicht übersehen werden, dass ein sehr namhafter Teil der Grossbetriebe sich auf die Herstellung von Roh- und Halbfabrikaten beschränkt, das blosse Verhältnis der Productionsmassen daher ebenfalls nur bedingte Bedeutung beanspruchen darf. Noch gehört (von der Maschinenproduktion abgesehen) die Masse der feineren Arbeiten der mittleren Betriebe an, und sie nehmen nicht ab, sondern zu. Dem reinen Zahlenverhältnis nach verschlingt die Grossindustrie weit mehr die ganz kleinen, als die Mittelbetriebe, die vielmehr nach den vorstehenden Tabellen als schier unerschütterliche Phalanx erscheinen.

Allerdings ist diese Unerschütterlichkeit auch nur die äussere Seite und herrscht in Wirklichkeit in diesem Lager nichts weniger als Festigkeit. Da werden hier allerhand bisher dem Kleingewerbe eigene Betriebe von der Grossindustrie aufgesaugt oder sonst ums Leben gebracht, und dort bilden sich auf Grund neuer Technik oder neuer Verhältnisse, wie die Grossindustrie sie hervorbringt, neue Mittelbetriebe aus. Es herrscht beständige Bewegung, Absterben alter und Aufkommen neuer Geschäftszweige, sowie häufige Umwälzungen im Schosse der einzelnen Berufsgruppen. Aber so wichtig dies für die Physiologie des modernen Handwerks und Kleinfabrikantentums ist, so ist es doch für unsere Betrachtung nebensächlich. Es handelt sich hier nicht um die Individuen, sondern um die ganzen Abteilungen. Der Aggregatzustand der Moleküle hat hier Veränderungen erlitten, aber ihre Masse ist nicht verringert und ihre Auflösung noch in weitem Felde. [6] Dass im Handel und Verkehr und in der Landwirtschaft das Verhältnis der Mittelbetriebe zu den Grossbetrieben noch sehr viel stärker ist, als in der Industrie, ist bekannt. Im Handel und Verkehr entfielen beschäftigte Personen auf

 

 

1882

 

1895

Betriebe

mit 2 und weniger Gehilfen

411.509

467.656

 

mit 3 bis 5 Gehilfen

176.867

342.112

mit 6 bis 50 Gehilfen

157.328

303.078

mit 51 und mehr Gehilfen

25.619

62.056

 

771.323

1.174.902

Und in der Landwirtschaft wurden gezählt

 

 

Zahl
1882

 

Zahl
1895

 

Gebiet
in Hektaren
1895

Parcellenbetriebe

3.061.831

3.235.169

1.807.870

Kleine Bauerngüter

   981.407

1.016.239

3.285.720

Mittlere Bauerngüter

   926.605

   998.701

9.720.935

Grössere Bauerngüter

   281.510

   281.736

9.868.367

Grosse Betriebe

     24.991

     25.057

7.829.007

Verglichen mit den Zahlen von 1882 haben im Handel und Verkehr die Mittelbetriebe und die mittleren Kleinbetriebe den stärksten Zuwachs erfahren, und in der Landwirtschaft stellten sich, äusserlich betrachtet, die mittleren Bauerngüter gegenüber 1882 besser als irgend ein andere Betriebsclasse. Das von ihnen bedeckte Gebiet stieg von 9.158.398 auf 9.720.935 Hektar. Wie sich dieses Bild bei genauerer, in die Einzelheiten eindringender Untersuchung je nach Provinzen und Kreisen und der Natur der Betriebe verändert, kann hier unerörtert bleiben. Für unseren Zweck genügen die vorgeführten rohen Zahlen.

