Eduard Bernstein

 

Völkerbund oder Staatenbund

Eine Untersuchung

(Oktober 1918)


Rede gehalten am 12. Oktober 1918 in Berlin.
Veröffentlicht 1919 als Broschüre von Paul Cassirer Verlag, Berlin.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Vorbemerkung

Diese Schrift gibt mit einem Zusatz den Inhalt eines Vortrages wieder, der von mir am 12. Oktober 1918 im großen Saal der Singakademie zu Berlin auf einem Autorenabend des Verlags Erich Reifs gehalten wurde.

Eduard Bernstein


Völkerbund oder Staatenbund

Zur Ideologie des Volkerbundes

Der furchtbare Krieg, in dem wir uns zurzeit befinden, hat die Frage der Bildung eines großen Bundes der Nationen oder Völker zur Sicherstellung des Friedens auf die Tagesordnung gesetzt. Der Gedanke der Bildung eines solchen Bundes ist indes nicht erst ein Erzeugnis dieses Krieges. Schon seit Jahrhunderten spielt er in der Literatur eine Rolle. Geistliche und weltliche Würdenträger, Staatsmänner und Gelehrte, Priester und Laien haben in verschiedenen Zeitaltern Abhandlungen oder Entwürfe verfaßt, welche die Notwendigkeit oder Wünschbarkeit eines solchen Bundes darlegen und die Formeln entwickeln, in denen er verwirklicht werden könne.

Der am meisten zitierte Entwurf dieser Art hat keinen geringeren als den König Heinrich IV. von Frankreich zum Verfasser. Weniger bekannt, und ich glaube zuerst von mir wieder ausgegraben, ist die Abhandlung des englischen Sozialreformers John Bellers, der an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert lebte. Ihr Titel lautet: Einige Gründe an die Mächte Europas für die Errichtung eines europäischen Staates durch das Mittel einer allgemeinen Bürgschaft und eines jährlichen Kongresses, Senats, Landtags oder Parlaments zur Schlichtung aller etwaigen zukünftigen Streitigkeiten über die Landesgebiete und Rechte der Fürsten und Staaten. Bellers schlägt darin vor, daß Europa in einer Anzahl gleich großer Distrikte oder Kantone eingeteilt werde und jeder Staat je ein Mitglied für jeden Kanton in das Staatenparlament zu entsenden habe, sodaß also die verschiedenen Staaten im Verhältnis ihrer Größe und Bevölkerung in diesem Parlament vertreten sein würden. Das Parlament solle nur die äußeren und allgemeinen Beziehungen der Staaten zueinander zu behandeln haben, ohne sich in ihre inneren Angelegenheiten zu mischen. Es solle die Herabsetzung der stehenden Armeen und die Zahl der im Frieden pro Kanton zu haltenden Mannschaften unter Waffen vereinbaren und festsetzen, wieviel jeder Staat an wehrfähigen Mannschaften oder Schiffen sowie an Geld pro Kanton zu stellen habe, falls eine gemeinsame Aktion gegen Friedensbrecher erforderlich sein werde. Im Gegensatz zu Heinrich will Bellers auch „die Muskowiten und die Mohamedaner“ in diesen Bund hineinziehen, weil sie, so gut wie Protestanten und Katholiken, Menschen seien und „ihr Ausschluß Europa immer noch zum Teil in Kriegszustand belassen würde.“ Je mehr dagegen dieser staatsbürgerliche Bund ausgedehnt werden kann, schreibt Bellers, „um so größer wird der Friede auf Erden sein und Wohlgefallen unter den Menschen.“

Bellers war Quäker und diese eigenartige Religionsgemeinschaft, deren eigentlicher Titel „Verband der Freunde“ ist, hat auch späterhin viele Verfechter der Idee der Organisierung des Friedens gestellt. Daß sie fernerhin für ihre Mitglieder die Verweigerung des Kriegsdienstes postuliert und im gegenwärtigen Krieg eine erhebliche Zahl solcher Verweigerer geliefert hat, sei nur beiläufig erwähnt. Nur wenige Jahre später als dieser Anhänger der äußersten Linken des Puritanertums, veröffentlichte der berühmte katholische Philantrop, Abbé St. Pierre ebenfalls eine Abhandlung über einen Friedensbund der Staaten, und ziemlich um dieselbe Zeit hat auch ein anderer berühmter Katholik, der Kardinal und Staatsmann Alberoni ihm eine Abhandlung gewidmet, In den Staatsromanen, die im Laufe des 18. Jahrhunderts üppig aufsprießen, spielt er keine geringe Rolle, und tiefgreifender in bezug auf seine theoretischen Grundlagen behandeln ihn einige Philosophen, von denen unser großer Immanuel Kant besonders hervorgehoben zu werden verdient. Im siebenten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts beschäftigt sich die von bürgerlichen Demokraten und Philantropen gegründete „Friedens-und Freiheitsliga“ mit ihm, und gibt im Hinblick auf ihn ihrer in deutscher und französischer Sprache herausgegebenen Wochenschrift den Titel: „Die Vereinigten Staaten von Europa.“ Dagegen hat die ziemlich gleichzeitig ins Leben gerufene Internationale Arbeiter-Assoziation zwar den Völkerbund zum Ziel ihrer Bestrebungen, steht aber dem Gedanken, ihn noch in der Ära des Kapitalismus verwirklichen zu können, bis zur Ablehnung skeptisch gegenüber.

Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 hat diese Skepsis mindestens zeitweilig als berechtigt erscheinen lassen. Die Friedens- und Freiheitsliga schläft ein, und Europa wird in ein immer stärkeres Waffenlager verwandelt. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts regen sich die Friedensgesellschaften von Neuem, und neue Pläne der Schaffung eines großen Friedensbundes werden ausgearbeitet, von denen das Werk des Russen Iwan Novikow „Die Föderation Europas“ besondere Erwähnung verdient. Das Rundschreiben Nikolaus II. von Rußland, das zum Zusammentritt der Haager Konferenzen führte, wäre hier gleichfalls zu erwähnen, gehört indes mehr in das Kapitel der Versuche der praktischen Verwirklichung des Gedankens.
 

Annäherungen an den Gedanken in der Praxis

An solchen praktischen Versuchen hat es in der Geschichte nicht minder gefehlt. Ob wir die Stammesverbände barbarischer Völker der alten Welt, die in den Verbänden indianischer Stämme Amerikas ihr Gegenstück haben, als Ansätze zur Verwirklichung des Friedensgedanken betrachten dürfen, ist fraglich. Verbindung zum Zweck gemeinsamer Kriegführung hat zum mindesten bei ihnen keine geringe Rolle gespielt. Stärker dürfte das Friedensbedürfnis beim Zustandekommen der Amphiktyonenbünde im alten Griechenland und ähnlicher Verbindungen italischer Völkerschaften mitgewirkt haben. Nicht als Friedensbünde, wohl aber als Friedensverbände wurden die großen Weltreiche hingestellt, die für ganze Nationen das Aufhören gegenseitiger Bekriegung bedeutet haben und ihnen ein gewisses Maß selbständiger Entwicklung überließen. So namentlich das römische Weltreich auf der Höhe seiner Machtstellung. Indes vertrug ihre Herrschaft nicht jenen Grad von Selbstentwicklung der beherrschten Nationen, der diese auf die Dauer mit der halben Selbständigkeit hätte versöhnen können. Auflehnung der Unterworfenen und Zerfall der Weltherrschaft waren stets nur eine Frage der Zeit. Dies einer der Gründe, weshalb keine der Wellmonarchien des Altertums und des

Mittelalters sich halten konnten und die ähnlichen Bildungen der neueren Zeit, wie namentlich das spanische Weltreich, ihr Schicksal geteilt haben. Wenn das englische Weltreich eine Ausnahme zu machen scheint, so verdankt es dies dem Umstände, daß es schrittweise eine Entwicklung zu einem Bunde in fast allen Punkten selbständiger Staaten oder Staatengemeinschaften (wie z. B. Australien eine ist) vollzieht. Es bewahrt den Zusammenhalt dadurch, daß es eines der Merkmale des Imperiums nach dem ändern aufgibt. Worin wir beiläufig eine der Erklärungen für seine in diesem Kriege an den Tag gelegte Leistungskraft haben. Bei alledem bleibt es eine Frage, ob der britische Weltbund für alle seine Teile die derzeitige Kohäsionskraft behalten wird oder nicht mindestens seine rassenfremden Bestandteile sich eines Tages doch wieder von ihm loslösen werden. Im besten Falle bleibt er ein partieller Bund von Nationen, den zum Teil die Gegnerschaft gegen andere Nationen oder Imperien zusammenhält und der deshalb das heute gestellte Problem nicht löst.

