Eduard Bernstein

 

Das Finanzkapital und die Handelspolitik

(27. Juli 1911)


Quelle: Sozialistische Monatshefte. 15 = 17(27. Juli 1911), H. 15, S. 947 - 955
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Es sind jetzt 15 Jahre her, da erschien in der Neuen Zeit eine Artikelserie, betitelt Industrie und Finanz.[1] Ihr Verfasser suchte die Handelspolitik und mit ihr die Weltpolitik der maßgebenden Parteien der vorgeschrittenen Länder je auf bestimmte Gattungen von Kapital zurückzuführen, das durch die betreffenden Parteien speziell vertreten sei. Da die Zurückführung der Politik auf die Ökonomie ein Fundamentalgedanke des Marxismus ist und in den Artikeln ganz marxistisch deduziert wurde, schienen die Darlegungen des Verfassers den Anforderungen der marxistischen Geschichtstheorie durchaus zu entsprechen, und seine Resultate unter dem Gesichtspunkt dieser Theorie unanfechtbar.

Welches waren nun diese Resultate? Bei der Besprechung der Parteien Englands und deren Handelspolitik gipfelten sie darin, daß die englischen Liberal-Radikalen, die den Grundsatz des Freihandels hochhalten, die Selbständigkeit der Kolonien verfechten und die weltpolitischen Abenteuer bekämpfen, dies täten, weil sie die Vertreter des Finanzkapitals seien, während die englischen Konservativen das eigentliche Industriekapital verträten und darum in den bezeichneten Fragen andere, zum Teil denen der Radikalen direkt entgegengesetzte Tendenzen verfolgten. Die Radikalen verträten im wesentlichen den Kapitalienexport, die Konservativen den Warenexport, und aus diesem Unterschied erkläre sich die Gegnerschaft der ersteren gegen jede aggressive auswärtige Politik, das Eintreten der letzteren für die Politik der starken Faust. Daß zum Beispiel die angloindische Verwaltung Indiens im Jahr 1895 die Einfuhr von Baumwollenprodukten nach Indien mit einem Zoll belegte und dafür die Zustimmung der damaligen liberalen Regierung erhielt, obwohl die Industrie Lancashires an der Zollfreiheit im Verkehr mit Indien interessiert war, fand nach dem Verfasser auf diese Weise seine natürlichste Erklärung. "Kolossale englische Kapitalien" hätten es vorgezogen, aus dem Mutterland nach Indien auszuwandern und heimsten dort, dank der billigern Arbeitskraft, viel mehr Profit ein als die in der Industrie Lancashires angelegten Kapitalien, die sich mit 2 % Profit begnügen müßten, und die Bill habe "eben den Zweck die indischen Profite der englischen Kapitalien noch höher zu steigern, zum Schaden der eigentlichen englischen Industrie". Es "erweise" sich so, daß in England "das Kapital, welches den Ausländer direkt exploitiert, über das in der nationalen Industrie verwendete Kapital die Oberhand gewinnt".

An diesen Artikel wurde ich lebhaft erinnert, als ich in Rudolf Hilferdings Buch Das Finanzkapital die Kapitel durchlas, die sich mit den handelspolitischen Problemen und Tendenzen der Gegenwart beschäftigen. Trotz aller Unterschiede zwischen den beiden Veröffentlichungen (hier eine systematisch durchgeführte wirtschaftstheoretische Untersuchung, dort nur der Versuch auf Grund einer Anzahl symptomatischer Erscheinungen Tendenzen der Wirtschaftspolitik zu erklären) zeigen sie doch in einem wichtigen Punkt eine verhängnisvolle Parallelität: Beide suchen das moderne Finanzkapital als diejenige Kapitalkategorie, die die Weltpolitik der Gegenwart diktiere, mit einer bestimmten Tendenz der Handelspolitik zu identifizieren. So weit nichts Erstaunliches, da die Verfasser beider Arbeiten von gleichen Grundanschauungen über den Zusammenhang von Wirtschaft und Politik ausgehen.

