Eduard Bernstein

 

Die Kolonialfrage und der Klassenkampf

(November 1907)


Quelle: Sozialistische Monatshefte – 11 = 13 (November 1907), S. 988–996
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.


Nicht ohne eine gewisse Beschämung gehe ich an die Abfassung dieses Artikels. Während in der Sozialdemokratie der Wunsch vorherrscht, die Fragen, vor die die Partei sich gestellt sieht, immer tiefer zu erfassen, haben wir es hinsichtlich der Kolonialfrage bei einer Anzahl Genossen mit dem Bestreben zu tun, ihre Erörterung nach Möglichkeit zu verflachen, die äußerlichsten, ganz auf der Oberfläche liegenden Gesichtspunkte in den Vordergrund zu schieben oder gar als die allein in Betracht kommenden auszugeben, die Betonung der mit ihr verbundenen tiefer liegenden Fragen aber zu verpönen respektive durch Ignorieren aller dahingehenden Erörterungen zu umgehen. Daß die Kolonialfrage in hohem Grade eine Menschlichkeitsfrage ist, darin sind wir Sozialdemokraten uns alle einig; es ist so selbstverständlich, daß man wirklich darüber kein Wort mehr zu sagen hat. Diejenigen Vorschläge, die darauf abzielen, in der Kolonialpolitik die Grundsätze der Menschlichkeit, das heißt die größtmögliche Schonung von Leben und Wohlbefinden der Eingeborenen, zur Durchführung zu bringen, sind – das hat gerade der Stuttgarter internationale Sozialistenkongreß gezeigt – der Zustimmung aller Sozialdemokraten sicher.

Aber die Kolonialfrage ist viel mehr, als bloß eine Menschlichkeitsfrage. Sie ist eine Menschheitsfrage und eine Kulturfrage ersten Ranges. Sie ist die Frage der Ausbreitung der Kultur und, solange es große Kulturunterschiede gibt, der Ausbreitung oder, je nachdem, Behauptung der höheren Kultur. Denn früher oder später tritt es unvermeidlich ein, daß höhere und niedere Kultur auf einander stoßen, und in Hinblick auf diesen Zusammenstoß, diesen Kampf ums Dasein der Kulturen ist die Kolonialpolitik der Kulturvölker als geschichtlicher Vorgang zu werten. Daß sie meist aus anderen Motiven und mit Mitteln, sowie in Formen betrieben wird, die wir Sozialdemokraten verurteilen, wird in den konkreten Fällen uns zu ihrer Ablehnung und Bekämpfung bewegen, kann aber kein Grund sein, unser Urteil über die geschichtliche Notwendigkeit des Kolonisierens zu ändern. Das sind eigentlich Gemeinplätze, aber, wie Stuttgart gleichfalls gezeigt hat, leider nicht bei uns. Die Opposition, die wir der Kolonialpolitik des Tages machen, macht die Augen blind für die Tatsache, daß es sich bei ihr bloß um eine bestimmte Erscheinungsform einer Bewegung handelt, die existieren würde, auch wenn es keinen Kapitalismus und kapitalistisch-feudalen Militarismus gäbe. Nur so ist es wenigstens erklärlich, daß der Satz, der Nutzen oder die Notwendigkeit der Kolonien werde stark übertrieben, überhaupt auf Opposition stoßen, und der Satz, eine gewisse Vormundschaft der Kulturvölker über Nichtkulturvölker sei eine Notwendigkeit, die auch Sozialisten anerkennen sollten, als eine neue und unerhörte Zumutung bekämpft werden konnte.