Schließlich, um auch dies noch zu erwähnen, stellte die römische Kirche dem Grundgedanken des Evangeliums nach einen Völkerbund dar. Das Christentum sollte die Völker zu einer großen, in Frieden zusammenlebenden Familie vereinen. Aber im Papsttum kam die geistige Lehre mit weltlichen Herrschaftsbestrebungen in Konflikt, und dieser innere Gegensatz führte zur Kirchenspaltung und schließlich zur Aufhebung jeder weltlichen Herrschaft des römischen Stuhls. Die Macht der Kirche über die Geister erweist sich als nicht stark genug, die christlichen Staaten davon abzunähen, gegeneinander zu rüsten, um sich gegebenenfalls zu bekriegen. Rom hat zwar hier und dort als Vermittler sich betätigen können, wie begrenzt aber schließlich in dieser Hinsicht sein Einfluß ist, hat ebenfalls der gegenwärtige Krieg gezeigt.
 

Agitationen wahrend des Krieges – Bethmann Hollweg und Grey

Und doch hat gerade dieser Krieg offenbart, welch dringendes Bedürfnis in unseren Tagen die Schaffung einer Verbindung ist, welche die Völker gegen Kriege sicherstellt. Wir stehen augenscheinlich vor dem Abschluß des Krieges, aber wir wissen noch nicht, wie dieser Abschluß aussehen wird. Je nach der Gestalt, die er erhält, liegt es nicht außer dem Bereich der Möglichkeit, daß trotz der üblen Erfahrungen, welche die Welt in diesem Krieg gemacht hat, nicht auch nach ihm noch Bestrebungen von Neuem Kraft über die Geister gewinnen werden, welche darauf abzielen, die Rechtsverhältnisse, die der Friedensschluß herbeigeführt hat, mit Hilfe der Waffen umzustoßen. Die Völker haben leider ein ziemlich kurzes Gedächtnis, und die Leidenschaften gewinnen leicht die Herrschaft über die vernünftige Überlegung. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die vorläufig noch in den meisten Landern fortbesteht, schafft zwischen den Großstaaten stets neuen Reibestoff, der es den Interessenten leicht genug macht, ihn als ein Lebensinteresse der eigenen Nation erscheinen zu lassen. Das heutige Wirtschaftsleben aber braucht Sicherheit vor Kriegsgefahr als eine der elementarsten Bedingungen des gesunden Funktionierens seiner Organe, an dem auch die Arbeiterklasse interessiert ist. Und so ist es ein Interesse der Allgemeinheit, Einrichtungen zu schaffen, welche die Völker vom Albdruck dieser Gefahr befreien.

Alles, was bisher zu diesem Zweck geschaffen worden ist, hat sich als unzulänglich erwiesen. Das Haager Schiedsinstitut, das auf Grund der Beschlüsse der beiden Friedenskongresse der Staaten vom Jahre 1899 und 1907 geschaffen wurde, hat versagt und mußte versagen, weil ihm kein Mittel gegeben war, streitende Regierungen zu nötigen, ihren Streitfall vor ihm zur Verhandlung zu bringen, sei es auch nur, um ein Gutachten über die Möglichkeiten einer friedlichen Beilegung durch eine unparteiische Prüfungskommission herbeizuführen. Es war, wie man weiß, in erster Linie Deutschland gewesen, das darauf bestanden hatte, dem Institut vom Haag die Vollmachten zu versagen, streitende Mächte vor sein Forum zu laden. Und diese Opposition der Regierung fand Deckung in der Haltung der deutschen Gelehrten. Der erste der beider. Kongresse war in Gefahr, infolge der Einsprüche der deutschen Vertreter ergebnislos auseinanderzugehen, wenn nicht der damalige amerikanische Botschafter Andrew White eine mehrtägige Pause zu einer Reise nach Berlin benutzt und durch eindringliche Vorstellungen beim deutschen Kaiser und anderen einflußreichen Persönlichkeiten Berlins soviel erreicht hätte, daß Deutschland wenigstens in einigen Punkten seinen Widerstand aufgab. Aber ganz kurze Zeit nach Schluß der ersten Haager Konferenz nahm Wilhelm II. Veranlassung, am 8. September 1899, in einer Rede darzulegen, daß, „ehe die Theorie des ewigen Friedens zur allgemeinen Anwendung gelangen wird, noch manches Jahrhundert vergehen werde“ und daß „der sicherste Schutz des Friedens das Deutsche Reich und seine Fürsten“ seien. Auf der zweiten Haager Konferenz 1907 verstand sich Deutschland zu einigen weiteren Zugeständnissen an den Schiedsgedanken, aber auch jetzt blieb die Verpflichtung zur Anrufung des Schiedsgerichts ausgeschlossen für alle Fragen, welche die Ehre, die Sicherheit und die Interessen der Staaten betreuen, d. h. für diejenigen Fragen, die erfahrungsgemäß gerade den Anlaß oder Vorwand zu Kriegen liefern. Und als am Vorabend des jetzigen Krieges der russische Zar in seinem Telegramm an den deutschen Kaiser vom 29. Juli 1914 anregte, die strittigen Punkte zwischen Österreich-Ungarn und Serbien dem Haager Schiedshof zu unterbreiten, blieb diese Anregung unerwidert und das Telegramm im damals herausgegebenen Weißbuch der deutschen Regierung unerwähnt. Wenn Deutschland sich in diesem Kriege in so hohem Grade isoliert gesehen hat, so hat seine ablehnende Haltung zur Schiedsgerichts-Idee nicht wenig dazu beigetragen

Wenn man aber damals in Berlin den Vorschlägen auf schiedliche Schlichtung des Streites gegenüber taub war, so wurde der Gedanke des internationalen Schiedsgerichts in ändern Ländern umso lebhafter von Neuem erörtert. In den Vereinigten Staaten, die eine ganze Reihe von Verträgen auf schiedsrichterliche Entscheidung aller auftauchenden Streitfälle abgeschlossen hatten, entstand im Frühjahr 1915 die League to enforce Peace – Liga zur gesetzlichen Sicherstellung des Friedens. In Deutschland wird der Titel oft mit „Liga zur Erzwingung des Friedens“ übersetzt, was leicht einen falschen Eindruck hervorruft. Das englische Wort enforce bedeutet allerdings einen Zwang, aber den Zwang eines Gesetzes. To enforce a law heißt lediglich ein Gesetz in Kraft setzen. Die Liga, an deren Spitze Mr. Taft steht, der republikanische Vorgänger Wilsons in der Präsidentschaft der Vereinigten Staaten, fand großen Anklang und Wilscn selbst ist ihr etwas später beigetreten. Um dieselbe Zeit entstand im Haag die Zentrale für einen dauernden Frieden, mit hochangesehenen Juristen und Parlamentariern aus den verschiedenen Ländern als Mitglieder, nachdem schon im September 1914 ebenfalls in Holland der Anti-Oorlog Raad (Rat zur Bekämpfung des Krieges) gegründet worden war, und beide Organisationen propagierten die Idee eines Verständigungsfriedens und der Schaffung eines „Bundes der Nationen“ zur Sicherstellung des Friedens. Solchen Bund hatte übrigens im September 1914 auch Englands Ministerpräsident, Mr. Asquith, als das Ziel seiner Regierung hingestellt. Nun nahm im Frühjahr 1916 im Gespräch mit einem amerikanischen Journalisten der damalige englische Staatssekretär des Äußern, Sir Edward Grey das Wort. Grey, jetzt Lord Grey, der, wie man weiß, am Vorabend dieses Krieges sich vergeblich hemüht hatte, eine friedliche Beilegung des russisch-österreichischen Konflikts zu erwirken und vorher schon wiederholt sich sehr entschieden zugunsten der Bestrebungen des Pazifismus geäußert hatte, bestritt dem Amerikaner, Mr. Edward Price Bell von der Chicago Daily News, lebhaft jede Absicht seiner Regierung, das einige und freie Deutschland zerstören zu wollen. Eine solche Verrücktheit sei seiner Regierung nie in den Sinn gekommen. Die Geschichte habe es immer und immer wieder gelehrt, daß man ein Volk nicht knechten, durch Gewaltherrschaft und Brutalität die Seele eines Volkes nicht töten könne.