Aber nun kommt das Merkwürdige: Unsere so marxistisch wie nur möglich sprechenden und deduzierenden Autoren kommen zu direkt entgegengesetzten Resultaten. Nach Kapelusz war die Handelspolitik des Finanzkapitals freihändlerisch-liberal, nach Hilferding ist sie schutzzöllnerisch-imperialistisch. Man wird gestehen, daß dieser Umstand mindestens geeignet ist stutzig zu machen. Waren die Kapcluszschen Artikel auch wesentlich symptomatisch begründet, so griffen sie doch wiederholt auf die Fundamentalgedanken der Marxschen Wirtschaftstheorie zurück und zeugten an verschiedenen Stellen von der Fähigkeit analytischen Denkens. Sie waren keine wissenschaftliche Fortbildung der Marxschen Theorien, aber sie waren als Wegweiser solcher Fortbildung gedacht, und manche Sätze in ihnen führen in gedrängter Form aus, was bei Hilferding weitläufig, aber der Sache nach nicht anders entwickelt wird. Wie denn zum Beispiel beide Arbeiten in die gleiche Schlußbetrachtung ausmünden. Und dabei trotzdem jenes widersprechende Ergebnis.

Nun enthielt freilich die Kapeluszsche Abhandlung eine Anzahl arger Irrtümer, von denen ich verschiedene damals in einem Gegenartikel aufdeckte.[2] Es war zunächst ein leichtes nachzuweisen, daß die Finanzwelt Englands nicht in der liberal-radikalen, sondern in der unionistisch-konservativen Partei ihre spezifische Vertretung hatte und erblickte - von den 20 Finanzleuten des Hauses der Gemeinen gehörten 19 der letzern Koalition und nur 1 der liberalen Partei an -, und daß die entgegengesetzte Behauptung eine reine Konstruktion aus Einzelerscheinungen war. Fernerhin konnte nachgewiesen werden, daß jene Erscheinungen, die nach Kapelusz die oben geschilderte politische Interessengruppierung illustrierten, von ihm ganz falsch aufgefaßt und gedeutet worden waren. So hatte es sich 1894-1895 in Indien nicht um Erhöhung der Profitrate des in indischen Fabriken angelegten Kapitals gehandelt sondern um Deckung steigender Fehlbeträge im indischen Staatshaushalt, die unter anderm durch den damaligen starken Fall der Valuta verursacht waren, und die liberale englische Regierung hatte ihre Zustimmung zur Auferlegung der Abgabe davon abhängig gemacht, daß sie keinerlei Schutzzollcharakter erhalte, das heißt durch eine entsprechende Inlandsteuer ergänzt werde: Nicht ein Schutzzoll, sondern die Wiederaufwärmung einer alten Verbrauchsabgabe ward damals verfügt. Dazu kommt noch folgendes: Indiens Baumwollindustrie, umfaßte selbst 1904 erst 201 Fabriken, von denen die Mehrzahl indischen Unternehmern gehörte, und beschäftigte im ganzen 186.271 Arbeiter, während Englands Baumwolleindustrie über eine halbe Million Arbeiter beschäftigt. Die in den Baumwollfabriken Lancashires laufenden Spindeln zählen gegen 50 Millionen, die Indiens etwa 5 Millionen; das in den Baumwollfabriken Lancashires angelegte Kapital übersteigt das in den indischen Fabriken angelegte um das 8fache. Und da sollte eine englische Regierung Indien einen Einfuhrzoll gegen Lancashire bewilligen, weil die Profite der indischen Fabriken von größerer Bedeutung für den Reichtum Englands seien als die Beschäftigung der Fabriken Lancashires! Der Widersinn springt in die Augen. Nur dadurch, daß Kapelusz die Statistik der Unternehmungen und ihrer Arbeiter ignorierte, konnte er zu seiner, den Sachverhalt auf den Kopf stellenden Behauptung gelangen.

