Eduard Bernstein

 

Geschichtliches zur Gewerkschaftsfrage

Ein Beitrag zum Thema: Gewerkschaft und Partei

(Juli 1900)


Quelle: Socialistische Monatshefte, Jg. 1900 Nr.7, Juli 1900, S.376-388.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Discussionen über die Rolle der Gewerkschaften im Emancipationskampf der Arbeiterclasse sind so alt, wie die moderne Arbeiterbewegung selbst. Viel früher als man gewöhnlich meint; stossen wir schon in den Annalen dieser auf Auseinandersetzungen, die noch heute den Grundstock der Debatten über den Wert und die Aufgaben der gewerkschaftlichen Organisationen bilden. In England reichen die Debatten bis in den Anfang der dreissiger Jahre, wenn nicht noch weiter zurück, und wer die Arbeiterblätter jener Periode nachliest, wird dort nicht wenigen der Argumente begegnen, die man sonst gern als die Frucht späterer Beobachtungen und Theorieen betrachtet. Thatsächlich sind es fast nur secundäre Momente, hinsichtlich deren sich die späteren Discussionen von jenen der ersten Epoche unterscheiden. Die Grundprobleme selbst sind die gleichen geblieben. Von dem Zeitpuncte an, wo sich überhaupt die Differenzierung der Arbeiterbewegung in gewerkschaftliche und generell socialistische Vereinigungen, propagandistischen oder politisch-agitatorischen Charakters genauer abzeichnete, zeigen sich auch schon die Rückwirkungen dieser Differenzierung. Einige freilich erst im Keimstadium; andere aber gerade in der ersten Epoche in schroffster Ausprägung.

Solange die Vereinigungen, welche das unmittelbare Wirken für die socialistische Umgestaltung der Gesellschaft auf ihre Fahne geschrieben haben, selbst noch wesentlich utopistisch denken, d.h. von der Vorstellung einer durch Radicalmittel irgend welcher Art in Kürze zu bewerkstelligenden totalen Neuordnung beherrscht sind, solange muss ihnen auch die Gewerkschaftsbewegung als blosse Kleinigkeitskrämerei erscheinen, als Frucht von Unwissenheit, Zweifel am Princip öder Abfall von diesem. Alle ihr innewohnenden Schwächen können gegebenenfalls schon von diesem Standpunkt aus in ihren Grundzügen erkannt und signalisiert werden.

Für die Kennzeichnung einer Auffassungsweise als utopistisch ist es durchaus gleichgiltig, ob das ihr, vorschwebende Mittel friedlichen oder gewalt-samen Charakters ist. Nicht die Natur des Mittels selbst, sondern das Ver-hältnis zwischen seinen factischen Möglichkeiten und den von ihm erhofften oder vorausgesagten Wirkungen bestimmt den Utopismus der es propagierenden Richtung. Es giebt Utopisten der friedlichen Mit.tel, wie es Utopisten der Gewalt giebt. Wenn also die Beschränkung auf friedliche Propaganda und wirtschaftliche Versuche der Betreibung politischer Action weicht, so bedeutet das zunächst noch keineswegs Preisgabe des utopistischen Denkens u.nd Folgerns. Der politische Kampf kann unter ganz und gar utopistischen Voraussetzungen gekämpft werden und ist in fast allen Ländern lange unter solchen gekämpft worden, wobei Opportunismus de Kämpfenden und die Gewalt der Thatsachen meist als Correctiven wirkten. Opportunismus bestimmte auch lange Zeit die Stellung der politisch kämpfenden Socialisten zur Gewerkschaftsbewegung.

Wenn es nämlich verhältnismässig leicht und ziemlich früh möglich ist, die der Gewerkschaftsbewegung, als Product ihrer natürlichen Begrenzung anhängen Mängel und Schwächen zu erkennen, so ist es um so schwerer, den richtigen Massstab für die Würdigung ihrer starken Seiten und dauernden Aufgaben zu gewinnen. Beim ersten ist der utopistische Geist kein Hindernis. Massstab des Utopisten ist das Concept einer vollkommenen Gesellschaft oder einer wesentlich unmittelbaren Entwickelung zu einer solchen. An ihm gemessen wird die Gewerkschaft umsosehr Unvollkommenheiten aufweisen, je fester sie in der unvollkommenen Gegenwart wurzel gefasst hat. Befriedigen kann den utopistisch gestimmten Kopf nur diejenige Gewerkschaft, von der dies nicht gilt, d.h. die selbst ein Stück Utopie darstellt, mehr auf die Zukunft speculiert, als in der Gegenwart wirkt.

Für die früheren Socialisten sind denn auch die Gewerkschaften lange nur ein notwendiges Übel gewesen. Und zwar ein notwendiges Übel im doppelten Sinn: es erwies sich als unrnöglich, ihr Aufkommen zu verhindern, und es war zugleich auch unmöglich, auf diese Form der Bewegung dauernd Verzicht zu leisten. Erhebliche Teile der Arbeiterclasse liessen sich nicht von der gewerkschaftlichen Organisation abbringen, und viele Arbeiter waren nur mittels der gewerkschaftlichen Verbindung zu dauernder Beteiligung an Organisationen für ihre sociale Hebung zu bewegen. Wohl oder übel musste man sich daher mit den Gewerkschaften abfinden. Aber in der Mehrheit der Fälle war die Abfindungsweise eine ziemlich üble.

Ob, wie es hier und da geschah, der Gewerkschaft zugemutet wird, ihr Arbeitsgebiet mit Rücksicht auf politische etc. Bewegungen enger zu ziehen, als ihren eigenen Bedürfnissen entspricht, oder ob, was anderwärts den Fall, ihr Aufgaben zugeschoben werden, denen sie nicht gewachsen ist, läuft insofern auf das Gleiche hinaus, als, jedesmal ihre natürliche Entwickelung unterbrochen, sie von der Verfolgung eines Teils der ihr naturgemäss zufallenden Aufgaben abgelenkt wird.