Sie zeigen uns, dass, welchem Zweige des Wirtschaftslebens wir uns auch zuwenden, wir nirgends auf wesentliche Veränderungen oder auch nur Verringerungen in der Zahl der Mittelbetriebe stossen. Wie bedrängt auch die Lage mancher Inhaber von solchen sein mag, wie viel „Eintagsfliegen“ sich insbesondere im Handel in jedem gegebenen Moment in den Reihen der verschiedenen Betriebsclassen befinden, für das Ganze bleibt ihr Absterben gleichgiltig, das Gesamtbild erfährt dadurch keine Veränderung.

Und doch ist das stetig fortschreitende Anwachsen der Gross- und Riesenbetriebe keine Fabel. Die Tabellen für Industrie, Handel und Verkehr bestätigen es uns mit zwingender Beweiskraft – namentlich wenn wir berücksichtigen, dass im Handel Betriebe mit über 10 bis 15 Personen schon zu den Grossbetrieben gerechnet werden müssen. Sie sagen uns bloss nicht, dass die Zunahme der Grossbetriebe die Verminderung der mittleren Betriebe bedeute, sondern lassen vielmehr der Vorstellung Raum, als ob es sich da lediglich um ein Nebeneinander handelte, und nicht um einen Kampf ums Dasein gegeneinander.

Sicherlich stände diese Vorstellung in sehr vielen Fällen mit der Wirklichkeit in Widerspruch. Die Geschichte vieler Gewerbe erzählt uns von erbittertem Kampf ums Dasein der verschiedenen Betriebsarten gegeneinander und von fast absoluter Verdrängung, ja vollständiger Erdrückung der Kleinen und Mittleren durch die Grossen. Soweit die einzelnen Geschäftszweige betrachtet werden, ist Zunahme von mittleren und Grossbetrieben nebeneinander eine Ausnahme. Wenn das Gesamtbild von Industrie, Handel und Verkehr eine solche zeigt, so erklärt sich dies vielmehr erstens aus der stetig fortschreitenden Vermehrung der Gewerbsarten in der modernen Gesellschaft und zweitens aus der wachsenden Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit der heutigen gewerblichen Welt.

In unserer socialistischen Litteratur wird diesen so bedeutsamen Factoren nur geringe Beachtung geschenkt. Gelegentlich einmal, etwa wenn es gilt. Zünftlern oder sonstigen Reactionären entgegenzutreten, lassen wir uns herbei, einen Griff ins Arsenal des wirtschaftlichen Liberalismus zu thun und von der ausserordentlichen Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit des Gewerbslebens unserer Tage zu erzählen. Im übrigen aber machen wir es bei der Charakteristik der wirtschaftlichen Entwicklungsgesetze ähnlich wie bei der Begründung des Lohngesetzes. Wir unterstellen eine Starrheit und Beengtheit der gewerblichen Beziehungen, die dem Zeitalter der Manufactur oder dem Beginn der Maschinenära, wo die gewerbliche Welt die Eierschalen des überkommenen Wirtschaftszustandes noch nicht abgestreift hatte, entsprechen mögen, aber mit den charakteristischen Eigenheiten des modernen Geschäftslebens in klaffendem Widerspruch stehen. Wir argumentieren oft, als seien uns das moderne, so ausgebildete und ausgebreitete Creditwesen, die mit jedem Tage sich steigernden Erweiterungen und Erleichterungen des Verkehrs böhmische Dörfer oder mindestens ganz nebensächliche Dinge, während sie doch so gut ökonomische Factoren von grundlegender Bedeutung für das Gesellschaftsleben und die gesellschaftliche Entwicklung sind, wie die Productionstechnik, der wir mit Recht so viel Aufmerksamkeit schenken.

Im Communistischen Manifest und den in der gleichen Epoche entstandenen Schriften von Marx und Engels sind diese Factoren durchaus nicht ignoriert, sondern im Gegenteil ausdrücklich hervorgehoben worden. Aber so viel dort hinsichtlich ihrer Wirkungen vorausgesagt ist, so ist es selbstverständlich, dass man um 1848 nicht alle Entwicklung voraussehen konnte. Eine den Anspruch auf den Namen wissenschaftlicher Socialismus rechtfertigende Jubelschrift würde daher ebenso sehr sich mit der Untersuchung zu befassen haben, inwiefern die wirkliche Entwicklung der Dinge von den Annahmen des Manifests und der zu ihm gehörigen Litteratur abgewichen ist, wie mit der Feststellung der durch sie bestätigten Vorhersagungen. Indess sind die Beispiele ernsthafter Versuche, den wissenschaftlichen Socialismus wissenschaftlich zu bethätigen, noch sehr vereinzelt.