Es liegt nun nahe anzunehmen, daß eben dadurch auch schon der Widerspruch zwischen seiner, die Rückwirkung des Finanzkapitals auf die Handelspolitik betreffenden Schlußfolgerung und der Hilferdings seine Erklärung finde, daß die Kapeluszschen Fehlschlüsse gewissermaßen den indirekten Beweis für die Richtigkeit der Hilferdingschen These lieferten. Aber die Sache verhält sich anders. Gerade der eben gekennzeichnete Grundfehler der Kapeluszschen Arbeit ist auch der Hilferdingschen Beweisführung eigen.

Hilferding behandelt in den 5 letzten Kapiteln seines Buches die Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals und in 3 davon speziell den Einfluß des Finanzkapitals auf die Handelspolitik. Übereinstimmend mit Kapulesz schildert er den Expansionsdrang des Finanzkapitals, der zur Ausdehnung seiner Geschäfte über die Grenzen des Stammlands hinaus treibt: ein Trieb, der beiläufig nicht neu und selbst in seinen modernsten Äußerungen (die Exportierung von ganzen Unternehmungen behufs unverkürzter Ausnutzung fremder Märkte) allen bekannt ist, die sich überhaupt mit den Wirtschaftserscheinungen der Gegenwart befassen. In Verbindung mit dem Bestreben der großen Industrien, deduziert er weiter, den inländischen Markt zu monopolisieren, zu welchem Zweck sie sich der Kartelle bedienen, habe die Praxis des Exports von Unternehmen die Wirkung das in Gestalt von Großbanken zu Beherrschern ganzer Industrien ausgebildete Finanzkapital national und international zum entschiedenen Verfechter des Schutzzolls zu machen. Denn Kartelle bedürfen für ihre monopolistischen Zwecke des Schutzzolls, und der Schutzzoll fremder Länder wird für Großunternehmungen oder das Kartell solcher von dem Moment an gegenstandslos, sobald sie auf den Märkten dieser gleichfalls durch Unternehmungen vertreten sind, die an deren Ausbeutung Anteil nehmen. Da nun die Macht der Großbanken und großen Unternehmungen in beständigem Wachstum begriffen ist, das mittlere und kleinere Gewerbe immer mehr in ihren Bannkreis gerät, und selbst "an ihrer größtmöglichen Ausdehnung interessiert" ist,[3] so daß das Interesse des Finanzkapitals das Interesse der besitzenden Klassen überhaupt wird, ist der Kampf gegen die Schutzzöllnerei auf dem Boden der bestehenden Wirtschaftsordnung aussichtslos, der Freihandel zur Utopie geworden. Die Deduktion scheint auf verschiedene Leute eine bestechende Wirkung ausgeübt zu haben, und sie klingt auch ungemein plausibel, weil sie durchgängig bekannte Erscheinungen zugrunde liegen hat. Aber wie eine Gleichung nicht darum schon richtig ist, weil ihre einzelnen Glieder rationale Größen sind, sondern es noch sehr auf die Koeffizienten dieser Glieder ankommt, ob die Gleichung selbst rational ist, so auch hier. Die Erscheinungen, auf die Hilferding sich beruft, sind da. Aber ob sie die Größe und Kraft haben, die er ihnen beimißt respektive, die sie haben müßten, um seiner Folgerung Richtigkeit zu verleihen, ist eine andere Frage.