„Wir glauben,“sagte Grey, und es ist interessant, gerade heute daran zu erinnern, „daß das deutsche Volk, wenn einmal die von den Alldeutschen gehegten Träume der Weltherrschaft zunichte gemacht worden sind, darauf bestehen wird, die Überwachung der Regierung selbst in die Hand zu nehmen, und darauf beruht die Hoffnung auf gesicherte Freiheit und nationale Unabhängigkeit in Europa. Denn eine deutsche Demokratie wird keine Kriege planen und anzetteln, wie der preußische Militarismus Kriege plante, die zu einem festgesetzten Datum der Zukunft stattfinden sollten.“

Grey entwickelte dann, wie Bell schreibt, diesem „eine Vision des Friedens“. „Nicht eines schwankenden Friedens, nicht eines durch politische und militaristische Ehrsucht und Ranke verwundbaren Friedens, sondern eines durch die Mittel und Warfen der Zivilisation vereinter Nationen gesicherten Friedens.“ Lange vor dem Ausbruch dieses Krieges habe er, Grey, „auf einen Völkerbund gehofft, der einig, schnell und unmittelbar bereit sein würde, die Verletzung internationaler Verträge, des Völkerrechts sowie nationaler Unabhängigkeit zu verhindern und nötigenfalls zu bestrafen“, einen Bund, der die Völker, welche Beschwerde führen und Ansprüche geltend machen wollen, auf den Weg der Entscheidung durch einen unparteiischen Gerichtshof verweist und ihnen erklärt, daß, wenn sie versuchen, entgegen dem Schiedsspruch einen Krieg zu entzünden, sie als Feind der Menschheit angesehen und behandelt werden würden.

„Wenn die Menschheit nicht aus diesem Kriege lernt, den Krieg zu vermeiden“, seien die Worte Greys gewesen, „so werde der Kampf vergeblich gewesen sein und die Drohung des Untergangs sich über die Menschheit erheben.“ „Wenn sich die Welt nicht gegen den Krieg zusammenschließen kann, wenn er fortgeführt werden muß, dann können sich die Völker in Zukunft nur dadurch schützen, daß sie alle Mittel der Vernichtung benutzen, die sie nur irgend ersinnen können, bis die Hilfsmittel und Erfindungen der Wissenschaft damit endigen, daß sie die Menschheit, der sie dienen sollten, zugrunde richten.“

Diese Erklärungen Greys machten damals im neutralen Ausland einen tiefen Eindruck. In weiten Kreisen blickte man auf ihn als den Staatsmann der demokratischen Friedensidee im Gegensatz zu der die deutsche Politik beherrschenden Idee der Gewaltpolitik. Patriotisch gesinnte Deutsche, welche die Vorgänge in der Welt aufmerksam verfolgten, sahen mit Verdruß, wie sehr diese Gegenüberstellung der Sache ihres Landes zum Nachteil gereichte, und suchten daher darauf hinzuwirken, daß von Seiten der deutschen Regierung etwas geschah, was dem entgegenwirken konnte. So schrieb der unterrichtete Historiker, Professor Hans Delbrück, im Novemberheft 1916 der von ihm herausgegebenen Preußischen Jahrbücher einen Aufsatz, überschrieben Realpolitischer Pazifismus, worin er darlegte, wie sehr die Regierung das Ansehen ihres Landes in der Welt heben würde, wenn sie der starken pazifistischen Strömung Rechnung trüge. Der Pazifismus sei nicht mehr eine Bewegung von Idealisten und Träumern, sondern ein weithin empfundenes Bedürfnis von Völkern und Staaten, und mit ihm sich einigermaßen zu stellen, sei wahrhafte Realpolitik. Ermuntert, wenn nicht überhaupt erst angeregt durch diesen Artikel des ihm befreundeten Delbrück hat dann noch im gleichen Monat November 1916 der deutsche Reichskanzler von Bethmann Hollweg, derselbe, der nach im Jahre 1911 die Frage eines Übereinkommens auf Abrüstung für unlösbar erklärte, „solange Menschen Menschen und Staaten Staaten“ seien, jenen seitdem viel zitierten Ausspruch getan:

„Lord Grey hat sich endlich ausführlich mit der Zeit nach dem Kriege, mit der Gründung eines internationalen Bundes zur Wahrung des Friedens beschäftigt. Auch dazu will ich einige Worte sagen. Wir haben niemals ein Hehl aus unsern Zweifeln gemacht, ob der Friede durch internationale Organisationen, wie Schiedsgerichte, dauerhaft gesichert werden könne. Die theoretische Notwendigkeit des Programms will ich nicht erörtern. Aber praktisch werden wir jetzt und im Frieden zu der Frage Stellung nehmen müssen. Wenn bei und nach der Beendigung des Krieges seine entsetzlichen Verwüstungen an Gut und Blut der Welt erst zum vollen Bewußtsein kommen werden, dann wird durch die ganze Menschheit ein Schrei nach Abmachung und Verständigung gehen, um, soweit es irgend in Menschenmacht liegt, die Wiederkehr einer so ungeheuerlichen Katastrophe zu verhüten. Dieser Schrei wird so stark und so berechtigt sein, daß er zu einem Ergebnis führen muß. Deutschland wird jeden Versuch, eine praktische Lösung zu finden, ehrlich mitprüfen und an seiner möglichen Verwirklichung mitarbeiten ... Deutschland ist jederzeit bereit, einem Völkerbunde beizutreten, ja, sich an die Spitze eines Völkerbundes zu stellen, der Friedensstörer im Zaume hält.“

Ich will bei der merkwürdigen Unterscheidung, die der oft als Philosoph bezeichnete Kanzler hier zwischen Theorie und Praxis zog, mich nicht lange aufhalten. Was in der Politik mit der Praxis, dem praktischen Bedürfnis nicht in Einklang zu bringen ist, ist nicht Theorie sondern höchstens Spekulation, die Praxis ist der Prüfstein der Theorie und nicht umgekehrt. Auch will ich unerörtert lassen, ob es nur eine rednerische Entgleisung war, die Herrn von Bethmann Hollweg sagen ließ, daß Deutschland jederzeit bereit sei, sich „an die Spitze“ eines Völkerbundes zu stellen, der „Friedensstörer im Zaume hält.“ Vom Kanzler desselben Deutschland, das nun einmal die Tatsache nicht aus der Welt schaffen konnte, daß es und das mit ihm verbündete Österreich durch die Kriegserklärungen an Serbien, an Rußland und Frankreich sowie durch den Einmarsch in die völkerrechtlich neutralisierten Staaten Belgien und Luxemburg den Weltkrieg eröffnet hatten, von ihm war es zum mindesten ein Fehler, dem mißtrauisch gewordenen Ausland die Möglichkeit zu der Folgerung zu geben, es stecke hinter der Erklärung nur wieder der Gedanke einer speziell für Deutschland zu erlangenden Hegemonie. Nicht verschweigen kann ich jedoch, daß in dem Lande, dessen Kanzler jene Erklärung zugunsten des Völkerbundes abgegeben hatte, die Vereinigungen, die sich die Erziehung der Geister für den Gedanken eines solchen Bundes zur Aufgabe gemacht hatten, daß insbesondere die deutsche Friedensgesellschaft, der Bund Neues Vaterland und die Zentrale für Völkerrecht nicht nur von den Behörden an jeder öffentlichen Propaganda gehindert, sondern auch in ihrer inneren Vereinstätigkeit auf Schritt und Tritt gelähmt wurden, beim Bund Neues Vaterland kann man sogar sagen erdrosselt wurden. Wurde doch dem Vorstand des Bundes, nachdem ihm jede Vereinstätigkeit mit dem Zusatz untersagt worden war, daß ihm (ich zitiere wörtlich), „für die Dauer des Krieges jede weitere Betätigung im Sinne der Bestrebungen des Bundes durch Herstellung und Versendung von Mitteilungen, Sonderdrucken, Flugschriften verboten sei“, nicht einmal erlaubt, die den Bestimmungen des Reichsvereinsgesetzes widersprechende Verfügung, seine Mitgliederlisten einzureichen, den Mitgliedern durch Rundschreiben bekannt zu geben.