Marx und Engels selbst haben den thatsächlichen Vorgängen gegenüber nie der Doctrin zu Liebe die Augen verschlossen, sondern ihnen stets die vollste Aufmerksamkeit gewidmet. So hat denn auch Friedrich Engels bei der Herausgabe des III. Bandes des Capital keinen Anstand genommen, die früher von ihm und Marx vertretene Idee eines zehnjährigen Productionscyclus als veraltet zu behandeln. Als die Factoren, durch welche „die meisten alten Krisenherde und Gelegenheiten zur Krisenbildung beseitigt oder abgeschwächt“ seien, bezeichnet er „die kolossale Ausdehnung der Verkehrsmittel“ – oceanische Dampfschiffe, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Suezcanal – und den Umstand, dass „dem überschüssigen europäischen Capital in allen Weltteilen unendlich grössere und mannigfaltigere Gebiete eröffnet sind“. [7] Engels vermutet nun, dass der Cyclus vielleicht nur eine Ausdehnung hinsichtlich der Zeitdauer erfahren habe, und meint weiter, jedes der Elemente, das einer Wiederholung der alten Krisen entgegenstrebe, wie Cartelle, Schutzzölle, Trusts, berge „den Keim zu weit gewaltigeren, künftigen Krisen in sich“.

Gegen diese letztere Annahme scheint mir, wenigstens soweit Cartelle und Trusts in Betracht kommen, mancherlei zu sprechen. Es sind da so vielerlei Formen und Anpassungsmöglichkeiten vorhanden, dass wenigstens kein zwingender Grund vorliegt, diese Wirkung für die allein wahrscheinliche zu halten. Im übrigen wird es abzuwarten sein, ob wir, bei der steigenden Ausdehnung der Märkte, den schnellen Informationen über die Marktverhältnisse und der fortschreitenden Vermehrung der Productionszweige, überhaupt in näherer Zeit allgemeine Krisen nach Art der früheren erleben, oder ob nicht an deren Stelle zunächst nur auf bestimmte Industriegruppen beschränkte internationale Krisen treten werden. Die Thatsache, dass neuerdings die grosse Stockung in der Textilindustrie die Masse der anderen Industrien fast unberührt gelassen hat, ist vielleicht an sich für diese Folgerung nicht beweiskräftig, da z.B. die gleichzeitige Prosperität der Metallindustrie zu einem erheblichen Teile den abnorm angespannten Anforderungen des Militarismus und Marinismus geschuldet ist; immerhin sei constatiert, dass man auch in Industrieen, auf welche diese nur wenig einwirken, von Rückwirkung der Textilkrisis verhältnismässig wenig gemerkt hat. Der Kreis der Industrieen und ihrer Märkte scheint heute zu gross, um an allen Puncten gleichzeitig und mit gleicher Schwere von Krisen getroffen werden zu können, es sei denn, dass ganz aussergewöhnliche Ereignisse die Geschäftswelt aller Länder gleichmässig in Schrecken jagen, überall gleicher Weise den Credit lähmen.

Ich sage nicht, dass dem so ist, sondern drücke nur eine Vermutung aus. Vestigia terrent – ich habe vor dem Prophezeien in diesen Dingen einen Heidenrespect. Aber die Elasticität des modernen Creditwesens bei enorm anschwellendem Capitalreichtum, der vervollkommnete Mechanismus des Verkehrs in allen seinen Zweigen – Post- und Telegraphendienst, Personen- und Güterverkehr, die Ausbildung der Handelsstatistik und des Nachrichtendienstes, die Ausbreitung der Organisationen der Industriellen, das sind Thatsachen, und es ist ganz undenkbar, dass sie nicht auf die Beziehung von Productionsthätigkeit und Marktlage von bedeutendem Einfluss sein sollten.