Hilferding versteht unter Finanzkapital das Bankkapital, das sich Industrien unterworfen hat und "auf diese Weise in industrielles Kapital verwandelt ist". In dieser Form ist jedoch das Finanzkapital nicht einmal die allgemeine Erscheinung der kapitalistisch entwicktelten Länder. In England zum Beispiel spielt es als Bankkapital in diesem Sinn so gut wie gar keine Rolle. Die über das Kreditgeschäft hinausgreifende enge Verbindung von Bankkapital mit Industriekapital ist eine spezifisch festländische Erscheinung, deren Urtypus der Credit Mobilíer der Gebrüder Pereire war, und die in den deutschen Großbanken mit ihrer Verbindung von Depositenverkehr und Effektenhandel ihre ausgebildetste Form erhalten hat. Indes ist es schließlich gleichgültig, ob große Bankhäuser formell privaten Charakters, wie etwa die Rothschild, die Baring, die Bischoffsheim usw. oder als Aktiengesellschaften konstituierte Bankgeschäfte industrielle Unternehmungen kontrollieren. Entscheidend ist, ob und in welchem Umfang solcher kontrollierende Einfluß durch Finanzinstitute ausgeübt wird. An Beziehungen dieser Art fehlt es in England selbstverständlich nicht. Nur macht es der private Charakter der dortigen großen Finanzhäuser sehr schwer diese Beziehungen genau zu verfolgen und die Tendenzen der Machtausübung festzustellen. Bei den als Aktiengesellschaften konstituierten Banken dagegen stehen der Forschung mehr Ermittelungsmöglichkeiten zu Gebot. Schon aus den Geschäftsberichten an die Generalversammlungen und anderen Mitteilungen dieser Institute an ihre Interessenten, zu denen ihr halböffentlicher Charakter sie nötigt, sowie den Protokollen ihrer Generalversammlungen läßt sich mancher Einblick in ihre Beziehungen zu bestimmten Industrien gewinnen. Man sollte daher meinen, daß Hilferding auch statistische Daten darüber aufbringen würde. Aber über dieses empirische Material ist bei ihm so gut wie gar nichts zu finden. Seine sehr bestimmt formulierten Sätze über die Beherrschung der Industrien durch das Finanzkapital stellen sich uns als Theorie im Sinn logischer Spekulation dar, als aus der Abstraktion gewonnene Schlüsse, deren bestechende Kraft dadurch verstärkt wird, daß Hilferding mit in der Tat virtuosem Geschick die Marxsche Form des Deduzierens handhabt. Nach ihrer Schablone macht sich alles wunderbar glatt. Leider ist jedoch die Logik der Wirklichkeit oft sehr anders beschaffen als die Logik der abstrahierenden Spekulation. Liest man zum Beispiel bei Hilferding das Kapitel über die geschichtliche Tendenz des Finanzkapitals, so erscheint die gesellschaftliche Verallgemeinerung des Industriekartells mit der Verwirklichung des "Generalkartells" der gesamten Industrie im Hintergrund als ein furchtbar einfacher, sozusagen vor der Tür liegender Prozeß. Aber wie prekär ist nicht selbst im zollumwallten Deutschland die Existenz einer ganzen Anzahl von Kartellen der noch am ehesten zu kartellierenden Industrien von Halbfabrikaten! Die Empirie, die ungebärdige Empirie.

Es bedarf eines sehr viel stärkern empirischen Materials als Hilferding es erbringt, bis man den Beweis als geliefert betrachten kann, daß das in den Banken vertretene Finanzkapital die entscheidende Rolle in der Bestimmung der Wirtschaftspolitik spielt, die er ihm zuschreibt. Die Dinge verhalten sich in der Wirklichkeit keineswegs so einfach. Jenes Finanzkapital wird durch sehr viele Köpfe repräsentiert, und wenn es freilich auch Übertreibung wäre auf sie das Wort Tot capita tot sensus anzuwenden, so ist es doch nicht zu viel, wenn man sagt, daß die Welt von einer ganz respektablen Vielheit finanzkapitalistischer Sinne weiß. Nach Hilferdings Deduktionen müßten die Leiter der deutschen Großbanken Erzschutzzöllner sein. Aber der erfolgreiche langjährige Leiter des größten dieser Institute, Georg von Siemens, war, wenn nicht absoluter Freihändler, so doch mindestens Verfechter der Abtragung der Schutzzölle, und sein Nachfolger, Herr von Gwinner, wird kaum viel anders denken.