Nun ist jedoch der Grad öder Umfang dieser „naturgemässen” Aufgaben selbst wieder etwas durchaus Relatives, von wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen bestimmt. Es sind immer gewisse wirtschaftliche oder politische Voraussetzungen erforderlich, um die Gewerkschaft zur Erfüllung bestimmter Aufgaben zu berufen und zu befähigen. Fehlen sie, so kann die Beschäftigung mit ihnen grosse Kraftvergeudung bedeuten. Es heisst also jedesmal ausfinden, welches nach Lage der gegebenen allgemeinen Entwickelung die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Thätigkeit sind, und das ist nicht immer eine sehr einfache Sache. Denn die Entwickelung vollzieht sich nicht sprungweise und nicht in allen Gewerben in gleicher Art und Schnelligkeit. Ohne genauere Sachkenntnis und eine gewisse, nicht mit Missachtung der Theorie zu verwechselnde theoretische Unbefangenheit lässt sich da schwer das Richtige treffen. Je mehr der Socialist zu doctrinärer Verallgemeinerung neigt, umsomehr ist er gegen den prüfend vorgehenden Mann der Praxis im Nachteil.

So hat sich in verschiedenen Ländern die Gewerkschaftsbewegung in bald latenter und bald ausgesprochener Oppösition zur socialistischen Partei ihr Arbeitsgebiet abgesteckt. Es ist ausserordentlich interessant und lehrreich an der Hand der Geschichte de|r Arbeiterbewegung der verschiedenen Länder die mannigfachen Formen, Äusserungen und Ergebnisse dieses wechselvollen Ringens zwischen Gewerkschaft und Arbeiterpartei zu verfolgen. Lehrreich. namentlich deshalb weil es uns vor vorschnellen Dogmatisieren auf Grund einseitiger Erfahrungen schützt.. Nehmen wir nur ein einzelnes Land. als massgebenden Typus, etwa wie es- heute allgemein hinsichtlich der Gewerkschaften geschieht, England, so sind wir immer der Gefahr ausgesetzt, vieles für wesentlich und allgemein giltig zu halten, was im Grunde nur zufällig, d.h., Product localer Besonderheit ist. Um das Wesentliche vom ZufäIligen gut unterscheiden zu können, müssen wir eine ganze Reihe von Ländern mit einander vergleichen. Da stossen wir nun hinsichtlich des Verhältnisses der Gewerkschaften zur sozialistischen und politischen Ärbeiterbewegung auf ausserordentlich weitgehende Verschiedenheiten.

Der bekannte Kathedersozialist, Professor W. Sombart, hat jüngst in einigen Vorträgen, die er später in der Neuen Deutschen Rundschau, unter dem Titel: Aus Theorie und Geschichte der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung, veröffentlicht hat, eine sehr beachtenswerthe Parallele zwischen der Entwickelung der englischen und der deutschen Gewerkschaftsbewegung gezogen. Er kommt da am Schluss zur Folgerung, dass sich auch in Deutschland die Verselbständigung der Gewerkschaftsbewegung, ihre „Emancipation von der Vormundschaft der politischen Parteien“ vollzieht, und erblickt in dieser Verselbständigung einen Gesundungsprocess, der jede Förderung verdiene. Die Vorträge sind von einigen Socialisten lebhaft angegriffen worden, aber wohl mehr wegen dessen, was man hinter ihnen suchte, als auf Grund ihres wirklichen Inhalts, ihrer wirklichen Tendenz. Denn Sombart lässt darüber keinen Zweifel, dass er diese Verselbständigung nicht als eine Wendung zur Nur-Gewerkschaftssmpelei auffasst, dass ihm die Gewerkschaft überhaupt nicht die Alternative der politischen Arbeiterbewegung, sondern ihre Ergänzung, ein Stück der grossen socialistischen Bewegung ist. Bis soweit waren seine Vorträge selbst vom Standpunct der strengsten Orthodoxie unanfechtbar. Was sie an wirklich zur Debatte herausforderndem Material enthielten, liegt jenseits der so abgesteckten Grenze. Gerade dieses Gebiet liessen jedoch seine socialistischen Kritiker unberührt.

In England häben sich die Gewerkschaften erst zu ihrer vollen Kraft entwickelt, als die sozialistische Bewegung aufgehört hatte, sich in einer selbständigen politischen Partei zu verkörpern. Ihre Verbindung mit der specifisch socialistischen Bewegung war hier immer nur eine sehr oberflächliche gewesen, hat nie längeren Bestand gehabt. Es hat dies seinen Grund darin, dass erstens ein Teil der englischen Gewerkschaften älteren Datums sind, als die socialistischen und politischen Arbeitervereine, und dass zweitens die socialistische Bewegung als solche zusammenbrach, ehe sie noch die beiden Stadien des friedlichen und des revolutionären Utopismus überwunden hatte. So musste naturgemäss derjenigen Partei öder Richtung, welche die nächsten Reformforderungen des Socialismus übernahm und mit Aussicht auf Erfolg in der Öffentlichkeit vertrat, dem bürgerlichen Radicalismus in seinen verschiedenen Schattierungen, auch das Erbe der socialistischen Partei bei den Gewerkschaften zufallen. Denn unpolitisch waren die englischen Gewerkschaften immer nur der Form nach. Am politischen Leben haben die regeren und thätigeren Elemente der Gewerkschaftswelt stets lebhaften Anteil genommen.