Es spricht somit eine grosse Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir mit dem Fortschritt der wirtschaftlichen Entwicklung für gewöhnlich überhaupt nicht mehr mit Geschäftskrisen der bisherigen Art zu thun und alle Speculationen auf solche als die Einleiter der grossen gesellschaftlichen Umwälzung über Bord zu werfen haben werden.

Das mögen diejenigen bedauern, die an alten Schlagworten hängen, welche sich früher einmal „bewährt“ haben [8], die socialistische Gedankenwelt verliert damit durchaus nichts an überzeugender Kraft. Denn genauer zugesehen, was sind denn alle die von uns aufgezählten Factoren der Beseitigung oder Modificierung der alten Krisen? Alles Dinge, die gleichzeitig Voraussetzungen und zum Teil sogar Ansätze der Vergesellschaftung von Production und Austausch darstellen. Dass ihre Ausbildung das Krisenwesen nicht unbeeinflusst lassen werde, ist durchaus im Einklang mit der socialistischen Lehre. Wäre es anders, so würde dies gerade auf einen groben Fehler in derselben hinweisen.

Nehmen wir aber an, es verhalte sich mit den Krisen noch wie früher, hätte die Socialdemokratie selbst dann wirklich Grund, das sehr baldige Eintreten des grossen Zusammenbruchs herbeizuwünschen?

Man sehe sich die Zahlen an, die wir oben von Preussen, dem grössten und einem der entwickeltsten Staaten Deutschlands gegeben haben. Es liegt auf der Hand, dass bei der aus ihnen sich ergebenden Zersplitterung der Betriebe in Industrie, Handel und Landwirtschaft die Socialdemokratie – die einzige Partei, die angesichts der vollzogenen Parteientwicklung in Deutschland noch durch eine Erhebung der Massen ans Ruder gebracht werden könnte – vor eine unlösbare Aufgabe gestellt sein würde. Sie könnte den Capitalismus nicht wegdecretieren, ja, ihn nicht einmal entbehren, und sie könnte auf der anderen Seite ihm nicht diejenige Sicherheit gewährleisten, deren er bedarf, um seine Functionen zu erfüllen. An diesem Widerspruch würde sie sich unrettbar aufreiben, und das Ende könnte nur eine kolossale Niederlage sein. [9] Wir stehen im Jubiläumsjahr der französischen Februarrevolution, und es wäre sehr zu wünschen, dass man über den Erinnerungen an die glorreichen Volkstage und die schändlichen Thaten der Reaction nicht die wirklichen Lehren jenes Jahres übersähe, die Vorgänge vom Jubel des 24. Februar bis zum Drama des 24. Juni ohne Dramatik betrachtete. Die Verlegenheiten der provisorischen Regierung von 1848, gross wie sie waren, würden verschwinden gegenüber den Verlegenheiten, welche der Socialdemokratie erwachsen würden, wenn eine verallgemeinerte Geschäftskrisis sie zu einer Zeit zur Herrschaft brächte, wo die Zusammensetzung der Gesellschaft noch eine ähnliche ist, wie sie in den obigen Tabellen sich kundgiebt.