Je größer die Finanzinstitute, an um so mehr verschiedenartigen Unternehmungen sind sie interessiert. Schon diese Tatsache allein läßt es als ein ganz willkürliches Verfahren erkennen sie generell zu Trägern einer bestimmten Handelspolitik zu stempeln. Wahrscheinlicher ist, daß von den meisten Leitern dieser Institute das zutrifft, was ich in der Polemik gegen Kapelusz über die englischen Finanzherren schrieb:

"So ein moderner Fürst der Finanz ist Minenbesitzer in Spanien, Hüttenbesitzer in den Vereinigten Staaten, Plantagenbesitzer in Brasilien, Gläubiger der verschiedensten Staatsregierungen und daneben englischer Landwirt und Inhaber aller möglichen englischen Industriepapiere. Wie soll der Mann da genau wissen, ob sein Besitz ihn zum Beispiel mehr zum Schutzzoll oder aber zum Freihandel verpflichtet? Würde man ihm die Frage so stellen, so würde er wahrscheinlich genötigt sein, wie der alte Rothschild seinen Sekretär zu fragen: Meyer, wie denke ich über diesen Punkt?"

In der Tat sind die meisten der Herren wie in der allgemeinen Politik. so auch in der Handelspolitik Mittelparteiler. Wenn es bei einigen Banken und Bankhäusern anders ist, die mit der rheinisch-westfälischen Montanindustrie in besonders enger Verbindung stehen, so ist es da nicht das finanzielle Element, das dem industriellen, sondern das industrielle, das dem finanziellen das zollpolitische Programm diktiert. Das spezielle Interesse einer oder mehrerer Industriegruppen und nicht ein generelles Interesse der Finanz spricht da das entscheidende Wort. Hilferdings Satz von einem generellen Interesse des Finanzkapitals am Allerweltsschutzzoll ist nichts als Konstruktion auf der Basis von Einzelerscheinungen, die durchaus unzulänglich sind eine so verallgemeinernde Theorie zu tragen. Das Finanzkapital ist keine einheitliche Wesenheit, und die Industrie von viel zu differierenden Interessen beherrscht, um dem in Industrieunternehmungen angelegten Kapital der Finanzwelt jene Wesenseinheit zu verleihen.

So ist es eine sehr kühne Behauptung Hilferdings, daß die kleineren und mittleren Unternehmungen in Deutschland sich im wesentlichen nur noch als das Gefolge der großen kartellierten Industrien fühlen und darum handelspolitisch mit ihnen gehen. Wenn er sich die Mühe nimmt die Petitionen deutscher Industrieverbände nachzulesen, die zur Zeit der Beratung des neuen deutschen Zolltarifs beim Reichstag einliefen, wird ihm eine andere Melodie entgegentönen. In den Petitionen der Fertigindustrien, die die Masse der mittleren Unternehmungen umfassen, wird er immer wieder auf die Erklärung stoßen: Wir verzichten auf jeden Zoll, wenn man uns Rohmaterial und Hilfsstoffe zollfrei läßt. Und diese Industrien beschäftigen die große Mehrheit der deutschen Arbeiter. Deutschlands Industrie der Maschinen und Apparate umfaßte nach der letzten Berufszählung 907.048 Erwerbstätige, dagegen weiß die Denkschrift des Deutschen Reichs über die Kartelle nichts von einem Kartell in den Maschinengewerben. In der Weberei mit 514.087 Erwerbstätigen gab es zwar etliche Kartelle, sie betrafen aber nur gewisse Spezialitäten, die große Masse der Stoff- und Tuchwebereien waren und sind unkartelliert. Die Industrie der Holz- und Schnitzstoffe mit 787.754 Erwerbstätigen hatte nur 5 unbedeutende Kartelle. Und so die ganze Reihe der Fertigindustrien hindurch. Die größere Mannigfaltigkeit der Fabrikate, die Vielheit der Unternehmungen und die Verschiedenartigkeit der Absatzbedingungen machen in diesen Industrien die Kartellierung ganz besonders schwer, das Dasein zustandegebrachter Kartelle ganz besonders kurzlebig. Monopolpreise sind da so gut wie ausgeschlossen, dafür sind aber gerade die Fertigindustrien am stärksten darauf angewiesen die Weltmarktkonkurrenz zu bestehen. Zwei Drittel vom Wert der Ausfuhr des Deutschen Reichs, im Betrag von jährlich über 4 Milliarden Mark, entfallen auf die Kategorie der Fabrikate, woran zum Beispiel die Maschinenindustrie mit einer Ausfuhr von über 400 Millionen Mark, die Baumwollfabrikation (Weberei usw. ohne Spinnerei) mit über 300 Millionen Mark, die Wollenfabrikation mit zwischen 250 und 300 Millionen Mark beteiligt sind. Nur dadurch, daß man von jedem tiefern Eindringen in die Existenzbedingungen dieser Industrien Abstand nimmt, die, ich wiederhole, die Mehrheit der deutschen Arbeiter beschäftigen, kann man in der Weise, wie es Hilferding tut, einer handelspolitischen Interessenharmonie der Fertigindustrien mit den Kartellen der Halbfabrikate sprechen.