Aber wie sehr man auch die pazifistischen Vereinigungen schuhriegeln mochte, die pazifistische Idee als Gegenströmung gegen die Vorgänge auf den Schlachtfeldern und in den besetzten Gebieten ging darum nicht weniger ihren Gang. Es trat das ein, was Ferdinand Lassalle einmal in seiner Schrift Der italienische Krieg und die Aufgaben Preußens mit den Worten kennzeichnete, Napoleon III. möge die vom Ausland nach Frankreich geschmuggelten Flugschriften der Ledru Rollin, Victor Hugo usw. noch so sorgfältig konfiszieren lassen, wer konfisziere ihm aber seine eigenen Reden? Ein leitender Staatsmann nach dem ändern sah sich veranlaßt, in öffentlichen Reden und Erklärungen den Bund der Nationen als Ziel seiner Bestrebungen hinzustellen, und ebenso predigten ihn in Rundschreiben an die Gläubigen und die Regierenden Papst Benedikt, sowie andere Kirchenfürsten. Weit entfernt, von der Tagesordnung zu verschwinden, hat er sich immer stärkere Geltung erobert. Er steht auf Präsident Wilsons Friedensprogramm und wenn es, wie wir nun hoffen dürfen, in Bälde zu Friedensverhandlungen zwischen den kriegsführenden Mächten kommt, wird daher auch er einen Gegenstand der Beratung bilden. Seine Verwirklichung ist indes nicht nur mit technischen Schwierigkeiten verbunden, er ist auch der Gefahr ausgesetzt, von vorneherein infolge falscher Fragestellung falsch in Angriff genommen zu werden. Es ist deshalb an der Zeit, sich grundsätzlich klar zu machen, was er bedeutet und welche Probleme er birgt.
 

Die Folgerungen aus dem Unterschied der Begriffe

Liest man die Erklärungen der Wilson, Grey und anderer englisch sprechender Politiker über unseren Gegenstand in deren eigener Sprache, so wird man finden, daß sie immer nur von einem Bund der Nationen – League of Nations – als Ziel ihrer Bestrebungen sprechen. Ebenso die pazifistischen Staatsmänner und Propagandisten der romanischen Länder und noch einer Reihe anderer Nationalitäten. Bund der Nationen kann aber je nach der Auslegung des Begriffs etwas sehr Verschiedenartiges bedeuten. Der ethnologische Begriff der Nation oder Nationalität hat zum Staat keine unmittelbare Beziehung. Ethnologisch begriffen, kann die Nation daher weiter reichen als der Staat, oder aber nur einen Teil von dessen Bevölkerung umfassen. Politisch oder staatsrechtlich fallen dagegen Nation und Staat zusammen, und „Bund der Nationen“ kann infolgedessen einfach nur Bund der Staaten bezw. Staatenbund bedeuten, d. h. einen Bund, den Staaten für bestimmte abgegrenzte Zwecke schließen und der im übrigen, wie dies bisher in der Diplomatie Übung war, sich um das Wesen der einzelnen vertragschließenden Staaten nicht weiter kümmert. In Deutschland hat sich dagegen für unsern Gegenstand der Ausdruck Völkerbund eingebürgert. Wie wir den konservativen, der Demokratie gar nicht holden Bethmann Hollweg in seiner Erklärung vom 9. November 1916 den „Völkerbund“ verkünden hörten, so kehrt in den meisten offiziellen Erklärungen der Regierung und der heutigen Regierungsparteien Deutschlands immer von Neuem dieser Ausdruck Völkerbund wieder, wenn von der zu schaffenden Vereinigung die Rede ist. Ein wenig Nachdenken schon wird aber zu der Überlegung führen, daß das Wort Völkerbund viel Bestimmteres und mehr sagt als Bund der Nationen oder gar nur Bund der Staaten. Es legt das Gewicht auf die Völker als die Subjekte, die handelnden Personen des Bundes, setzt also eine weitreichende Intimität der Beziehungen und eine demokratische Natur des Bundes voraus. Ein Völkerbund kann seinem Begriff nach nur ein Bund sein, den die Völker selbst schließen oder durch Beauftragte nach ihrem Wunsch und Weisungen abschließen lassen. An einen solchen Bund hat indes weder Herr von Bethmann Hollweg seinerzeit gedacht, noch dürfte er dem größten Teil der deutschen Politiker, die das Schlagwort seither aufgenommen haben, der Sache nach vorschweben oder ihrer politischen Denkweise entsprechen. Wir stoßen da auf einen Gegensatz zwischen Wort und Sache, der uns auf einem verwandten Gebiet begegnet, wo auch das deutsche Wort für den Gegenstand anders lautet als die entsprechenden Ausdrücke fast aller anderen Sprachen. Ich meine dasjenige Rechtsinstitut, das im Deutschen den Namen Völkerrecht führt, das aber in Wirklichkeit kein Recht der Völker, sondern, wie man in jedem Lehrbuch des Völkerrechts nachlesen kann, in Wirklichkeit nur ein Recht der Staaten ist. „Da nicht die Völker“, lesen wir in Franz von Liszt's weitverbreitetem Werk Das Völkerrecht, sondern die Staaten Subjekte des Völkerrechts sind, würde der von Kant in seinen metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre 1797 gebrauchte Ausdruck „Staatenrecht“ sich am meisten empfehlen.“ Noch schärfer betonen andere deutsche Völkerrechtslehrer, daß das Völkerrecht die Völker immer nur erst mittelbar, durch das Mittelglied des Staates, d. h. insofern sie Angehörige von Staaten sind, trifft oder schützt.

Das ist nun keineswegs eine nur akademische Frage, wie man vielleicht meinen möchte. Denn die Auffassung dessen, was wir Völkerrecht nennen, als Staatenrecht steht seiner Entwicklung im Sinne der modernen Demokratie vielfach sehr hemmend im Wege. Sehr gut wird dies unter anderem in der kürzlich erschienenen Schrift des Göttinger Dozenten Leonhard Nelson nachgewiesen, der er den Titel gegeben hat: Die Rechtswirtschaft ohne Recht, Mit großer Schärfe weist Nelson an der Hand der Schriften verschiedener namhafter Staatsrechtslehrer nach, wie sehr der dem heutigen Völkerrecht zugrunde liegende und durch dessen Auslegung als Staatenrecht noch besonders befestigte Satz von der Souveränität des Staates der Reform des Völkerrechts im Sinne eines ethischen oder richtigen Rechts im Wege steht. In der englischsprechenden und romanischen Welt ist der Gegensatz zwischen Wort und Sache in diesem Punkt nicht vorhanden. Da hat sich für letztere der Ausdruck Internationales Recht – „International Law“, „Droit International“ – eingebürgert, der den Gegenstand zwar auch nicht völlig genau trifft, aber wenigstens keine falsche Vorstellungen hinsichtlich des derzeitigen Zustandes der Dinge erweckt. Unser deutsches Wort Völkerrecht klingt ja sehr schön, was man leider von seiner offiziellen Auslegung und der praktischen Anwendung seines Inhalts nicht immer sagen kann, und wir wollen uns hüten, daß es mit dem erstrebten Völkerbund nicht ebenso geht.