Es war K. Kautsky, der es fertig bekam, in Stuttgart mit diesem Einwand gegen mich zu polemisieren, und selbstverständlich fand sein Angriff sofort ein Echo im Vorwärts. Das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie entdeckte, daß der Satz „im schreiendsten Gegensatz zur Resolution des Mainzer Parteitages“ stehe. Das veranlaßte mich zu einer Antwort an den Vorwärts, die dieser in seinen Nummern vom 3. und 4. Oktober – une fois n’est pas coutume – an leitender Stelle zum Abdruck brachte, allerdings nur, um mich dann in zwei weiteren Artikeln als unkundig des ABC und der 4 Spezies hinzustellen. Was wiederum zwar coutume ist, aber gerade deshalb den Reiz der Neuheit eingebüßt hat. Es mag also auf sich beruhen bleiben, ob ich schon vor dem 5. Oktober 1907 gewußt habe, daß es einmal in Ägypten einen Mehmed Ali gab, oder an jenem Tage zum allerersten Male von dieser Tatsache durch den Vorwärts Kenntnis erhielt. Dagegen muß ich auf die Streitfrage selbst hier noch einmal zurückzukommen, und zwar zunächst mit einigen Zurückweisungen.

Den Bekämpfen des Satzes von dem Recht der Völker höherer Kultur, über die niederer Kultur Vormundschaft auszuüben, hielt ich die Tatsache entgegen, daß der in ihm ausgedrückte Gedanke den Schriften und schriftlichen Äußerungen von Marx, Engels und Lassalle entnommen sei, und daß sie sich daher, ehe sie mit mir anbinden wollten, zunächst einmal mit jenen auseinandersetzen möchten. Das tut nun der Vorwärts auch, sekundiert durch K. Kautsky – aber fragt mich nur nicht, wie!

Zunächst kommt die geschmackvolle Bemerkung:„Bernstein, der sonst gegen Buchstabenglauben und Dogmenfanatismus wetternde, wird auf einmal Buchstabengläubiger und Dogmenfanatiker.“ Als ob es sich hier um dergleichen handelte. Worauf ich in allen meinen Aufsätzen über die Kolonialfrage abziele, ist die Gewinnung eines generellen geschichtsphilosophischen Standpunktes als Ausgangspunkt für die Beurteilung der Spezialfälle, mit denen wir es in concreto zu tun haben. Es ist mir aber nie eingefallen, grundsätzliche Auffassungen schlechthin als Dogmenfanatismus zu bekämpfen. Ich erinnere mich überhaupt nicht, je dieses Wort gebraucht zu haben. Es ist gar nicht meine Art, mit solch Dutzendschlagworten um mich zu werfen. Wogegen ich geschrieben habe, das ist das dogmatische Denken und der Kultus der Worte, aber weder vom einen, noch vom andern kann hier die Rede sein. Ich habe nicht gesagt: ihr meßt meinen Satz schon deshalb anerkennen, weil er von Marx, Engels, Lassalle herrührt, sondern ich habe, weil man den Satz als in Widerspruch mit der sozialistischen Lehre stehend denunzierte, auf jene Denker verwiesen und gesagt: setzt euch erst einmal mit ihnen auseinander, und dann wollen wir uns unterhalten. Das ist ganz etwas anderes, und das Gerede von Dogmenfanatismus und Buchstabenglauben unwürdige Spiegelfechterei.

Als solche ist sie indes die angemessene Einleitung zu den ihr folgenden Versuchen, den von mir erbrachten Zitaten ihre Beweiskraft abzustreiten. Hier muß ich mir die Freiheit nehmen, die Zitate an dieser Stelle zu wiederholen. Dies empfiehlt sich mir auch schon deshalb, weil sie in einer Zeitschrift für spätere Heranziehung leichter zugänglich sind, als in einer Tageszeitung.

Soweit Marx und Engels in Betracht kommen, handelt es sich da vornehmlich um zwei Briefe, die Engels im Jahre 1882, also zu Lebzeiten von Marx, von London aus an mich richtete, weil ich im Züricher Sozialdemokraten erst bei einem Aufstand von Balkanslawen gegen die österreichische Vormundschaft und dann bei dem Aufstand der ägyptischen Nationalpartei gegen die anglo-französische Finanzkontrolle die Haltung eingenommen hatte, die mir heute den begeisterten Beifall derjenigen eingebracht hätte, welche mich jetzt – drücken wir es christlich aus – als verirrtes Lamm beklagen.