Ich bin nicht geneigt Tagesvorgängen weltgeschichtliche Bedeutung beizulegen. Aber ganz gleichgültig ist es doch nicht, daß eben wieder die Demonstration der Fürsten der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie gegen die linksliberale Leitung des Hansabunds eine geradezu elementare Gegenbewegung aus den Kreisen der mittleren Industrien zur Folge gehabt hat. In diesen Protestversammlungen kam gerade der wirtschaftspolitische Gegensatz oft zu sehr scharfem Ausdruck. Da die Handelsverträge, die auf Grund des Zolltarifs von 1902 abgeschlossen sind, noch 6 Jahre laufen, ist die speziell handelspolitische Debatte augenblicklich bei uns zurzeit für die Politik nicht aktuell und darum auch nicht sonderlich lebhaft. Sobald sie aber wieder aktuell wird, wird es sich zeigen, wie sehr sich Hilferding von der Wirklichkeit entfernt hat, wenn er schreibt, daß die im Kapitalexport gipfelnde Expansionspolitik "sämtliche Schichten der Besitzenden in den Dienst des Finanzkapitals vereinigt", daß "Schutzzoll und Expansion die gemeinsame Forderung der herrschenden Klasse" werden. Unseren Industriellen sind die Zahlen der Ausfuhrstatistik kein Geheimnis. Sie wissen, daß die im Bereich der Möglichkeit liegende Expansion Deutschlands die Ausfuhrmöglichkeiten der Industriefabrikate nicht im Handumdrehen nennenswert vermehren kann und daher für die handelspolitischen Fragen der Gegenwart bedeutungslos ist, sie werden sich daher schwerlich dazu verstehen ihre Stellung zu diesen Fragen von der Aussicht der Zukunftsergebnisse einer denkbaren Expansion bestimmen zu lassen.