Was nun die praktische Seite der Frage Völkerbund oder Staatenbund anbetrifft, so besteht sie zunächst darin, daß bei der Bemessung der Friedensbedingungen es von ausschlaggebender Bedeutung für die Abschätzung der Erträglichkeit einzelner Forderungen sein wird, welchen Charakter der in Aussicht genommene Bund tragen soll. Gebietsfragen z. B. erhalten ein ganz anderes Gesicht, wenn der abzuschließende Friedensvertrag voraussichtlich sich nicht wesentlich von den bisherigen Friedensverträgen der modernen Staaten unterscheiden wird, also höchstens in die Vereinbarung eines umfassenden Staatenbundes ausläuft, oder aber einem wirklichen Völkerbund so nahe kommt, wie dies ohne gleichzeitige Umwandlung aller vertragschließenden Gemeinwesen in sozialistisch-demokratische Republiken überhaupt nur möglich ist. Bleiben die Staaten ihrem Wesen nach, was sie bisher waren, woran dadurch bis auf Weiteres noch wenig geändert wird, daß bestimmte politische Rechte ihrer Angehörigen, wie das Parlamentswahlrecht, erweitert werden, so mag der Friedensvertrag oder Bundesvertrag lauten wie er will, es wird doch keine Gewähr gegeben sein, daß er die Periode der Erholung von den Wunden des Weltkrieges lange Zeit überdauern wird. Und damit wäre dann auch schon angezeigt, daß die Regierungen und die maßgebenden Gesellschaftsklassen fortfahren werden, die Gebietsfragen unter dem Gesichtspunkt der überlieferten und etwa neugeschaffenen nationalen Rivalitäten zu betrachten. Bis in welche Kreise hinein die Auffassung von der Natur des Friedensschlusses die Wertung von Gebietsfragen beeinflußt, mag mir erlaubt sein, an einem Vorgang aus der Gegenwart zu veranschaulichen, an dem ich persönlich beteiligt war.

Im September 1915 fand in der damals noch geeinten sozialdemokratischen Reichstagsfraktion eine Diskussion statt über ein Programm der Kriegs- oder vielmehr Friedensziele der Sozialdemokratie. Für die Mehrheit der Fraktion, die sich auf den Burgfrieden festgelegt, die

Gegnerschaft gegen den herrschenden Staat ins Unbestimmte vertagt hatte, war als Referent Dr. Eduard David ausersehen, für die Minderheit zu sprechen, die auch i:n Krieg die grundsätzliche Opposition gegen die herrschende Politik nicht aufgab, wurde vom Fraktionsvorstand mir übertragen. David und ich arbeiteten jeder Leitsätze für ein solches Programm aus. Da heißt es nun in den Leitsätzen Davids, der sich in bezug auf die nationale Frage der bürgerlichen Auffassung sehr angenähert hatte:

„Die Sicherung der politischen Unabhängigkeit und Unversehrtheit des Deutschen Reiches heischt die Abweisung aller gegen seinen territorialen Machtbereich gerichteten Eroberungsziele der Gegner. Das trifft auch zu für die Forderung der Wiederangliederung Elsaß-Lothringen an Frankreich, einerlei in welcher Form sie erstrebt wird.“

Mit dem Schlußsatz war, wie sich in der Debatte herausstellte, auch die Forderung französischer Sozialisten, die Elsaß-Lothringer über ihre nationale Zugehörigkeit selbst abstimmen zu lassen, abgewiesen, und an dieser Stellungnahme zum Problem Elsaß-Lothringen haben David und seine politischen Freunde, wie man weiß, bis in die letzte Zeit festgehalten Es hat das zur Folge gehabt, daß eine Verständigung zwischen ihrer Fraktion und den französischen Sozialisten aller Richtungen unmöglich geblieben ist und eine gemeinsame Friedensaktion der Internationale des Proletariats nicht zustande zu bringen war. In meinem Programm findet man die Frage Elsaß-Lothringen nicht ausdrücklich berührt. Sie ist aber im zweiten und dritten meiner Leitsätze, welche die Forderung des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Völker behandeln, der Sache nach einschließend behandelt. Dort hieß es im Satz 3:

„Wo Angehörige europäischer Kultur in Betracht kommen, die bisher unter Fremdherrschaft standen, dürfen Gebietsveränderungen nicht ohne Befragung dieser Bewohner stattfinden. Die Befragung ist unter Mitwirkung von Vertretern neutraler Staaten so anzuordnen und zu überwachen, daß die volle Freiheit der Abstimmung gesichert ist. Stimmberechtigt müssen alle mündigen Einwohner sein, die bei Ausbruch des Krieges mindestens ein Jahr im Gebiet ansässig waren“ ... „Es liegt im Interesse der Gesundung Europas, daß Völker europäischer Kultur, die zurzeit unter Fremdherrschaft stehen, überall dort staatliche Selbständigkeit erhalten, wo sie ein genügend großes Gebiet bewohnen, um ein eigenes Leben als Glied des internationalen Völkerverbandes entfalten zu können.“

„Auf Verlangen einer genügend großen Volkszahl muß Bevölkerungen, die zwangsweise einem Staatswesen angegliedert sind, das Recht zuerkannt werden, in direkter Abstimmung über ihre Staatszugehörigkeit zu entscheiden.“

Damit war auch einer solchen Beilegung der Frage Elsaß-Lothringen die Tür geöffnet, welche eine freundschaftliche Verständigung mindestens der demokratischen Volksklassen Frankreichs und Deutschlands miteinander möglich machte.

Davids Leitsatz mit der Forderung der Stabilisierung des Machtbereichs des deutschen Reiches, wie immer dieser zustande gekommen war, entspricht der bisherigen Staatsdoktrin. Ob beim Festhalten an ihm ein Staatenbund mit Frankreich und Deutschland als Mitgliedern möglich geworden wäre, will ich dahingestellt sein lassen. Sicher ist, daß nur ein völlig erschöpftes, durchaus widerstandsunfähig gewordenes Frankreich sich in ihn gefügt hätte. Selbst die sehr deutschfreundlichen Führer der dänischen Sozialdemokratie, wie auch P.J. Troelstra und andere, der Mehrheitsfraktion der deutschen Sozialdemokratie nahestehende Führer der holländischen Sozialisten haben sich in dieser Frage gegen ihn erklärt. Ein Völkerbund aber wäre beim Festhalten an ihm jedenfalls unmöglich zu erzielen gewesen.

Eine ähnliche Differenz trat, um ein zweites Beispiel zu nehmen, in unserer Stellung zur belgischen Frage zutage. In Davids sie betreffendem Leitsatz Nr. 4 hieß es zwar:

„Vom Standpunkt des deutschen Interesses nicht minder wie dem der Gerechtigkeit halten wir die Wiederherstellung von Belgien für geboten.“

Daran schloß sich jedoch der Zusatz:

„Aber im Interesse seiner eigenen Sicherheit und wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit kann Deutschland auch nicht zulassen, daß Belgien ein militärisches Vorwerk und politisches Machtinstrument Englands wird.“

Die Fraktion hat diesen Zusatz und ein an ihn sich anschließendes Satzstück farbloser Natur abgelehnt. Sie lehnte aber auch einen Zusatzantrag Karl Liebknechts ab, der forderte, daß jeder Versuch, Belgiens Selbständigkeit zu beeinträchtigen, auf das Entschiedenste zu bekämpfen sei. Fast in wörtlicher Übereinstimmung mit letzterem sagte mein auf Belgien bezüglicher Leitsatz: „jede zwangsmäßige Annexion belgischen Gebiets oder jede Antastung der Selbständigkeit Belgiens durch irgend einen ändern Staat sind entschieden zu bekämpfen.“ Weiterhin erklärte er es für

„Ehrenpflicht Deutschlands, unverzüglich nach Friedensschluß Belgien zu räumen, wie dies der Staatssekretär von Jagow am 4. August 1914 durch den deutschen Botschafter Fürst Lichnowsky dem englischen Staatssekretär Sir Edward Grey feierlich hat erklären lassen, und das belgische Volk für den ihm zugefügten materiellen und moralischen Schaden in vollem Maße zu entschädigen.“