Am 22. Februar 1882 schrieb mir Engels hinsichtlich des damals spielenden Aufstandes in der Krizwoschje:

„Daß mein Brief Sie nicht bekehrt hat, da Sie schon Sympathie hatten für die unterdrückten Südslawen, ist sehr begreiflich. Wir alle haben ja ursprünglich, soweit wir erst durch Liberalismus oder Radikalismus durchgegangen, diese Sympathien für alle unterdrückten Nationalitäten mit hinübergenommen, und ich weiss, wieviel Zeit und Studium es mich gekostet hat, sie, dann aber auch gründlich, loszuwerden ... Ich bin autoritär genug, die Existenz solcher Naturvölkchen mitten in Europa für einen Anachronismus zu halten. Und wenn die Leutchen so hoch ständen, wie die von Walter Scott gefeierten Hochschotten, die Ja auch die ärgsten Viehdiebe waren, so können wir doch höchstens die Art und Weise verurteilen, mit der die heutige Gesellschaft sie behandelt. Wären wir am Ruder, auch wir würden dem altererbten Rinaldo Rinaldini- und Schinderhannestum dieser Burschen ein Ende machen müssen.“

So Engels. Ganz unzweideutig wird hier die Unterwerfung von kulturell tiefstehenden Völkern durch Kulturnationen als notwendig anerkannt, und zwar nicht erst für eine sozialistische Zukunft, sondern ausdrücklich auch für die Gegenwart. Das kann man, wenn man es für falsch hält, bekämpfen, aber man soll es nicht wegstreiten. Darauf aber verlegt sich der Vorwärts. Er schreibt am 5. Oktober 1907:

„Was sagt denn Engels im Grunde? Er erklärt, daß er die Existenz kleiner Naturvölkchen in Europa für einen Anachronismus halte. Er billigt keineswegs die kapitalistische Methode ihrer Assimilierung ..., sondern er meint nur, auch der zur Herrschaft gelangte Sozialismus werde solche Anachronismen beseitigen Ganz zweifellos.“

Hier wird das Moment im Brief, worauf es in der Polemik ankommt, ganz einfach hinweggedeutet. Es lag ein ganz konkreter Fall vor: der Aufstand eines quasi Naturvolkes gegen einen es bevormundenden kapitalistischen Staat. Ich nahm für jenes Partei, und Engels erklärte mir: das ist falsch, du kannst „höchstens“ die Art und Weise der Behandlung des Volkes verurteilen, aber nicht, daß es unterworfen wird. So der unzweideutige Gedankengang des Briefes, und das ist genau das selbe, was ich in Stuttgart ausgeführt habe, nachdem... ich es 1896–1897 schon in der Neuen Zeit schriftlich niedergelegt hatte, damals mit dem vollen Segen Kautskys.

Kautsky sucht diese ihm unbequeme Tatsache im Vorwärts vom 5. Oktober abzustreiten. Er fragt, ob etwa der Abdruck eines Artikels schon als Akt der Zustimmung gelten solle, die Neue Zeit sei doch ein Organ der Diskussion, in der jeder nur für sich spreche; bezöge ich mich aber auf eine private Äußerung von ihm, so könne sie nur durch ein grobes Mißverständnis von mir als eine Billigung meiner Kolonialscheußlichkeiten gedeutet werden. Er leugne nicht, sich hei der „Vieldeutigkeit“ meiner Äußerungen damals noch über meine revisionistische Seele getäuscht zu haben, wo andere mit besserer Witterung sie schon herausgeschnüffelt und ihn gewarnt hätten. Wenn er trotz dieser Warnungen meine Worte harmloser aufgefaßt hätte, als sie waren, so bewiese das nur seine „übertriebene Toleranz und Freundschaftlichkeit.“ Armer Kautsky! Was zunächst die „Vieldeutigkeit“ betrifft, so lautete der in Frage stehende Satz in meinem angezogenen Artikel:

„Kulturfeindliche und kulturunfähige Völker haben keinen Anspruch auf unsere Sympathie, wo sie sich gegen die Kultur erheben. Wir erkennen kein Recht auf Raub, kein Recht der Jagd gegen den Ackerbau an. Mit einem Wort, so kritisch wir der erreichten Kultur gegenüberstehen, so erkennen wir doch ihre relativen Errungenschaften au und machen sie zum Kriterium unserer Parteinahme. Wir werden bestimmte Methoden der Unterwerfung von Wilden verurteilen und bekämpfen, aber nicht, daß man Wilde unterwirft und ihnen gegenüber das Recht der höheren Kultur geltend macht.“