Unterstellen wir für Deutschland eine ähnliche politische Entwickelung, wie in England, nehmen wir an, Bismarck habe 1866 statt des allgemeinen und gleichen Wahlrechts nur ein beschränktes, mit allerhand Stacheldrähten umgebenes Wahlrecht eingeführt oder 1878 mit der ihm damals zu Gebote stehenden Mehrheit das bestehende Wahlrecht in diesem Sinne zurückrevidiert; so würde das Verhältnis der Gewrkschaften zu den politischen Parteien sich hier wahrscheinlich nicht sehr von dem in England obwaltenden unterscheiden. Die Be ziehunger der Gewerkschaften zur Socialdemokratie werden einerseits durch politische Machtverhältnisse und andererseits durch den Höhegrad des Verständnisses für die beiderseitigen Aufgaben bestimmt. In dieser Hinsicht fand aber in Deutschland das Jahr 1866 die Dinge noch sehr im Argen, das. Jahr 1878 sie nur erst zumTeil geklärt vor.

Sombart berührt einige Thatsachern, wie die grosse Ähnlichkeit des Schweitzerschen Gewerkschaftsbundes mit der Owenschen consolidierten Trades Union, um den Parallelismus der deutschen mit der englischen Gewerkschaftsentwickelung aufzuzeigen. Aber er schöpft hier nur aus, zweiter Hand; wäre ihm die esoterische Geschichte der Bewegung genauer bekannt, so hätte er zeigen können, wie sich im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein das Gewerkschaftsproblem immer wieder von neuem als Spaltpilz geltend machte, heute vertreten durch F.W. Fritzsche, ein andermal durch P. Grottkau, und dann wieder durch die Gebrüder Kapell, mit dem blanquistisch gestimmten Hasselmann als intellectuellen Vertreter der Gegenströmung. In der sog. marxistischen Fraction der deutschen Socialdemokratie konnte das Gewerkschaftsproblem Gegensätze von gleicher Schärfe nicht hervorrufen; sie stand dazu der Bewegung zu frei gegenüber. Aber ganz ohne Reibereien ging es auch hier nicht ab. Bei vielen Conflicten zwischen Hamburg und Leipzig spielten Gewerkschaftsinteressen (York!) eine nicht unbedeutende Rolle. Nur stellte sich hier das Problem in gewisser Hinsicht unigekehrt, wie beim Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein.

Galt es im ersteren, der Gewerkschaftsbewegung Ellbogenfreiheit für ihre naturgemässe Entfaltung zu erringen, so war im anderen Lager die Aufgabe, sie von etwas allzu kühnen Flügen, zu denen eine weitausblickende Theorie sie verleitet, auf den Boden der Realität zurückzuführen, wieder die Glieder nach der Decke zu strecken. Die Vereinigung der beiden Fractionen schuf in dieser Hinsicht eine Art Ausgleich bezw. stärkte die in der Richtung auf einen rationellen Ausgleich wirkende Strömung. Aber zu einem soliden Aufbau liess es schon die Mitte der siebziger Jahre in Deutschland waltende Geschaftsstille nicht kommen, und so fand das Sozialistengesetz, wie Sombart feststellt, gar nicht so viel an Gewerkschaftsorganisationen zum Zerstören vor, als man gemeinhin annimmt. Ich weiss nicht, ob Sombart der erste ist, der es constatiert, aber bemerkenswert ist es jedenfalls, dass, als das Socialistengesetz fiel, d.h. nach fast zwölfjähriger erzwungener „Neutralisierung“, die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland etwa siebenmal stärker dastand, als zur Zeit seiner Verkündigung. Ihre geistigen Beziehungen zur Socialdemokratie aber waren 1890 durchaus keine weniger freundschiaftlichen, wie vor 1878. Ganz im Gegenteil. Wie mit Bezug auf die ziffernmässige Stärke der vorsocialistengesetzlichen Gewerkschaftsbewegung, muss man sich auch hinsichtlich ihrer Qualität vor Überschätzung hüten. Wohl fehlte es ihr nicht an hochintelligenten Vertretern, und in manchen ihrer Sectionen herrschte ein, ziemlich reges geistiges Leben. Aber das war doch stets nur eine, Minderheit der Gewerkschaftswelt, und dann| war gerade die stärkere Beschäftigung mit Fragen allgemeinen Charakter vielfach wesentlich Folge des Umstandes, dass man noch, nicht stark genug war, sich| wirksam gewerkschaftlich zu bethätigen, oder sich nicht. recht klar darüber war wie weit es das Gebiet dieser Thätigkeit zu stecken galt. Die Arbeitsteilung zwischen gewerkschaftlicher und politischer Arbeiterbewegung war erst im Werden und was sich als gewerkschaftliche Vereinigung ausgab und fühlte, war oft noch nicht viel mehr als ein berufsgenossenschaftlich zusammengesetzter Discutierclub. Auf einer gwissen Stufe der Entwickelung war das unvermeidlich, aber ein idealer Zustand war es nicht.

Auch waren d|ie theoretischen Discussionen nicht gerade sonderlich fruchtbar. Dazu liessen es schon gewisse Dogmen oder dogmatisch aufgefasste Sätze der geltenden socialistischen Theorie nicht kommen. Das eherne Lohngesetz z.B. wirkte in dieser Hinsicht als ein richtiger Stein des Anstosses. Wer es in seiner landläufigen Fassung acceptierte, zog damit der gewerkschaftlichen Thätigkeit sehr enge Grenzen, und wer diese Fassung oder die ihr zu Grunde liegenden Sätze angriff, lief anscheinend Gefahr, eines der wirksamsten Argumente der socialistischen Propaganda zu beeinträchtigen. Von einer anderen Seite her stellte sich einer fruchtbaren Erörterung der gewerkschaftlichen Aufgaben von einem gewissen Punct ab die wesentlich pessimistische Auffassung der Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft, und des Classenkampfs in den Weg. Zwischen diesen doctrinären Prellsteinen drehte sich die Discussion über die Gewerkschaftsfragen in einem ziemlich, engen Kreise. Was über ihn hinaus lag, war entweder „Utopie“ oder „Harmonieduselei“.