Es ist nicht meine Absicht, den Parteistreit der deutschen Sozialdemokratie in diesen Vortrag hineinzuziehen. Indes kann die grundsätzliche Meinungsverschiedenheit, die in dem Gegenüber der Leitsätze Davids und meiner Person sachlichen Ausdruck fand, deshalb nicht umgangen werden, weil sie für die praktische Seite unserer Frage von Bedeutung ist. Indem David und seine Freunde ihre Stellung zum gegebenen Staat änderten, war es auch nur folgerichtig, daß sie ihre Stellung ?.u bestimmten Fragen der herrschenden Staatsdoktrin aufgaben. Der von mir beantragte Leitsatz forderte die unbeschränkte Selbständigkeit Belgiens jedem ändern Staat, also auch England oder Frankreich gegenüber, Davids Fassung dagegen bedeutete eine einseitige Einschränkung der Selbständigkeit Belgiens. Wenn die Fraktionsmehrheit nun auch diesen zweideutigen Satz ablehnte, so konnte sie sich doch nicht dazu entschließen, die Forderung der Wiederherstellung Belgiens so zu formulieren, daß sie jeden Eingriff in die Selbständigkeit dieses Landes ausschloß. Sie blieb im Halben stecken, was die natürliche Folge ihrer veränderten Haltung zum Staate war und konnte daher auch in Bezug auf diese Frage die Sozialisten im gegnerischen Lager nicht befriedigen. Ein anderer Leitsatz Davids lautete:

„Im Interesse der Sicherheit Deutschlands und seiner wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit im Südosten weisen wir alle auf Schwächung und Zertrümmerung Österreich-Ungarns und der Türkei gerichteten Kriegsziele des Vierverbandes zurück.“

So berechtigt indes der Gedanke ist, jede gewaltsame Einmischung kriegführender Mächte in die innere Entwicklung der von ihnen bekriegten Länder zurückzuweisen, als so zweifelhaft wird man es bezeichnen dürfen, ob eine Partei der Demokratie richtig handelte, ihm eine Form zu geben, die auf eine Sanktionierung der gerade vom demokratischen Standpunkt aus dringend nach Änderung rufenden Zustände in den bezeichneten Ländern hinauslief.

Die Integrität von Staaten ist ja überhaupt nur dann eine demokratische Forderung, wenn diese Staaten zur Selbständigkeit gelangte Völker vertreten. Wo dies nicht der Fall ist, wo ein Staat oder Reich Nationen oder Völker in Hörigkeit hält, hat die Demokratie niemals das Eintreten für die Aufrechterhaltung dieses Verhältnisses als ihre Angelegenheit betrachtet. Dagegen haben gerade die entschiedensten Demokraten unter Umständen Kriege behufs Aufhebung dieser Hörigkeit je nachdem sogar gefordert. Es sei nur unter anderem an die von Marx verfaßten Resolutionen internationaler Sozialistenkonferenzen erinnert, welche den Kampf der Westmächte gegen Rußland behufs Befreiung Polens forderten. Die Aufrechterhaltung der territorialen Unversehrtheit der Staaten und Reiche in ihrem gegebenen Umfang mag als Satzung für einen Staatenbund passen, sie kann aber nicht leitender Grundsatz eines Völkerbundes sein, sofern dieses Wort überhaupt einen Sinn haben soll.

Der Grundsatz der Nichteinmischung kann überhaupt nicht unbedingte Geltung beanspruchen. Er steht in Widerspruch mit dem sozialistischen Grundsatz der Verbundenheit (Solidarität) der Völker, der übrigens bis zu einem gewissen Grade auch in der bürgerlichen Welt Anerkennung gefunden hat. Es sei nur an die verschiedenen internationalen Verträge zum Schutz gegen gewisse allgemeine Gefahren erinnert, wie Schutz gegen Seuchen, gegen Ausrottung bestimmter Tiere usw. Hier war die Freiwilligkeit des Beitritts oft nur eine formale, faktisch wurde er durch irgendwelche Druckmittel erzwungen. Ebenso bedeuten eine Reihe von Satzungen des Völkerrechts, denen sich kein Kulturstaat entziehen kann, Einmischungen in das Selbstverfügungsrecht der Staaten und Völker, wobei die Selbstherrlichkeit der Staaten ebenfalls nur der Form nach gewahrt wurde. Ich habe aber schon erwähnt, daß diese Rücksichtnahme auf die fast dogmatisch festgelegte Souveränität der Staaten der Weiterentwicklung des Völkerrechts Schwierigkeiten aller Art bereitet und verschiedene Reformen verhindert hat, die von fast allen Sachkundigen als notwendig anerkannt sind. Es kann sich also bei einem zu schaffenden Völkerbund nur darum handeln, bestimmte Regeln zu vereinbaren, wonach für notwendig erkannte Eingriffe in die Selbstherrlichkeit der Staaten allein anzuordnen und durchzuführen sind, und festzustellen, daß jede solche Einmischung grundsätzlich für alle gleichmäßig gelten soll. Von diesen Gedanken geleitet, habe ich damals in meinen Leitsätzen als obersten Grundsatz der Völkerbeziehungen hingestellt „das nationale Selbstbestimmungsrecht der Völker im Rahmen des für alle gleichmäßig geltenden internationalen Rechts.“
 

Bedingungen und Aufgaben eines Völkerbundes

Dieses internationale Recht auszuarbeiten, würde eben die Aufgabe des Völkerbundes sein, der zu diesem Zweck periodische Delegiertentage würde veranstalten müssen und durch sie und die mit der Überwachung der Durchführung der Beschlüsse notwendig werdende Instanz die Merkmale einer Völkerrepublik erhalten würde. Ein Staatenbund kann als lose Verbindung gedacht werden, ein Völkerbund könnte der festen Organisation nicht entbehren. Bis zu einem gewissen Grade scheint man das auch zu fühlen. Die von Wilson aufgestellten Forderungen, die vielen Entwürfe pazifistischer Schriftsteller und Konferenzen, die sich mit der Frage befaßt haben und sehr wertvolle Schriften über sie veröffentlicht haben, sie alle enthalten Bestimmungen, die den Völkerbund als eine Oberinstanz über die heutigen Staaten erscheinen lassen. Aber doch scheuen sie fast sämtlich davor zurück, den Gedanken folgerichtig zu Ende zu führen. Sie schwanken zwischen dem Plan eines Staatenbundes und dem eines Völkerbundes und wagen es nicht, die Bindekraft der Beschlüsse über solche Bestimmungen hinaus auszusprechen, die sich nicht mehr oder weniger auf die Verhinderung des Krieges beziehen. Respektvoll machen sie alle vor dem Staate Halt. Und doch muß es ausgesprochen werden, dafä, solange die Staaten im wesentlichen bleiben werden, was sie heute sind, der Bund der Nationen immer nur eine prekäre Existenz führen wird, von einem Völkerbund aber nur erst sehr bedingt wird gesprochen werden können.

Es mag von einem Sozialisten parodox klingen, es entspricht aber einer Überzeugung, die sich mir nicht heule erst aufgedrängt hat und die übrigens sehr bestimmte Sätze und Darlegungen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Karl Marx und Friedrich Engels, für sich hat, daß der Völkerbund nur Wahrheit sein wird und von den Völkern in ihr Denken und Fühlen nur in dem Maße aufgenommen sein wird, als sie aufgehört haben werden, in Staaten zu denken, den Staat als etwas Unantastbares zu betrachten. Der weitgehende Glaube an den Staat, der der Sozialdemokratie in ihren Jugendjahren eigen war und der speziell in Deutschland durch einige Aussprüche Ferdinand Lassalles zum Teil erst hervorgerufen worden ist, hatte eine Berechtigung soweit es sich um die Bekämpfung der Idee handelt, die sozialpolitischen Funktionen des Staates auf Sicherheitsdienste zu beschränken. Er wird aber von einem gewissen Zeitpunkt an schädlicher, der Fortentwicklung des Völkerlebens im Wege stehender Aberglaube. Der Staat kann von der Demokratie, wie immer er entstanden ist und sich gestaltet hat, nur insoweit anerkannt werden, als er Organ der Allgemeinheit des Volkes ist, nach ihren Bedürfnissen sich wandelt und seine diesen widersprechenden Funktionen aufgibt. Wir müssen den mystischen Glauben an den Staat abstreifen um reif für den Völkerbund zu werden.