Man mag das hier Gesagte so verwerflich finden, wie man will, aber eines kann man ihm nicht absprechen: eindeutige Deutlichkeit. Dazu steht es in dem berührten Artikel nicht etwa an irgend einer beliebigen Stelle als beiläufige Bemerkung, sondern bildet ein integrierendes Stück seiner Einleitung, die in systematischem Aufbau die Maximen festzustellen sucht, die die Haltung der Sozialdemokratie zu Erhebungen unterdrückter Völker zu bestimmen haben. Wenn mir nun jemand auf diesen Artikel schreibt, er sei „famos“, „ein wahrer Genuß für mich, hoffentlich wirkt er“, muß man da farbenblind sein, um daraus etwas mehr herauszulesen, als „übertriebene Toleranz und Freundschaftlichkeit“?

Zudem blieb es gar nicht bei diesem einmaligen Beifall. Gerade wegen des zitierten Satzes wurde ich in der Justice vom 7. November 1896, von Belfort Bax angegriffen, worauf ich ihm ebendort antwortete. Meine Erwiderung, die ziemlich scharf ausfiel und das Gesagte nur noch akzentuierte, trug mir wiederum Kautkys Beifall ein, und nicht zufrieden damit, ihn mir brieflich kundzutun, nahm er eine Polemik mit Bax über die materialistische Geschichtsauffassung zum Anlaß, in der Neuen Zeit zu schreiben:

„Wenn jeder, der Bernsteins Anschauungen teilt, nicht mehr Sozialdemokrat im Sinne der Social Democratic Federation, sondern Fabier ist, dann wird die Schwäche der Sozialdemokratie und die relative Stärke des Fabianismus in England erklärlich.“

Will Kautsky noch mehr Beweise dafür, daß er damals segnete, was er heute verflucht? Ich will ihm nicht Unwahrheit vorwerfen, sondern den Fehler in seinem Gedächtnis suchen. Aber sachlich ist es eine Unwahrheit, daß er den Sinn meiner obigen Sätze damals nicht erkannt habe und seine Zustimmung sie nicht Inbegriff. Er konnte 1896 auch schon lesen und hätte mir bei meiner Stellung zur Neuen Zeit und unserm eingehenden Briefwechsel über alle prinzipiellen Fragen seine abweichende Meinung nicht vorenthalten, wenn eine solche vorhanden gewesen wäre.

Für die Frage, welcher Standpunkt der richtige ist, ist das alles nebensächlich. Aber da es ja Sozialisten gibt, auf die K. Kautskys Meinungen Einfluß ausüben, so ist es nicht gleichgültig, festzustellen, daß hier eine Schwenkung Kautskys vorliegt, wie sie übrigens auch in seiner veränderten Stellung zu H. M. Hyndman zum Ausdruck kommt. Darüber in anderm Zusammenhang. Um zu Engels zurückzukehren, so ist die zweite Äußerung aus dem Jahre 1882 nicht minder bestimmt, als die erste. Unterm 9. August 1882 schrieb er an mich: „Es scheint mir, daß Sie in der ägyptischen Sache die sogenannte Nationalpartei zu sehr in Schutz nehmen. Von Arabi wissen wir nicht viel, aber es ist 10 gegen 1 zu wetten, daß er ein ordinärer Pascha ist, der den Finanziers die Steuereinnahmen nicht gönnt, weil er sie selbst auf gut orientalisch in den Sack stecken will ... Zurückweisung der Khedivschulden ist schon ganz gut, aber die Frage ist: was dann? Und wir westeuropäischen Sozialisten sollten uns da nicht so einfach fangen lassen, wie die ägyptischen Fellahs und wie – alle Romanen ... Kaum kann irgendwo ein Krawall losgehen, so schwärmt das ganze revolutionäre Romanentum dafür – ohne alle Kritik. Meiner Ansicht nach können wir sehr gut für die unterdrückten Fellahs auftreten, ohne deren momentane Illusionen zu teilen, und gegen die Brutalitäten der Engländer [die Bombardierung Alexandriens], ohne deshalb für deren momentane militärische Gegner solidarisch einzutreten. In allen Fragen internationaler Politik sind die gefühlspolitischen französischen und italienischen Parteiblätter mit größter Vorsicht zu gebrauchen. Wir Deutschen sind verpflichtet, die theoretische Einsicht, die wir einmal haben, auch auf diesem Gebiet durch Kritik zu bewähren.“