Man wird ferner in Hilferdings Buch vergeblich nach Anhaltspunkten dafür suchen, in welchem Verhältnis Zweigbetriebe deutscher Unternehmungen in anderen Ländern eingerichtet worden sind, um dortigen Schutzzöllen zu begegnen, und welche Erfolge für und Rückwirkungen auf die Stammunternehmungen dieser Export von Unternehmungen gehabt hat. Ich gebe ohne weiteres zu, daß das Material hierfür äußerst schwierig zu beschaffen ist. Aber ohne einigermaßen verläßliches Tatsachenmaterial ist jede verallgemeinernde wirtschaftspolitische Folgerung, die auf das Vorkommen solcher Exporte sich stützt, bloße Hypothese und nicht mehr. Die Elektrizitätsfirma Siemens & Halske hat Zweigunternehmungen in verschiedenen Ländern, ebenso die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft. Ist das Verhältnis der Zweigunternehmen zum Stammunternehmen in beiden Fällen das gleiche? Wenn nicht, liegt es nicht nahe zu folgern, daß auch das handelspolitische Interesse dieser Firmen differiert? Große Maschinenwerke haben seit Inkrafttreten der neuen Zolltarife Rußlands, Österreichs usw. Filialen in diesen Ländern errichtet. Ist es ihnen darum eine gleichgültige Sache geworden, wie teuer sie Eisen und Stahl daheim bezahlen müssen? Und welchen Anteil an der gesamten Maschinenindustrie Deutschlands repräsentieren diese Werke? Welchen Anteil an der deutschen Textilindustrie diejenigen Tuch- etc. Fabriken, die Zweigfabriken im Ausland unterhalten? Über diese und verwandte Fragen müßte man unterrichtet sein, bevor man so apodiktische Sätze über die handelspolitische Gesinnung der Unternehmer dieser Industrien zum besten gibt, wie Hilferding es tut. Aber wir schauen vergebens danach aus. Die Tatsache, daß viele scheinbar selbständige Geschäfte faktisch nur noch Agenturen großer kartellierter Unternehmungen sind, ist das einzige aus der Wirklichkeit genommene Beweismittel für die behauptete Interessengemeinschaft der Großen und Kleinen der Industrie in punkto Handelspolitik. Sonst besorgt immer wieder die Entwickelung des Begriffs die Beweisführung: das Kapital, die Bourgeoisie werden zu Wesenheiten, die auch da einheitlich denken, wo in der Wirklichkeit der Wirtschaftswelt Kapitalisten und Bourgeois immer wieder gegensätzlich denken und handeln.

In dieser Hypostasie der Begriffe liegt der Hauptfehler der Deduktionen Hilferdings. Er verfällt wiederholt in die Methode der spekulativen Dialektik. Unzweifelhaft will jeder Kapitalist, wenn er Aktionär ist, so hohe Dividenden einheimsen wie nur möglich. Schutzzölle sind ein Mittel zur Steigerung von Dividenden. Das Finanzkapital macht immer mehr Kapitalisten zu Aktionären und sucht sich nach Möglichkeit Schutzzölle zunutze zu machen, Folglich werden in der Epoche des Finanzkapitals die kapitalistischen Klassen zu Schutzzöllnern. Das ist im Kern sein Beweis für die Aussichtslosigkeit des Freihandels. Es liegt auf der Hand, daß die Kette dieser Beweisführung an zwei bedeutungsvollen Stellen brüchig ist. Schutzzölle erhöhen Profite heißt nicht, daß sie alle Profite erhöhen; sie können nicht Dividenden steigern, ohne andere Einkommen zu kürzen, und die kapitalistischen Klassen zählen noch sehr große Bestandteile in ihren Reihen, deren Einkommen nicht oder nur zum geringsten Teil aus Dividenden von Unternehmungen besteht, denen die Schutzzollpolitik wirklich mehr gibt als sie ihnen nimmt. Das erhellt sofort, sobald wir die Zusammenfassung der verschiedenen Schichten der besitzenden Klassen unter Einheitsbegriffe, die nur für die Gegenüberstellung gegenüber den Nichtbesitzenden oder wenig Besitzenden Sinn und Berechtigung hat, hier, wo ganz andere Unterscheidungen und Gegensätzlichkeiten in Frage kommen, grundsätzlich aufgeben, statt diese Gegensätzlichkeiten bloß, wie dies Hilferding tut, hier und da einmal aus der Schutzhülle jener Begriffe heraustreten zu lassen.