Zu den wenigen Ausnahmen von der hier gekennzeichneten Regel gehören die beiden Broschüren Carl Hillmanns über Gewerkschaftsfragen: Praktische Emancipationswinke (1873) und: Die Organisation der Massen (1875). Hillmann gab dem ehernen Lohngesetz eine höchst liberale Deutung. „Da sich der Lohn dem ehernen Lohngesetz zufolge nach den gewohnheitsmässigen Bedürfnissen eines Volkes richtet,“ schreibt er in den Praktischen Emancipationswinken, so kann nichts näher liegen, als die gewohnheitsmässigen Bedürfnisse zu erweitern:“ Dadurch gebe der Arbeiter seiner Arbeitskraft einen höheren Wert und schütze er sich „vor Überproduction und Handelskrisen“ – eine Deduction; die nicht nur Lassalle über den Haufen wirft, sondern auch stark an Marx rüttelt. Im übrigen ist Hillmann wesentlich Marxist, wenn auch von Hamburg-Harburger Couleur. Mit grösster Energie tritt er für die Unabhängigkeit der Gewerkschaftsbewegung von der politischen Partei ein und beklagt es als Mitglied der socialdemokratischen (Eisenacher) Arbeiterpartei, dass auch sie „nicht frei von die Gewerksgenossenschaften negierenden und zerstörenden Elementen“ seien.

Wenn aber Hillmann auch einige der Schranken durchbricht, in denen sich sonst die Discussion der Gewerkschaftsfrage bewegte, so lässt er doch andere unberührt. Wo er bei Kennzeichnung der Aufgaben der Gewerkschaften den Boden der Verhältnisse; wie er sie vor sich hatte, verlässt und auf die Zukunft zu sprechen kommt, da kennt auch er nur eine Frage: die der Gestaltung der Dinge nach dem grossen Siege, im socialistischen Volksstaat. Ganz abgesehen davon, dass es sehr viel schwieriger und auch riscanter ist, die nächsten Stufen einer sich schrittweise vollziehenden Entwickelung im voraus zu kennzeichnen, als auf eine noch weiter hinaus liegende, auf radicaler Änderung der Macht-verhältnisse beruhende Entwickelungsstufe zu exemplificieren, konnte auch in den Reihen deutscher Socialisien bei der damaligen Auffassung des socialen und politischen Entwickelungsganges der Gedanke gar nicht aufkommen, dass noch diesseits, der grossen Linie sich der Wirkungskreis der Gewerkschaften wesentlich sollte erweitern können.

Gerade umgekehrt war es in den sechziger und siebziger Jahren bei den englischen Gewerkschäftlern. Die radicalen Socialisten hatten fast jeden Einfluss auf sie verloren, umso stärker war dagegen der Einfluss den christlichen Socialisten und vor allem der Positivisten. Welche praktischen Verdienste sich die Positivisten in England um die Gewerkschaftsbewegung erworben haben, ist bekannt, und es war daher nur natürlich dass auch ihre Theorieen bei den geistig regsameren Gewerkschaftsmitgliedern wilijges Gehör fanden. Dies umsomehr, als diese Lehren in keinem Widerspruch mit der sich sichtbar vollziehenden Entwickelung standen und den factischen, unmittelbaren Bestrebungen der Arbeiter durchaus entsprachen. Der Positivist geht als Sozialökönom, wie der Socialdemokrat, von der Entwickelung zur Grossindustrie, zur Concentration der Unternehmungen aus. Diese Entwickelung ist ihm noch viel mehr eine wünschbare, wie sie eine natur-gemässe Erscheinung ist. Sie ist ihm die unerlässliche Bedingung socialer Verbesserung, Herabsetzung:der Arbeitszeit, grössere Regelmässigkeit der Beschäftigung, schrittweise Erhöhung der Löhne, starke und dauernde Organisation, der Arbeiter haben zur Voraussetzung Wachstum der Unternehmungen an Umfang und Abnahme der Unternehmerclasse:der Zahl nach. Von hier ab aber macht der Positivist Halt. Die Idee, die Arbeiter als Classe zu ihren eigenen Unternehmern zu machen, ist ihm eine Utopie. Die Scheidung zwischen Unternehmern, den „Hauptleuten der Industrie“, und Arbeitern, den Soldaten der Industrie, ist ihm eine naturgemässe, die stets vorhalten werde. Alle Bestrebungen, die Arbeiten, selbst zu-Unternehmern zu machen, sind in seinen Augen verfehlt und zum Seheitern verurteilt. Dem Arbeiter muss als Arbeiter geholfen werden, und in keiner anderen Eigenschaft. Einiges fällt dabei dem Staat zu, anderes den Organisationen der Arbeiter, und schliesslich müssen auch die Unternehmer durcht die positivistische (humanitäre) Religion und den sanften Druck der Arbeiterorganisationen dazu erzogen werden, die mit ihrer Rolle als “Hauptleute der Industrie“ verbundenen Pflichten gegen die Arbeiter in jeder Hinsicht zu erfüllen.