Man erinnert sich, mit welchem Geräusch zu Beginn dieses Krieges, als Deutschland die Welt durch seine Kriegsbereitschaft überraschte und auf dem Schlachtfelde Schlag auf Schlag auszuteilen vermochte, diese Erfolge von Gelehrten und Schriftstellern als die Frucht des Umstandes bezeichnet wurden, daß dem deutschen Volk allein „das rechte Verständnis für den Staat“ innewohne.

Seitdem hat sich aber gezeigt, daß es viel allgemeinere soziale Kräfte materieller und seelischer Natur sind, welche die Leistungsfähigkeit von Völkern im Krieg und für den Krieg bewirken. Der große Vorsprung, den Deutschland in der ersten Kriegszeit auf dem Festland erzielte, beruhte den Westmächten gegenüber darauf, daß seine Regierenden früher als die Regierungen jener zum Krieg entschlossen waren und den Krieg mit der Überflutung des neutralen Belgien begannen, während man drüben bis zuletzt gehofft zu haben scheint, daß Deutschland von der Hineinziehung Belgiens Abstand nehmen werde. Es ist Tatsache, daß Frankreich für einen Angriff von der belgischen Seite her durchaus ungenügend vorbereitet war. Der Nordflügel der deutschen Armee reichte beim Eisenbahnaufmarsch bis Aachen, also noch über den Breitengrad von Lüttich hinaus; der Nordflügel des französischen Feldheeres stand bei Longwy, 140 Kilometer weiter südlich als Aachen. Von dem Augenblicke an, wo der zeitliche Vorsprung ausgeglichen ist, hört die Überlegenheit Deutschlands dem Westen gegenüber auf, es erringt größere militärische Erfolge nur noch im Osten, wo ein politisch unterwühlter Halbdespotismus an der Unfähigkeit zugrunde geht, sein Regierungssystem aus eigener Kraft zu regenerieren. Dem zarischen Rußland hat es an einer Staatsidee gewiß nicht gefehlt, es hatte davon zuviel und nicht zuwenig. Woran es ihm aber fehlte, das war diejenige soziale Fundierung seiner Staatsidee und das aus ihr sich ergebende Verbundenheitsbewußtsein seiner Volksteile, die nötig sind, eine Nation zur höchsten Entfaltung und Zusammenfassung ihrer materiellen und moralischen Kräfte zu befähigen.

Auf dies Verbundenheitsbewußtsein seiner Angehörigen kommt es bei allen großen Kraftproben des Staates an. Man gibt sich jedoch einem großen und verhängnisvollen Irrtum hin, wenn man meint, daß das Vorhandensein eines solchen Bewußtseins unbedingt an die Existenz des Staates geknüpft sei. Es war in kleinerem Maßstab vor dem Staate da – im Geschlechtsverband, in der feudalen Gebietseinheit und ähnlichen Bildungen – und es liegen Anzeichen genug vor, die erkennen lassen, daß es ihn überdauern wird. Der Staat ist geschichtlich ein Mittel gewesen, es zu erweitern, bezw. auf eine höhere Stufe zu heben, und diese geschichtliche Mission ist es, die Lasalle und andere Sozialisten im Auge haben, wenn sie den Staat als Kulturträger feiern. Aber auf der einen Seite territorial begrenzt, auf der ändern der Schauplatz von in seinem Innern spielenden Klassenkämpfen, ist der Staat stets der Gefahr ausgesetzt, des für seine Sicherung gegen alle Schicksalsschläge nötigen Verbundenheitsbewußtseins seiner Angehörigen verlustig zu gehen.

Wie leicht man sich über die sittliche Kraft dieses staatlichen Bewußtseins täuscht, haben wir in unseren Tagen zur Genüge gesehen. Ich will die Opfer, die in diesem Kriege auf allen Seiten an Gut und Blut willig dargebracht worden sind, nicht gering einschätzen. Aber wenn wir den Beweggründen und Voraussetzungen näher nachforschen, die für diese Willigkeit maßgebend waren, dann werden wir finden, daß gedankenlose Hinnahme von Schlagworten nebst Überlieferungen, deren

Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vorhanden sind, wirkliche oder vermeintliche materielle Interessen gewöhnlicher Natur in unendlich vielen Fällen die Triebkraft geliefert haben, daß dagegen ein durch gewissenhafte Prüfung der Tatsachen gewonnenes Urteil über die Fragen, die in diesem Kampf für die Völker wirklich zur Entscheidung standen, nur verhältnismäßig sehr selten das Verhalten bestimmte. Der Krieg hat zu allen Zeiten edlere und niedere Eigenschaften geweckt, wir können aber, wenn wir ehrlich gegen uns selbst sein wollen, nicht sagen, daß heute das Verhältnis der ersteren zu den letzteren sich günstiger gestellt hat, als in früheren Jahrzehnten. Man muß im Gegenteil recht weit zurückgehen in der Geschichte, um Beispiele für das zu finden, was in diesem Kriege an Zerstörung und Ausraubung geleistet worden ist. Das Verbundenheitsgefühl, wie es der heutige Staat gezeitigt hat, hat bei uns nicht verhindert, daß eine gegenseitige Auswucherung Platz gegriffen hat, wie sie kaum in einem zweiten Lande allgemeiner und bösartiger aufgetreten ist. Der staatliche Zusammenhalt ist auch bei uns nach außen hin vernehmlich auf den Gegensatz gegründet – heute sogar, Dank der imperialistischen Erziehung der neueren Generation, in höherem Grade als in den Tagen früherer Generationen. Er ist damit mehr negative als positive Tugend.

Kann man daher, solange der Staat auf kapitalistischer Wirtschaft gegründet ist und imperialistische Tendenzen verfolgt, vom Staatenbund erwarten, daß er den dauernden Frieden bringt? Es ist das durchaus nicht sicher. Die von Wilson und anderen bürgerlichen Pazifisten propagierten Sicherungsvorschläge: Freiheit der Meere, Gleichheit der Handelsbeziehungen, Offene Tür usw. reichen nicht aus, die imperialistischen Rivalitäten für die Dauer aus der Welt zu schaffen.

Die Freiheit der Meere ist eine gute Sache. Aber im Frieden war sie seit der Unterdrückung der Seeräuberei nie in Frage gestellt, und sie für den Krieg verkünden, ohne zugleich die Bestimmungen über den Landkrieg nach verschiedenen Richtungen hin zu verschärfen, würde unter bestimmten Umständen für eine Landmacht eine Ermunterung sein, auf einen Krieg hinzuarbeiten. Nun soll freilich die Verpflichtung zum vorherigen Gang an das Internationale Schiedsgericht und zur Beobachtung von dessen Entscheidungen den Krieg überhaupt ausschalten. So wenig indes auf wirtschaftlichem Gebiet die gewerblichen Einigungsämter die Streiks aus der Welt schaffen konnten, so wenig wird das Internationale Schiedsgericht den Krieg aus der Welt schaffen, solange der Staatenbund ihn überhaupt noch zuläßt und die Beweggründe zum Krieg nicht aus der Welt geschafft werden.

Die Forderung der Gleichheit der Handelsbeziehungen ist prinzipiell ebenfalls etwas Gutes. Aber was bedeutet sie in der Praxis? Sie ist nur eine andere Formulierung der Vorschrift, allen Staaten bezw. ihren Bürgern die Rechte zuzuerkennen, welche ihnen die Klausel der Meistbegünstigung in den Handelsverträgen zusichert. Aber diese Verallgemeinerung der Meistbegünstigung hat in der Zeit vor dem Kriege in weitem Umfange bestanden, während gleichzeitig die meisten Großstaaten ihre Schutzzollmauern befestigten und erhöhten. Die Schutzzöllnerei ist jedoch in den Staaten entwickelter kapitalistischer Produktion die Todfeindin jeder wahren Verbindung der Völker. Aus ihr zieht der moderne, wirtschaftspolitische Imperialismus einen großen Teil seiner zu Kriegen treibenden Tendenzen. Die schutzzöllnerische Reaktion, die zu Beginn des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts einsetzte, hat das Signal gegeben zur erneuten Wettjagd der kapitalistischen Staaten auf Kolonien, und in wie hohem Grade die kolonialpolitischen Rivalitäten dem gegenwärtigen Kriege vorgearbeitet haben, ist zu allgemein bekannt, daß es hier noch besonders nachgewiesen zu werden brauchte. Bemerken will ich nur Eines. Tatsachen liegen vor, die darau hindeuten, daß an diesem Krieg auch die Marokkofrage nicht unschuldig ist, die schon zweimal vorher in diesem Jahrhundert Europa an den Rand des Krieges gebracht hatte.