Wohin die Hilferdingsche Betrachtungsweise führt, zeigen seine Sätze über die Aussichten des Schutzzolls und des Reichszollverbands im britischen Weltreich. Nach ihm muß in England in kurzer Zeit "der Übergang zum Schutzzoll notwendigerweise erfolgen", und wird dieser Schutzzoll ein Reichsschutzzoll sein, der noch höher ist als die jetzigen Erziehungszölle der sich selbst verwaltenden englischen Kolonien, da "die Aussicht auf ein durch solchen Zoll geschaffenes Wirtschaftsgebiet geeignet ist die gesamte Kapitalistenklasse zu vereinigen". Durch diesen notwendigen Prozeß werde dann eine Situation geschaffen, die angesichts der Kolonialarmut Deutschlands "den Gegensatz zwischen Deutschland und England mit ihren Trabanten außerordentlich verschärfen muß, eine Situation, die zu einer gewaltsamen Lösung hindrängt". Das alles soll die Sozialdemokratie als Notwendigkeiten nicht nur für den Fall begreifen, daß gewisse Finanzkreise und ihre Trabanten die Handelspolitik inklusive der sonstigen Weltpolitik bestimmen, sondern für die nächste Zeit überhaupt, da angeblich die ganze Bourgeoisie sich dem Heerbann jener Finanziers anschließt. Die Sozialdemokratie soll die imperialistische Politik des Finanzkapitals als die Verallgemeinerung der Bedingungen für den Sieg des Sozialismus begreifen und ihr daher nichts als die Forderung entgegensetzen Weder Schutzzoll noch Freihandel sondern Sozialismus!

Welche Zumutung! Ich habe schon bemerkt, daß sie praktisch eine Parole für den Schutzzoll bedeuten würde. Natürlich, wenn die Sozialdemokratie lediglich außerparlamentarisch kämpfte, etwa wie es das Ideal der revolutionären Syndikalisten ist, könnte sie sich den Kämpfen um Schutzzoll oder Freihandel und den damit innerlich verbundenen Kämpfen um aggressiven Imperialismus oder konsequente Friedenspolitik, um uferlosen Flottenbau oder Rüstungsbeschränkungen rein kritisch gegenüberstellen. Als Teilnehmer an der Gesetzgebung kann sie es nicht. Bei Abstimmungen über Zolltarife, über Flottenvermehrung, über die auswärtige Politik kann sie nicht den bürgerlichen Parteien zurufen: Tut, wozu euer Herz euch treibt, wir enthalten uns und waschen unsere Hände in Unschuld! Denn sich enthalten heißt hier je nachdem die eine oder andere Politik - unter den Voraussetzungen Hilferdings die imperialistische Politik des Finanzkapitals - unterstützen. Gleichviel, ob Hilferding das will oder nicht, es ist die unausweichliche Konsequenz seiner Deduktionen.

Aber diese Deduktionen stimmen nicht. Selbst wer die Niederlagen, die die Schutzzöllnerei und der Hetzimperialismus in England in den letzten Jahren erfahren haben, als nicht entscheidend betrachtet, kann sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß sie uns gezeigt haben, wie starke Kräfte sich selbst in der kapitalistischen Gegenwart gegen jene Tendenzen auflehnen. In keinem Land ist der Widerstand gegen sie auf das Proletariat und etliche Ideologen beschränkt. Überall nehmen große Teile der bürgerlichen Erwerbswelt an ihm teil, überall gewinnt die Vertragsidee im Streit mit den überlieferten Kriegstendenzen an Boden. Der zollfreie Verkehr zwischen den Nationen ist noch nicht zur Utopie geworden sondern noch immer, oder vielmehr mehr als je, Banner des Fortschritts. Denn stärker als je betätigt sich der Internationalismus der Arbeiterklasse in der praktischen Politik, und wenn er innere Einheit haben, sich nicht in unlösbare Widersprüche verstricken soll, kann die Richtlinie der Handelspolitik für ihn keine andere sein als die der Niederreißung der nationalen Zollmauern.

Fussnoten

[1] Siehe Kapelusz Industrie und Finanz in der Neuen Zeit, 1896-1897. 2. Band, pag. 324 ff.

[2] Siehe meinen Artikel Politische und wirtschaftliche Interessen in England in der Neuen Zeit, 1896-1897, 2. Band, pag. 426 ff. (wieder abgedruckt in dem Sammelbuch Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus, 2. Teil, 4. Auflage, Berlin 1904, pag. 118 ff.).

[3] Siehe Hilferding Das Finanzkapital, Wien 1910, pag. 441.


Zuletzt aktualisiert am Last updated 18.8.2009