Der bekannte Positivist Professor Ed.S. Beesly hat die Gründzüge dieser Theorie in einem Vortrag betitelt: Die sociale Zukunft der arbeitenden Classe, entwickelt der im Mai 1868 vor englischen Gewerkschatften gehalten wurde und später als ‘Broschüre drei Auflagen erlebte. Dieser Vortrag enthält in nuce so ziemlich die ganze Socialtheorie des modernen Kathedersocialismus. Es ist unter diesem Gesichtspunct sehr interessant, ihn mit dem Sombartschen Vortrag zu vergleichen. Sombart erklärt am Schluss, noch auf Generationen hinaus würden die Hauptleute der Industrie, die “königlichen Kaufleute“ und „geniale Unternehmer“, an der Spitze des Wirtschaftslebens stehen. Das ist durchaus im Sinne Beeslys und der Positivisten. Bloss drückt Beesly sich darin noch bestimmter, dogmatischer aus. Sein Vortrag ist vor allem gegen die damals noch stark grassierende Idee der Productivgenossenschaften gerichtet. Während er den Consumvereinen einen grossen Wert für die Ärbeiterclasse zuerkennt, hat er für die Produktivgenossenschaften, ob mit oder ohne Staatshilfe nur schroffe Ablehnung.

„Eine übertriebene und abergläubische Hochachtung vor den Rechten des Eigentums,“ schreibt er “und Gleichgiltigkeit hinsichtlich seiner Pflichten sind die vornehmsten Hindernisse der Hebung der Arbeiterclasse. Je geringer die Zahl der Eigentümer, in deren Händen das Capital concentriert ist, umso leichter wird es sein, sie zu erziehen zu disciplinieren und, wo es not thut sanften Zwang auf sie auszuübe. Aber wenn die grossen Capitalisten eine Armee kleiner Capitalisten hinter sch haben, Leute, die die genossenschaftlichen Arbeiter in dem Genossenschaftsactionär ertränkt haben, die ihre drei- oder vierhunderte Pfund im Unternehmen stecken haben und ihre weniger erfolgreichen Cameraden zum Lohnsatz des Marktes beschäftigen, nun so ist es klar, dass das Capital des Landes dann weniger als je, sich wird disciplinieren lassen ...

Würde die gewerbliche Production dieses Landes in die Hände einer Masse kleiner Actionäre fallen, so würden die einfachen Arbeiter bald die; Zügel fester und die Last schwerer finden. Ihr Verlangen, nach Aufhebung:, ungerechter Gesetze würde hartnäckigerem Widerstand begegnen, der Fortschritt, den sie in der Richtung auf Annehmlichkeiten und würdigere Stellung gemacht haben, würde jäh ünterbrochen werden. GIücklicherwreise ist es, wie ich schon zu zeigen versucht habe, ganz und gar nicht wahrscheinlich, dass die genossenschaftliche Production jemals den capitalistischen Unternehmer aus dem Feld schlagen wird ...“

Ganz anders die Gewerkschaftspolitik.

„Ich habe es als einen verhängnisvollen Fehler der Productivgenossenschaftsdoctrin bezeichnet, dass sie das Verhältnis von Unternehmern und Angestellten als eine vorübergehende, bloss zeitweilige Einrichtung betrachtet, die abgelöst werden könne und. werde, während sie von dauerndem Bestand und bestimmt ist, alle Änstürme zu überleben. Es ist ein hervorragendes Verdienst des Gewerkschaftstums, dass es diese wichtige Wahrheit anerkennt. Der praktische Menschenverstand der Arbeiter hat sich hier aller Gescheitheit von Philosophie überlegen erwiesen. Sie haben instinctiv den Satz erfasst, dass wir der Sache des Fortschritts, ob politisch oder social, am besten dienen, wenn wir darauf hinarbeiten, die derzeitigen Machthaber nicht abzusetzen, sondern zum Gebrauch ihrer Macht für gesellschaftliche Interessen zu errziehen. Das Gewerkschaftssystem bietet ferner den praktischen Vorteil, das es nicht, wie die Pläne der Philosophen verurteilt ist, solange als specülatives Phantom impotent in der Luft zu schweben, bis es über die Hilfe des Staats zu seiner Erprobung gebieten kann. Ein paar Dutzend Leute können, wenn sie Lust haben, jeden Tag daran gehen, es in ihrem Gewerbe zur Anwendung zu bringen. Auch ist es kein fix und fertiges System, bei dem jedes Detail von vornherein mit mathematischer Genauigkeit festgesetzt ist. Es ist ausserordentlich elastisch und kann sich ganz von selbst, den Umständen jedes speciellen Falles anpassen.“

Es liegt auf der Hand, dass sich gegen verschiedene der hier angeführten Sätze sehr Triftiges einwenden lässt, dass sie – wie dies überhaupt dem Positivismus eigen – relativen Wahrheiten eine viel zu absolute Deutung geben. So der Comtesche Satz von der Erziehung der Machthaber, und so auch die Behauptung, dass das Verhältniss von Unternehmern und Angestellten von ewigem Bestand sein werde. Reduciert man sie dahin, dass es nocl auf lange hinaus Gesetze und Regierungen geben wird, und dass es nicht die Productivgenossenschaft ist, der die cäpitalistische Unternehmung weichen wird, so drücken sie jedoch nur Gedanken aus, welche die bisherige Praxis durchaus bestätigt hat. Praktisch war der Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmerclasse bisher überall nur ein Kampf um Hebung der Arbeiter in ihrem Verhältnis zu den Unternehmern, aber nicht um völlige Aufhebung dieses Verhältnisses. Dieses letztere Ziel ist noch wenig über das Stadium einer abstracten oder metaphysischen Conception hinausgelangt. Wo es sich nicht einfach darum handelte, den Privatunternehmer durch einen Collectiviunternehmer (Staat, Gemeinde, etc.) zu ersetzen, der die Angestellten in keine von der bisherigen wesentlich verschiedene Stellung zum Unternehmenn brachte, hat sich die Zugkraft der Idee der Beseitigung des Unternehmertums für die praktische Anwendung all ausserordentlich schwach erwiesen. Die Mög1ichkeit, als Producenten Hundertstel- oder Tausendstel-Unternehmer zu werden, übt auf die grosse Masse der Arbeiter ganz und gar keinen Reiz aus. Sie haben es im concreten Falle immer vorgezogen, das Lohnverhältnis principiell fortbestehen zu lassen. Allen Gewinnbeteiligungsprojecten, z.B., wie gut sie auch gemeint waren, wie radical sie auch gedacht waren, haben sie sich in der Regel skeptisch gegenübergestellt und insofern Beesly recht gegeben, der mit Bezug auf die gerade in den sechziger Jahren auftauchenden Gewinnbeteiligungspläne meinte, mit ihnen stellten die Unternehmer ihre eigene sociale Rechtfertigung in Zweifel. Wenn sie, die Unternehmer, das nicht begreifen wollten, so würden es ihnen die Arbeiter durch ihre Coalitionen begreiflich machen, würden die Arbeiter den Unternehmern gegen sie selbst lehren, was ihnen gut sei. In der That erkennen die Gewerkschaften principiell nur eine Gewinnbeteiligung an: die das ganze Gewerbe umfassende Teilhaberschaft, die im Tarif ihren passendsten Ausdruck findet.