Diesem Brief stellt Kautsky in seiner soeben erschienenen Schrift Sozialismus und Kolonialpolitik einen Brief von Engels aus dem gleichen Jahre gegenüber, wo Engels sagt, das siegreiche Proletariat würde die halbzivilisierten Länder ihrer Entwickelung überlassen müssen, es könne keinem fremden Volk irgendwelche Beglückung aufzwingen, ohne damit seinen eigenen Sieg zu untergraben. Die ökonomischen Bedürfnisse würden von selbst dafür sorgen, daß jene ins Schlepptau der sozialistisch reorganisierten Kulturländer kämen. So weit könnte man daraus einen Gegensatz gegen das Vorentwickelte herauslesen. Aber erstens setzt es einen Zustand voraus, den wir noch nicht erreicht haben, und von dem wir auch nicht wissen, wann wir ihn erreichen werden, zweitens bezieht es sich auf die Zweckmäßigkeit des Vorgehens unter jener Voraussetzung, und nicht auf die hier in Betracht kommende Frage des Kulturrechts, und drittens heißt es im Brief von Engels an Kautsky weiter: „Womit natürlich Verteidigungskriege verschiedener Art keineswegs ausgeschlossen sind.“

In cauda veritas, mußich hier ein bekanntes Wort variieren. In diesem Schlußsatz kommt das, worauf ich abziele, zu seinem Recht. Um was für Verteidigungskriege kann es sich unter Engels’ Voraussetzung handeln? Um Kriege, die aus Konflikten an der Peripherie entstehen, dort, wo die höhere Kultur auf die tiefere oder die Unkultur stößt: beiläufig selbst heute schon die Ursache der meisten Kolonialkämpfe. Kann es aber bei solchem Aufeinanderstoßen der Kulturen, das im Zeitalter des Weltverkehrs gar nicht zu vermeiden ist, bei der reinen Defensive bleiben? Sicherlich dort nicht, wo es sich um Völkerschaften mit Räubergewohnheiten handelt. Hier würde eben jenes Kulturrecht geltend gemacht werden, das Engels im erstzitierten Brief konstatiert. Es sind aber noch andere Konflikte in Betracht zu ziehen, die gleicherweise zur Bevormundung und eventuell zur Unterwerfung drängen: die Regulierung von Flüssen, deren Oberlauf im Gebiete von halbzivilisierten Völkern oder Wilden liegt, die Trockenlegung von Sümpfen und Pestherden, von denen das gleiche gilt, die Urbarmachung heute unbenutzter Niederungen zu Gunsten des gestiegenen Nahrungsmittelbedarfs der Kulturvölker usw. usw.

Und das bringt mich auf den Satz von Marx, daß die Erde nicht Eigentum einer Gesellschaft, einer Nation oder selbst aller Nationen zusammengenommen sei, sondern diese nur als Nutznießer zu betrachten seien und ihren Anteil als boni patres familias den nachfolgenden Generationen zu hinterlassen haben. Kautsky glaubt meine Betonung dieses Satzes dadurch entkräften zu können, daß er den ihm bei Marx vorhergehenden Satz heranzieht: „Vom Standpunkt einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen, wie das Privateigentum eines Menschen an einem anderen Menschen.“ Aber der hier ausgesprochene Gedanke ist es grade, der meine Stellung zu der Frage bestimmt. Nur mache ich bei der Anwendung nicht den Kautskyschen dicken Strich: dort sozialistische Zukunft, hier kapitalistische Gegenwart, sintemalen ich an keinen unvermittelten Übergang von der ersteren in die letztere glaube, und gestehe auch heute schon der höheren Kultur ein (selbstverständlich auch wieder bedingtes) Enteignungsrecht gegenüber der niederen bei Besetzung und Ausnutzung des Erdballes zu.