In der Kolonialfrage muß, wie dies die fabianischen und andere Sozialisten Englands fordern, der Grundsatz der offenen Tür ergänzt werden durch die Internationalisierung derjenigen Kolonien, deren einheimische Bevölkerung, wenn man sie sich selbst überließe, über kurz oder lang irgendwelchen raublustigen Eroberern zum Opfer fallen würde. Eine internationale Verwaltung und Kontrolle böte die beste Möglichkeit, die Eingeborenen gegen Ausraubung und Auspressung zu schützen, sie zur Selbstregierung zu erziehen, und zugleich der Monopolisierung der Schätze der Kolonie durch Kapitalistengruppen bestimmter Staaten vorzubeugen.

Die imperialistischen Tendenzen werden freilich damit allein auch noch nicht zur Ungefährlichkeit gebracht. Im Wesen des Kapitals liegt der Drang zur Expansion und der Drang zu erhöhter wirtschaftlicher Expansion zieht den Drang zur territorialen Expansion immer wieder nach sich. Endgültig wird hier nur das Radikalmittel der Sozialisierung des Kapitals bei gleichzeitiger Internationalisierung der großen Handels- und Verkehrswege Sicherung schaffen. Und wenn dieses Mittel nicht überall sofort ergriffen wird, so spricht doch vieles dafür, daß die Wirtschafts- und Finanzlage, die der Krieg in den meisten Großstaaten im Gefolge gehabt hat, den Völkern eine sehr beschleunigte Entwicklung in dieser Richtung zum Gebot der sozialen Selbsterhaltung machen wird. Auf die zwingende Sprache der sozialen Notwendigkeiten und die Aktion der arbeitenden Volksklassen, die den Druck am meisten empfinden werden, wird man stärkere Hoffnung setzen dürfen für die Verwirklichung des Völkerbundes als auf irgendwelche Abmachungen der jetzigen Regierungen. Das soll nicht sagen, daß ich die Forderung der sofortigen Inangriffnahme eines Bundes der Nationen verwerfe oder von ihm befürchte, daß er, immerhin das Gute, sich als der Feind des Besseren herausstellen könne. Nein, es liegt kein Grund vor, dem Kampf für die Verwirklichung des Bundes sich ablehnend gegenüberzustellen. Ein Bund der Nationen nach dem Programm Wilsons z. B. würde sicherlich ein Schritt vorwärts auf dem rechten Wege sein. Aber weil er ein Bund der Staaten sein würde und diese Staaten allesamt kapitalistisch sind, kann er noch nicht der Bund der Völker sein, den wir erstreben müssen, wenn wir der Kriege und der Kriegsgefahr für immer ledig sein wollen. Ein Bund der Völker kann nur ein Bund freier Republiken der Völker sein, gegründet auf das gleiche demokratische Recht aller, auf volle nationale Selbstbestimmung der Völker und auf jene Herrschaft der Menschheit über ihr soziales Geschick, die nur zur vollen Verwirklichung gebracht werden kann durch den Sozialismus.

Genug der Beispiele. Ich könnte ihre Zahl sehr vermehren. Namentlich wird die Prüfung der politischen Vorschläge, wie Beschränkung der Rüstungen, parlamentarische Regierung usw. uns ein ähnliches Bild liefern. An den vorgeführten paar Beispielen sehen wir, hoffe ich, mit hinlänglicher Deutlichkeit, warum der Staatenbund, in dessen Wesen er liegt, bei allen internationalen Fragen der Sonderhoheit der Staaten möglichst wenig zu nahe zu treten, den Völkerbund noch nicht verwirklicht und den Krieg noch nicht auf den Aussterbeetat setzt. An ihrer Hand können wir aber auch sehen, nach welchen Grundsätzen diejenigen die in Betracht kommenden Fragen anfassen müssen, die den wirklichen Völkerbund wollen.

Nicht die bloße Gleichheit der Handelsbeziehungen, sondern die Niederlegung der Zollmauern ist in der Handelspolitik eine der ersten Vorbedingungen der Verwirklichung dieses Zieles. Der Freihandel ist kein Arkanum, das alle Streithändel der Staaten und Völker aus der Welt schafft. Aber er ist ein wirksames Mittel, diese Händel zu vermindern und ihnen ihre Schärfe zu nehmen. In die Gebietsfragen z. B. mischt sich heute stärker als zu irgend einer früheren Zeit die Frage der Sicherheit des Bezugs wichtiger Bodenschätze. Bei der Fortdauer der Schutzzöllnerei kann sie daher Völkern den Streit um Gebiete als eine Lebensfrage ihrer Volkswirtschaft erscheinen lassen. Dies wird aber viel weniger eintreten, wenn der Freihandel den unverzollten Bezug jener Schätze sicherstellt. Der internationale zollfreie Güteraustausch wäre ferner ein Mittel, die geographische Arbeitsteilung zur höchsten Vollkommenheit zu entwickeln und dadurch die Intimität der Völkerbeziehungen, die gegenseitige wirtschaftliche Verbundenheit der Völker auf die höchste Stufe zu bringen.

Das war ja auch der leitende Gedanke der großen Propagandisten des Freihandels. Sie waren alle zugleich Friedenspolitiker. Kein Ausspruch Richard Cobdens, des großen Freihandelsagitators, ist bedeutsamer als die Antwort, die er in einer Versammlung auf den Einwand gab, die Verwirklichung seiner Politik werde England vom Ausland abhängig machen. Sie lautet: „Aber lieber Herr, das ist ja grade das Gute“. Für den Völkerbund ist die Tatsache der gegenseitigen Abhängigkeit und das Eindringen dieser Tatsache in das Bewußtsein der Völker in der Tat das Gute. Keine schlimmere Reaktionserscheinung in diesem Kriege, als die in allen Großstaaten entfaltete Agitation, um jeden Preis die heimische Produktion selbst oder diese im Bund mit der von ein paar anderen Staaten wieder auf den Stand der Selbstversorgung zu bringen, die sogenannte wirtschaftliche Autarkie zu verwirklichen. Die neueste Gestaltung der Kriegslage hat durch verschiedene dieser Pläne einen dicken Strich gemacht, und wer den Völkerbund erstrebt, kann wenigstens diese Wirkung nur begrüßen. Nicht die Rückkehr zur Selbstversorgung, sondern der möglichst innige Wirtschaftsverkehr der Völker wird ihn bringen. Die Niederreißung der Zollmauern bedeutet das Sprengen eines der Reifen, welche die Völker in den Bann des Macht- und Gewaltstaates spannen. Der vollständige Bruch dieses Bannes wird den Völkerbund erst zur Wahrheit machen, nur als Weltrepublik solidarisch verbundener freier Völker wird er seine große Mission erfüllen.


Zusatz

Seitdem das Vorstehende gesagt und geschrieben wurde, hat die große politische Revolution stattgefunden, die Deutschland in eine demokratische Republik umgewandelt hat. Damit ist ein gewaltiger Schritt vorwärts zur Verwirklichung des Bundes geschehen, von dem ich hier nachgewiesen zu haben glaube, daß er allein das Recht haben wird, den Namen Völkerbund zu führen. Die Republik Deutschland befestigen und ausbauen zu helfen, muß jeder sich angelegen sein lassen, der den Völkerbund verwirklicht sehen will.

Das Kaiserreich war der Krieg, die Republik wird der Friede sein


Zuletzt aktualisiert am 24.7.2011