Kurz, mit einigen Abstrichen hat der Vortrag Beeslys für eine ziemliche Zeit recht behalten. Was auch die spätere Zukunft bringen wird, die drei Jahrzehnte, die verstrichen sind, seit er gehalten wurde, haben ihn nicht Lügen gestraft. Für die gewerkschaftliche Propaganda aber konnte es kaum eine wirksamere Perspective geben, als die in ihm vorgezeichnet wird. Da ist auch nicht der geringste Zweifel gelassen an dem Nutzen und der, dauernden Notwendigkeit der Gewerkschaften. Da ist diesen keine blosse Hilfsrolle für andere Bewegungen, keine Unterordnung unter andere Zwecke angewiesen, denen sie ihre Formen und Methoden anzupassen haben, sondern es wird ihnen eine durchaus eigene Mission zuerkannt, kraft deren sie Form und Methode nach freier Einsicht gemäss ihren besonderen Verhältnissen und Bedürfnissen zu gestalten haben.

Und diese Auffassüng hat die englische Gewerkschäftswelt Decennien hindurch beherrscht – ja beherrscht sie im wesentlichen, noch heute. Sie muss zwar neuerdings ihre Herrschaft mit der Formen des marxistischen Socialismus: Eroberung der politischen Macht, Vergesellschaftung der Productions und Austauschmittel, teilen, aber wenn es zur praktischen Anwendung kommt, zeigt es sich, dass sie vorläufig noch die stärkere Macht auf die Geister ausübt, nur wenig von jener modificiert ist. Und dass sie der Gewerkschaffsentwickelung so förderlich war, wie dies überhaupt nur einer Doctrin möglich ist, kann keinen Zweifel ünterstehen. Dem brittischen Gewerkschaften, der sie in sich aufgenommen, stand kein theoretisches Bedenken im Wege, wenn er über Fragen der Organisation und Taktik zu unterscheiden hatte. Mit ihrer Hilfe ward England die Versuchsstation par excellence und in sehr hohem Grade auch das Musterland der Gewerkschaftsbewegung. Aus deren dortigen Erfolgen zog die Gewerkschaftsbewegung des Festlandes moralische Kraft, aus ihren Erfahrungen in guten und schlechtem Sinne zog sie ihre Lehren.

Zeigt dies, dass die englische Gewerkschaftsbewegung in jeder Beziehung als massgebender Typus für die gewerkschaftliche Seite der modernen Arbeiterbewegung betrachtet werden muss? Ich bin weit entfernt, diesen Schluss zu ziehen. Sie ist bis zu einem gewissen Grade eine Reincultur, aber eine Reincultur auf geschichtlich ganz speciell präpariertem Boden. Als solche hat sie manche Vorurteile hinsichtlich der Begrenzung der Möglichkeiten gewerkschaftlicher Action zerstört. Ohne sie wäre es wahrscheinlich sehr viel schwerer gewesen, die doctrinäre Vorurteile zu überwinden, die sich anderwärts der freien Entfaltung der Gewerkschaftsbewegung in den Weg stellten. Aber nicht alles, was auf englischem Boden wächst, lässt sich kurzerhand auf anderen Boden übetragen, und kein vernünftiger Grund zwingt zu dem Schluss, dass nur das möglich, und zweckmässig ist, was in England erzielt wurde, dass England in allen Dingen den zweckmässigsten Weg gezeigt hat.

Absolut genommen sind die Gesamtzahlen der englischen Gewerkschaftsbewegung bis jetzt unübetroffen. Die Armee der englischen Gewerkschaften, ihr Vermögen, ihr Haushalt weisen Zahlen auf, die in keinem Lande ihresgleichen finden. Das ändert sich jedoch schon, wenn wir von den Ziffern der Gesamtbewegung zu den Specialziffern der einzelnen Berufe gelangen. Da steht mancher englische Gewerkverein heute schon hinter festländischen Organisationen des gleichen Berufes zurück. Und rechnen wir die Gewerkschaftszahlen in ihrer Proportion zur gesamten gewerblichen Arbeiterschaft des Landes, so ist z.B. das kleine Dänemark heute gewerkschaftlich besser organisiert, als das grosse England. Die englischen Gewerkschaften umfassen noch nicht den vierten Teil der gewerblichen Arbeiterschaft Englands, der dänische Gewerkschaftsbund nahezu die Hälfte der gewerblichen Arbeiterschaft Dänemarks.

In Dänemark aber steht die Gewerkschaftsbewegung in intimster Verbindung mit der politischen Arbeiterbewegung, der socialistischen Arbeiterpartei. Sie hat mit ihr die Presse gemeinsam, sie kämpft mit ihr die Wahlschlachten unter einem Banner, der Gewerkschaftsbund entsendet zwei Mitglieder in den Vorstand der politischen Partei, diese zwei Mitglieder in den Vorstand des Gewerkschaftsbundes.