Nun könnte man fragen: wo ist die Instanz, die zu entscheiden hat, ob es sich um ein Kulturrecht oder um bloße Gewalt handelt? Gewiß, eine zugleich richtende und exekutierende Instanz gibt es in der Menschheit freilich noch nicht, aber Kriterien der Kultur, die für unser Urteil als Richtschnur dienen können, gibt es wohl. Wo die Vorbedingungen für die größte Vermehrung der Lebensmöglichkeiten auf gleichem Raum, der größten materiellen, intellektuellen, ästhetischen Bereicherung des Lebens und die größte Wertung des Menschen als Persönlichkeit sind, da ist auch die höhere Kultur, Das ist die Richtung des Kulturprozesses der Menschheit, den Lassalle im Auge hat, wenn er in seiner Schrift Der italienische Krieg und die Aufgaben Preußens schreibt:

„Wie nun das Recht der Geschichte und ihrer Gesamtentwickelung das größere ist gegen das ihrer einzelnen Adern, der besonderen Völker, wie das Recht jeder dieser Adern im geschichtlichen Organismus auf eigene Funktion, auf eigene Entwickelung eben an die tatsächliche Bedingung gebunden ist, daß sie funktionieren, daß sie sich entwickeln, so bleibt das Recht der Volksgeister auf eigene Existenz daran geknüpft, daß ein in eigener. Weise sich entwickelnder und mit dem Kulturprozeß des Ganzen schritthaltender Volksgeist da sei. Anderenfalls wird die Eroberung ein Recht, und zwar entweder von vorn herein, oder sie wird hinterher als ein solches erwiesen ... Mit dieser einzigen Einschränkung also oder mit dieser genauen Bestimmung muß das Prinzip der freien Nationalitäten begriffen werden, sonst hört es auf, ein Prinzip zu sein, und treibt sich zum Unsinn.“

Damit erledigt sich der Einwand des Vorwärts, mit dem Lassalleschen Satz ließe sich nichts anfangen, sowie die geistreiche Frage, ob etwa die geschichtlichen Tatsachen einfach als Beweis für das Recht auf Bevormundung gelten sollen, wo doch in der Geschichte so oft die Barbarei den Sieg über die Kultur davongetragen habe. Macht allein kann so wenig ein Kulturrecht verleihen, wie sie unfehlbarer Bürge des Kulturfortschritts ist. Noch weniger besagen Kautskys Hinweise auf die Abnahme der Bevölkerung Irlands und die Verwandlung von Ackerland Schottlands in Jagdgründe für unsere Frage. Die Serumtherapie ist nicht damit verurteilt, daß man Fälle aufzählt, wo gewissenlose Ärzte Krankheitskeime übertragen haben. Kautsky führt in seiner genannten Schrift H. M. Hyndman als Autorität dafür an, daß in Eingeborenenstaaten Indiens die Bevölkerung besser daran sei, als in den unter englischer Verwaltung stehenden Gebieten, weniger von Hungersnöten leide, usw. Das ist so wahr, daß bei den großen indischen Hungersnöten die Beamten im englischen Gebiet fortgesetzt darüber zu klagen haben, sie könnten sich des Zustroms verhungernder Menschen aus den Eingeborenenstaaten nicht erwehren. Hyndman gab, neben anderen Ungereimtheiten, den von Kautsky zitierten Satz über Indien im Anschluß an die Hungersnot von 1897 aus. Prüfen wir die Richtigkeit seiner Behauptung an der Hand der Bevölkerungsstatistik Indiens. Es hatten in Indien Einwohner:

1891 1901 Zunahme oder Abnahme
die unter britischer Verwaltung stehenden Gebiete 221.339.000 231.899.000 +10.560.000
die Eingeborenenstaaten   66.075.000 &nsap; 62.461.000   −3.614.000