Es könnte nun erwidert werden, dass wenn man von dem Zusammenbruch der gegenwärtigen Gesellschaft spricht, man dabei mehr im Auge habe, als eine verallgemeinerte und gegen früher verstärkte Geschäftskrisis, nämlich einen totalen Zusammenbruch des capitalistischen Systems an seinen eigenen Widersprüchen. Aber diese Vorstellung ist durchaus nebelhaft und übersieht ganz die grossen Unterschiede in der Natur und dem Entwicklungsgang der verschiedenen Industrien und ihre sehr verschiedene Fähigkeit, die Gestalt von öffentlichen Diensten anzunehmen. Ein annähernd gleichzeitiger völliger Zusammenbruch des gegenwärtigen Productionssystems wird mit der fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft nicht wahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher, weil dieselbe auf der einen Seite die Anpassungsfähigkeit, auf der anderen – bezw. zugleich damit – die Differenzierung der Industrie steigert. Es hilft auch nichts, sich darauf zu berufen, dass die mit einem solchen Zusammenbruch eintretende Volkserhebung voraussichtlich die Dinge mit Treibhausgeschwindigkeit zur höchsten Entwicklung bringen werde. Diese, aus der Geschichte der grossen französischen Revolution abgeleitete Annahme beruht auf totaler Verkennung des grossen Unterschieds zwischen feudalen und liberalen Einrichtungen, zwischen feudalistisch bewirtschaftetem Grundbesitz und moderner Industrie. Mit den meisten feudalistischen Rechten konnte man aufräumen, ohne mehr als einem verhältnismässig kleinen Bruchteil der Bevölkerung Schaden zuzufügen, radicale Eingriffe ins bürgerliche Eigentumsrecht berühren einen unendlich weiteren Kreis von Interessen, die man nicht alle zur Emigration veranlassen kann. Feudale Landgüter konnte man zerschlagen und parcellenweise veräussern, modernen Fabriken gegenüber geht das nicht; je mehr davon nach dem Recept der Commune expropriiert würden, um so grösser die Schwierigkeit, sie während einer Erhebung in Betrieb zu halten. Die rein äusserliche Zuspitzung der Verhältnisse würde durchaus nicht mit einer Beschleunigung des inneren Entwicklungsprocesses der Industrie zusammenfallen, sondern im Gegenteil auf diesen vielfach aufhaltend einwirken.

Man wird nun die Frage aufwerfen, ob mit dieser Darlegung die Verwirklichung des Socialismus nicht auf den St. Nimmerleinstag – „bis zu den griechischen Kalenden“, um mit Herrn Bax zu reden – verlegt oder auf viele, viele Generationen hinaus vertagt wird. Wenn man unter Verwirklichung des Socialismus die Errichtung einer in allen Puncten streng communistisch geregelten Gesellschaft versteht, so trage ich allerdings kein Bedenken zu erklären, dass mir dieselbe noch in ziemlich weiter Ferne zu liegen scheint. Dagegen ist es meine feste Ueberzeugung, dass schon die gegenwärtige Generation noch die Verwirklichung von sehr viel Socialismus erleben wird, wenn nicht in der patentierten Form, so doch in der Sache. Die stetige Erweiterung des Umkreises der gesellschaftlichen Pflichten, d.h. der Pflichten und correspondierenden Rechte der Einzelnen gegen die Gesellschaft, und der Verpflichtungen der Gesellschaft gegen die Einzelnen, die Ausdehnung des Aufsichtsrechts der in der Nation oder im Staat organisierten Gesellschaft über das Wirtschaftsleben, die Ausbildung der demokratischen Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz und die Erweiterung der Aufgaben dieser Verbände – alles das heisst für mich Entwicklung zum Socia1ismus oder, wenn man will, stückweise vollzogene Verwirklichung des Socialismus. Die Übernahme von Wirtschaftsbetrieben aus der privaten in die öffentliche Leitung wird diese Entwicklung natürlich begleiten, aber sie wird nur allmählig vor sich gehen können. Und zwar nötigen triftige Zweckmässigkeitsgründe hier zur Mässigung. Zur Ausbildung und Sicherung guter demokratischer Betriebsführung – ein Problem, von dessen Schwierigkeit u.a. die innere Geschichte des Betriebsamts des Londoner Grafschaftsrats ein Beispiel ablegt – gehört vor allem Zeit. So etwas lässt sich nicht extemporieren. Es ist aber auch, sobald die Gemeinschaft von ihrem Rechte der Controle der wirtschaftlichen Verhältnisse gehörigen Gebrauch macht, die factische Überführung von wirtschaftlichen Unternehmungen in öffentlichen Betrieb nicht von der fundamentalen Bedeutung, wie man gewöhnlich glaubt. In einem guten Fabrikgesetz kann mehr Socialismus stecken, als in der Verstaatstaatlichung einer ganzen Gruppe von Fabriken.

Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter „Endziel des Socialismus“ versteht, ausserordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles. Und unter Bewegung verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, d.h. den socialen Fortschritt, wie die politische und wirtschaftliche Agitation und Organisation zur Bewirkung dieses Fortschritts.

Die Socialdemokratie hat also danach den baldigen Zusammenbruch des bestehenden Wirtschaftssystems, wenn er als Product einer grossen verheerenden Geschäftskrisis gedacht wird, weder zu gewärtigen, noch zu wünschen. Was sie zu thun, und noch auf lange Zeit hinaus zu thun hat, ist, die Arbeiterclasse politisch zu organisieren und zur Demokratie auszubilden, und für alle Reformen im Staate zu kämpfen, welche geeignet sind, die Arbeiterclasse zu heben und das Staatswesen im Sinne der Demokratie umzugestalten. Und was die Fragen der Colonialpolitik und Eroberung neuer Märkte anbetrifft, so wird die Socialdemokratie aus Gründen der Hochhaltung ihrer eigenen Principien jedem Colonialchauvinismus wie überhaupt jedem Chauvinismus entgegentreten, ohne sich zu dem entgegengesetzten Extrem hindrängen zu lassen, das jede Geltendmachung und Hochhaltung nationaler Rechte, jedes Nationalbewusstsein unterschiedslos als chauvinistisch verfehmt. Sie wird die Vergewaltigung und betrügerische Ausraubung wilder oder barbarischer Völker bekämpfen, aber sie wird auf jeden Widerstand gegen ihre Einbeziehung in die Geltungssphäre civilisatorischer Einrichtungen als zweckwidrig verzichten und ebenso von jeder grundsätzlichen Bekämpfung der Erweiterung der Märkte als utopistisch Abstand nehmen. Die Ausdehnung der Märkte und der internationalen Handelsbeziehungen ist einer der mächtigsten Hebel des gesellschaftlichen Fortschritts gewesen. Sie hat die Entwicklung der Productionsverhältnisse in ausserordentlichem Grade gefördert und sich als ein Factor der Steigerung des Reichtums der Nationen bewährt. An dieser Steigerung haben aber auch die Arbeiter von dem Augenblick an ein Interesse, wo Coalitionsrecht, wirksame Schutzgesetze und politisches Wahlrecht sie in den Stand setzen, sich steigenden Anteil an derselben zu sichern. Je reicher die Gesellschaft, um so leichter und sicherer die socialistischen Verwirklichungen.