Diese enge Verbindung hat sich bisher der Entwickelung beider Flügel der Arbeiterbewegung durchaus förderlich erwiesen, von irgend welchen Unzuträglichkeiten, ernsthafter Art hat man noch nichts gespürt. Allerdings ist die Bewegung im ganzen noch ziemlich jung. Aber sie hat in ihrer jetzigen Form doch schon zwei Jahrzehnte Existenz, die Feuerprobe verschiedener bedeutsamer und harter Kämpfe hinter sich.

Aus dem allen kann man jedenfalls den Schluss ziehen, dass die intime Verbindung zwischen politischer und gewerkschaftlicher Bewegung nicht unter allen Umständen für diese ein Nachteil zu sein braucht. Zugleich aber ist selbstverständlich nachzuforschen, ob und welchen besonderen Gründen oder Umständen es zuzuschreiben ist, dass die dänischen Gewerkschaften sich durch diese intime Verbindung in ihrer Entwickelung nicht behemmt fühlen. Soweit sich die Dinge aus der Ferne beurteilen lassen, darf man dieses günstige Ergebnis darauf zurückführen, dass

Ob sich dies intime Verhältnis auf die Dauesf wird aufrecht erhalten lassen, oder ob nicht auf einer späteren Stufe der Entwickelung, wenn die Gewerkschaften eine noch grössere Kraft erlangt haben, in ihren Reihen separatistische Tendenzen die Oberhand gewinnen werden, lässt sich natürlich nicht voraussagen. Es ist möglich, dass dies erfolgt, aber es ist nicht absolut notwendig. Tritt es ein, ohne dass sich im übrigen eine erhebliche Gegensätzlichkeit zwischen der Gewerkschaftsbewegung und der politischen Arbeiterpartei ausbildet, so würde man es eventuell als das naturgemässe Resultat des Wachstums der Bewegung in Bezug auf Zahl und Aufgaben zu betrachten haben. Die absoluten Zahlen der dänischen Bewegung sind natürlich sehr viel kleiner, als die der englischen oder deutschen Organisationen, und es mag sein, dass, was bei gewissem Zahlenverhältnis möglich und vorteilhaft war, sich bei grösserer Ausdehnung als nicht mehr zweckmässig erweist.

Das wird eben abgewartet werden müssen. Vorläufig haben wir jedoch als feststehend die Thatsache vor uns, dass mindestens bis zu einem gewissen Punct eine der englischen fast diametral entgegengesetzte Entwickelung möglich ist ohne jeden erweislichen Nachteil – ja, wie es scheint, mit manchen Vorteilen für die Bewegung. Auch anderwärts, wie zum Beispiel in Belgien, besteht eine enge Verbindung zwischen gewerkschaftlicher und politischer Arbeiterbewegung ohne ersichtliche Beeinträchtigung der ersteren. Allerdings ist die belgische Bewegung in ihrer heutigen Gestalt ebenfalls noch ziemlich jung, und so können auch ihre Erfahrungen nur innerhalb bestimmter Grenzen Geltung beanspruchen.

Dasselbe muss von Frankreich gesagt werden, wo wir wieder auf etwas andere Beziehungen zwischen politischer Arbeiterpartei – bezw. Parteien – und Gewerkschaften stossen.

Kurz, wenn wir die verschiedenen Länder durchgehen, werden wir in kaum zweien völlig gleiche Verhältnisse hinsichtlich unseres Gegenstandes finden, und es bedarf einer ziemlich eingehenden Untersuchung, um zu ermitteln, ob das Ergebnis in jedem concreten Falle ein wesentlich besseres sein würde, wenn die Bewegung nach dem Muster irgend eines anderen Landes organisiert wäre und dessen Taktik acceptierte. Dass Organisation und Taktik keine gleichgiltigen Dinge sind, und dass, was sich scheinbar naturgemäss entwickelt hat, nicht schon deshalb das beste und zweckmässigste ist, liegt auf der Hand. Um mit Marx zu reden: ein Land kann und soll von dem anderen lernen. Aber lernen heisst nicht sklavisch nachahmen. Manches, was in einem Lande nötig ist, ist in dem anderen überflüssig, und umgekehrt. Verschiedenheiten im Stande der wirtschaftlichen Entwickelüng, der socialen Einrichtungen, des Rechts-und Verwaltungswesens haben Verschiedenheiten im Umfang der den Gewerk-schaften zufallenden Aufgaben zur Folge und damit auch ihrer organisatorischen, financiellen etc. Bedürfnisse.

Indes, hinter all den Verschiedenheiten stecken auch schliesslich eine Reihe von Aufgaben, die den Gewerkschaften aller modernen Länder gemein sind. Überall sind sie die berufenen Hüter des Ärbeiters in seinem Arbeitsverhältnis, fällt es ihnen zu, ihnen jenen Schütz zu sichern, den das Gesetz teils gar nicht und teils nur unvollkömmen gewährt. Das Gesetz schafft bestenfalls Mindestgarantieen, lässt aber die privaten Abmachung noch einen weiten Spielraum.

Innerhalb jener ist der einzelne Arbeiter, der keine Gewerkschaft hinter sich hat, Sklave der Willkür des Unternehmers und der Laune des Marktes. Das macht die Existenz von Gewerkschaften notwendig und eerheischt ferner, dass die Gewerkschaften über genügende Mittel und eine genügende Organisation verfügen, um gegebenenfalls einen gewerb1ichen Kampf aufnehmen und mit Erfolg führen zu können. Dieses wiederum – der Aufbau und die Erhaltung der Organisation und ihre kräftige flnancielle Fundierung – hängen zum guten Teil ab von dem Glauben der Gewerkschaften und der Arbeiter, unter denen sie werben, an die Notwendigkeit, die Leistungsfähigkeit und die Zukunft der Gewerkschaftsbewegung.