In dem Jahrzehnt, in das die Hungersnot fiel, ging die Bevölkerung in den Eingeborenenstaaten um über 3½ Millionen zurück, während sie im britischen Verwaltungsgebiet um über 10½ Millionen zunahm. Dies zur Illustrierung der Kreditwürdigkeit der Angaben Hyndmans, den Kautsky jetzt in der Neuen Zeit und anderwärts als große Autorität über Indien ausgeben möchte. Das indische Problem ist viel zu kompliziert, um mit ein paar Zahlen abgetan zu werden, noch darf man sich durch die Berichte einzelner Interpreten oder Interessengruppen in seinem Urteil beeinflussen lassen. Hyndmans Spezialität ist die Prophezeiung, daß Indien am Rande des Bankrotts steht; damit treibt er es schon seit dreißig Jahren, nur daß er von Zeit zu Zeit die Begründung retouchiert. Nun ist gewiß in der indischen Verwaltung nicht alles vollkommen, aber Tatsache ist, daß Indien heute vom Bankerott ferner ist, denn je, daß seine Handels- und Verkehrstatistik fortschreitend günstigere Zahlen aufweist, und daß die durch klimatische Umstände – die, solange Regen und Wind nicht den Menschen gehorchen, kein Mensch ändern kann – bedingten periodischen Hungersnöte in den hochgelegenen Provinzen heute viel weniger Menschen dahinraffen, als früher, die hochgepriesene Herrschaft der Mogule nicht ausgenommen. [1] Nun kann man es gewiß als sehr zweifelhaft bezeichnen, ob das englische Volk in seiner Masse von der Herrschaft Englands über Indien wirtschaftlichen Vorteil hat. Nach meiner Ansicht ist das Gegenteil der Fall, und schon aus diesem Grunde würde ich, wenn ich Engländer wäre, alle Bestrebungen unterstützen, die auf Herbeiführung der Selbstregierung der indischen Völkerschaften abzielen. Aber selbst die Führer des indischen Nationalkongresses geben zu, daß das nicht von heut auf morgen geschehen kann, daß eine plötzliche Losreißung Indiens von England bei der Vielheit der Rassen und Religionsgegensätze jenes Reiches ein Unglück für Indien wäre. Und dann ist die Frage auch nicht nur ökonomischer Natur.

Der Vorwärts glaubt etwas furchtbar Grosses zu sagen, wenn er mir entgegenhält, die Sozialdemokratie habe die Kolonialfrage vom Standpunkt der Klasseninteressen des Proletariats zu beurteilen, und diese gebieten die nachdrücklichste, prinzipiellste Bekämpfung der Kolonialpolitik. Aber mit Superlativen imponiert man mir nicht, namentlich, wenn sie hinter so unbestimmten Worten stehen, wie Kolonialpolitik, Es gibt sehr verschiedene Arten von Kolonialpolitik; eine Kolonialpolitik, die auf Eroberung von Kolonien ausgeht, eine Kolonialpolitik, die Entwickelung der gegebenen Kolonien bedeutet; und diese Entwickelung kann wieder auf verschiedene Weise mit verschiedenen Mitteln und Methoden betrieben werden. Soll der Superlativ für alles das ohne Unterschied gelten? Sollen die Kulturvölker alle Kolonien aufgeben? Sollen sie in Afrika die friedlichen Völkerschaften der Unterjochung durch die, Kriegerstämme ausliefern, den Sklavenhandel mit seinen Greueln wieder freigeben, dem Schnapsimport freie Hand lassen? Auf meinen Hinweis, daß Aufgeben der Kolonien keineswegs Aufhebung des Vordringens des Kapitalismus, wohl aber Aufhebung der Kontrolle über das Treiben der Agenten des Kapitalismus, Heraufbeschwörung ähnlicher Mißwirtschaft und Grausamkeiten hieße, wie sie der aufkommende Kapitalismus züchtete, ist mir der Vorwärts die Antwort schuldig geblieben. Das Ignorieren dieser Tatsache ist die große Selbsttäuschung in der Kolonialfrage.