Bei alledem wird die Stellung der Socialisten in den verschiedenen Ländern zur Colonialpolitik eine sehr verschiedene sein müssen. Denn es kommt da sehr viel auf die Einrichtungen und die Zustände des Landes an, das solche Politik treiben will, auf die Natur der geplanten Colonieen und die Art, wie das betreffende Land colonisiert und Colonieen verwaltet. Da in den meisten Ländern die Verwaltung der Colonieen ausschliesslich Sache der privilegierten Classen ist, so ist schon damit allein eine kritische Haltung für die Socialdemokratie angezeigt. Aber die Vorstellung, dass man durch Bekämpfung aller und jeder Colonialpolitik den Umsturz daheim beschleunigen könne, ist ganz und gar hinfällig, abgesehen davon, dass die Sache selbst utopistisch ist. Bevor man an so etwas denkt, müsste man die Dampfschiffe und Eisenbahnen aus der Welt schaffen. Wie utopistisch der Gedanke ist, zeigt sich schon daraus, dass er am stärksten in der Kindheit der socialistischen Bewegung die Gemüter erfüllte. Wenn wir die socialistische Litteratur der dreissiger Jahre dieses Jahrhunderts nachschlagen, so finden wir dort schon den Gedanken verfochten, man müsse der Colonialpolitik entgegenwirken, weil sie den Sieg der Volkssache hinausschiebe. „Keinem einzigen jungen Menschen“, schreibt der Poor Mans Guardian vom 15. Februar 1831, „sollte man erlauben, ausser Landes zu gehen, bevor er die Neugeburt dieses Landes erlebt hat“, und er donnert gegen die Colonial- und Emigrationspolitik, die Leute in die „canadischen Sümpfe“ und die „Wildnis von Neusüdwales“ verlockt. Wenn man das liest und sich dann vergegenwärtigt, was Canada und Neusüdwales geworden sind, so wird man notwendiger Weise zur Vorsicht gegenüber solchen Schlagworten getrieben. Für den Poor Mans Guardian giebt es ja viele Entschuldigungen. Erstens war die Bewegung eben noch jung, und dann stand man damals unmittelbar vor einer Umwälzung in England, die freilich anders ausfiel, als sie die tapferen Herausgeber dieses Blattes erstrebten. Wir aber sollten jetzt nach mehr als zwei Generationen über die naiven Vorstellungen der Anfänge der heutigen Socialdemokratie hinaus sein. Wer sich heute um des an ihnen verübten Unrechts willen der Matabele annimmt, der folgt einem edlen Antriebe, den man nur achten kann, auch wenn man die Sache selbst für verloren ansieht. Wer aber die Sache der Matabele zu seiner eigenen macht, um dadurch die Ausbreitung der Civilisation und die Erweiterung des Weltmarktes zu verhindern und den Eintritt des grossen Zusammenbruchs zu beschleunigen, der begeht vor allem einen kolossalen Zeitfehler. Er schreibt 1898, wo er schreiben sollte 1831. Die Erfahrungen der siebzig Jahre, die dazwischen liegen, existieren nicht für ihn.




Fussnoten

1. Die Neue Zeit, 1897-98, Bd.I., pag.420ff.

2. Die Neue Zeit, 1897-98, as. Bd.I., pag710ff.

3. Auf Seite 42 der erwähnten Schrift.

4. Hier der englische Text: „The economic and industrial development is going on with such rapidity that a crisis may occur within a comparatively short time. The congress, therefore, impresses upon the Proletariat of all countries the imperative necessity for learning, as class-conscious Citizens, how to administer the business of their respective countries for the common good.“

5. Vergl. Die Neue Zeit, Bd. I, pag.305ff. Ferner S.71 dieser Schrift.

6. Um kein Missverständnis zu erwecken, sei hier jedoch darauf erwiesen, dass der moderne Mittelbetrieb in der Industrie oft in hohem Grade capitalistischer Betrieb ist.

7. Das Capital, III. Bd., 2. Teil, pag.27, Note. Vergl. auch 1. Teil, pag.395. und 2. Teil, pag.145.

8. In einem Parteiblatt ward mir vorgeworfen, ich gefiele mir darin, „an altbewährten socialdemokratischen Theorieen und Forderungen zu nörgeln und zu mäkeln“. Nun besteht aber jedes theoretische Arbeiten im „Nörgeln“ und „Mäkeln“ an bisher angenommenen Sätzen. Zudem welcher Irrtum wäre nicht zu irgend einer Zeit „altbewährte“ Wahrheit gewesen!

9. Das vorstehende modificiert sich in dem Maasse als die Socialdemokratie sich mit dem Gedanken vertraut machte, die ihr zufallende Macht gegebenenfalls mit bürgerlich demokratischen Parteien zu teilen, und in entscheidenden Momenten entsprechend handelte.


Zuletzt aktualisiert am 29.1.2009