Wie steht es nun damit? Haben die Beesly und die Sombart recht? Wird die Industrie noch auf lange hinaus von capitalistischen Hauptleuten geführt werden, denen gegenüber die Arbeiter des Gewerkschaftsschutzes bedürfen? Wie der Schreiber dieses über die ökonomische Zusammenbruchstheorie denkt, ist den Lesern der Socialistischen Monatshefte bekannt, aber man kann die Frage doch anders stellen. Ob Zusammenbruch oder nicht, so haben wir jedenfalls eine starke Strömung zur Ausdehnung des Gebiets der öffentlichen (Staats-, Gemeinde- etc.) Betriebe vor uns. Mit der Demokratisierung des politischen Lebens wird diese Strömung voraussichtlich sich noch wesentlich steigern. Indes, wie stark man sich diese Steigerung auch vorstellen mag, so viel ist klar, dass sie noch auf lange hinaus, nur immer erst einen Teil der gewerblichen Betriebe unter directe öffentliche Leitung bringen wird. Dasselbe muss von den Betrieben für Consumvereine gesagt werden. Und nun fragt es sich: was geschieht mit dem Rest der gewerblichen Unternehmungen? Die Alternative der capitalistischen Betriebe wäre hier der genossenschaftliche Betrieb, die Productivgenossenschaft in irgend einer Form. Wie es heute mit der Neigung der Arbeiter steht, Tausendstel-Unternehmer zu werden, wissen wir; ob sich in naher Zukunft daran viel ändern wird, erscheint mir zweifelhaft.

Es leitet mich dabei keinerlei Überschätzung der Qualitäten der derzeitigen „Hauptleute der Industrie“. Selbstverständlich ist es nicht gleichgiltig, ob ein Unternehmen einen tüchtigen Leiter hat, oder nicht, und ist nicht jeder zur Leitung geeignet. Aber die Geschäftstüchtigkeit ist keine so seltene oder so schwer auszubildende Eigenschaft, dass wir sie nur bei den wenigen zu suchen hätten, die Geburt, Glück, Erfolg in die Position von Hauptleuten der Industrie gebracht hat. Es sind insoweit nicht die Personen, um die es sich handelt. Worauf es in jenem Unternehmen ankommt, ist, dass überhaupt eine Leitung da ist, eine Leitung, welche die Verantwortung trägt und die mit der Verantwortung verbundene Autorität geniesst.

Man kann sich die Lösung so vorstellen, dass der Staat die Betriebe expropriiert und an Genossenschaften verpachtet. Aber dann bleiben es bis zu einem gewissen Sinne Privatbetriebe, und die Gewerkschaften behielten ihnen gegenüber gerade so ihre Mission, wie es heute gegenüber den Eigenbetrieben von Consumvereinen, Gemeinden, etc. der Fall.

Kurz, so oder so ist gar kein Grund abzusehen, warum die Gewerkschaften in, absehbarer Zeit, an Wert für die Arbeiterclasse verlieren sollten.

Auch die Anschauung, dass mit der Vergrösserung der capitalistischen Unter-nehmungen der Einfluss der Gewerkschaften immer schwächer werden müsse, hat sich a1s übertrieben pessimistisch erwiesen. Mit einer Abnahme gehen wir meines Erachtens einer Zunahme des Einflusses der Gewerkschaften entgegen.

Im übrigen sit die Frage der Mission der Gewerkschaften eine Frage der Arbeitsteilung zwischen ihnen und den politischen Arbeiterparteien. Die genauen Abgrenzungen dieser Arbeitsteilung werden wohl noch ziemlich lange von Land zu Land variieren, denn da kommen eben die historischen etc. Verschiedenheiten in Betracht. Aber nirgends macht sich die Sache so, dass der ganze Umkreis der von der organisierten Arbeiterschaft zu bewältigenden Aufgaben von einer einzigen Organisation übernommen und befriedigend ausgeführt werden wird. Jede Einseitigkeit der Entwickelung hat sich da noch bitter gerächt. In England leidet heute die Gewerkschaftsbewegung selbst darunter, dass sie keine kräftige Arbeiterpartei neben sich hat, und andererseits ist keine kräftige Arbeiterpartei dauernd möglich ohne eine tüchtige Gewerkschaftsbewegung neben sich. Sie würde sich ohne eine solche überall in ihrem Thun gelähmt sehen, zumeist auf unfruchtbare Demonstrationen und Declamationen angewiesen sein. Ob die Gewerkschaften in irgend welcher formellen Verbindung zur politischen Partei stehen, oder nicht, ist dabei ganz untergeordnet. So wenig wie das Etikett giebt das formelle Band die sichere Gewähr gedeihlichen Nebeneinanderwirkens. Namentlich ist die Frage da gleichgiltig, wo beide Bewegungen eine so grosse Stärke erlangt haben, wie in Deutschland. Wenn das formelle Band nur auf Kosten der gedeihlichen Fortentwickelung der einen Organisationsgruppe – in Deutschland der Gewerkschaften – herzustellen ist, so wäre es widersinnig, ihr dies Opfer zuzumuten. So etwas mag einer in den Kinderschuhen steckenden Bewegung gegenüber zulässig sein, aber nicht einer Bewegung, die schon in die Jahre der Reife eingetreten ist. Indes ist die heute, verschiedentlich erörterte Frage der Neutralisierung der Gewerkschaften im Ernst kaum mehr eine Frage zu nennen. Sie ist, sofern man dem Wort neutral nicht eine in diesem Falle ganz unangebrachte Deutung beilegt, jedenfalls keine Frage der Doctrin, sondern der Praxis. Und so viel sich übersehen lässt, hat die Praxis ihr entscheidendes Wort bereits gesprochen.


Zuletzt aktualisiert am 6.1.2009