Was das Klasseninteresse des Proletariats erheischt, ist keineswegs a priori festgestellt. Die moderne Arbeiterklasse ist kein übermittelalterlicher Feudalstand, den man aus der übrigen Gesellschaft loslösen und ihr als Sonderkörper gegenüberstellen könnte. Sie ist in ihren wirtschaftlichen Daseinsbedingungen aufs engste mit ihr verbunden, an ihrer Entwickelung interessiert, und nur so weit oder nur da kann von einer Schädigung der Interessen des Proletariats durch Kolonialbesitz schlechthin gesprochen werden, wo dieser die heimische ökonomische Entwickelung hemmt. Das ist aber nicht überall, sondern nur unter bestimmten Umständen, nämlich bei einem für die Produktionskräfte des Landes unverhältnismäßig großen Kolonialbesitz der Fall. Etwas ganz anderes ist der derzeitige Zusammenhang der Kolonialfrage mit den steigenden Opfern für Flotte und Heer. Der Kampf gegen diese heißt Kampf gegen eine bestimmte Kolonialpolitik oder vielmehr Kampf gegen diese Kolonialpolitik um einer Rückwirkung willen, die wohl unter zeitweiligen Verhältnissen, aber keineswegs unter allen Umständen mit ihr verbunden ist. Das bestimmt unsere Ablehnung, aber es begrenzt sie auch. Denn schließlich ist die Kolonialfrage nicht nur eine ökonomische und allgemein kulturelle, sondern auch eine Nationalitätenfrage. Und ohne in den Verdacht des Chauvinismus zu geraten. wird man wohl sagen dürfen, daß an einer vernünftigen geographischen Ausbreitung der Nation auch das Proletariat ein Interesse hat. Wir haben nicht nur Gegenwartsinteressen, sondern auch Zukunftsinteressen der Menschheit wahrzunehmen und stehen bei der Siedelungsfrage noch mit andern Völkern, als mit den europäischen Kulturvölkern, in Wettbewerb. Ich bin der letzte, die mongolische Gefahr zu übertreiben. Aber ich bin darum nicht blind gegen das Vordringen des Mongolentums und die Probleme, die es birgt. Sie gehen unsere Arbeiterschaft nicht nur in dem Sinne an, wie sie heute die nordamerikanische und australische Arbeiterschaft beschäftigen, sie beziehen sich auch auf das zukünftige territoriale und sonstige Verhältnis der Kulturen zu einander. Die Arbeiterschaft führt aber ihren Klassenkampf gegen die heute herrschenden Klassen nicht nur als deren Gegner, sondern auch als ihr Erbe und darf daher keine Menschheitsfrage um deswillen ignorieren oder gar negieren, weil sie zunächst als eine Frage der Herrschenden erscheint.

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Fussnote

1. Die Grundsteuer ist in Indien heute etwa ein Drittel so hoch, wie sie unter der Herrschaft der Mogule war. Alles in allem kommt in Indien noch nicht der zehnte Teil der Steuer auf den Kopf der Bevölkerung, die selbst die ärmsten europäischen Völkerzahlen, obwohl Indien neben reinen notleidenden sehr reiche Provinzen hat. Nun erzählt Hyndman jedem, der es hören will, von den Unsummen, die England jährlich aus Indien ziehe ohne kommerziellen Gegenwerte. Gewiß, Sicherung des Friedens, geordnete Verwaltung, Rechtssicherheit sind keine Marktware, aber sie sind darum doch ökonomische Werte, da, wo sie fehlen, die stetige Entwicklung der Produktion gelähmt ist. Wenn ein Kleinbürger in solcher Weise vom mangelnden kommerziellen Gegenwert jammert, so begreift man es; von einem Sozialisten kann man tieferes Verständnis verlangen. Allerdings zahlt die indische Verwaltung den aus England belogenen Beamten sehr hohe Gehälter. Aber sie sichert dadurch auch einen hohen Standard in bezug auf Unzugänglichkeit für Bestechungen, dieses Erbübel aller asiatischen Länder. Im Eingeborenenstaat Bondelkand bekam Mitte der achtziger Jahre der Teschildar, eine Art Kreisvorsteher, 5 Rupien monatlich, während der entsprechende Beamte in Britisch Indien 200 Rupien monatlich bekam; aber der erstere lebte auf mindestens dem gleichen Fuße, wie der letztere. Nominell war die Verwaltung billiger, taktisch ist sie teurer. Die englischen Beamten sind in Indien nur eine dünne Oberschicht, knapp ⅕% des ganzen Beamtentums dieses Riesengebiets.


Zuletzt aktualisiert am 21. März 2020