Eduard Bernstein

Die Wahrheit über
die Einkreisung Deutschlands


Einleitung


Die Entstehung des vorliegenden Schriftchens geht auf das Jahr 1915 und einen Besuch des so schmählich ums Leben gekommenen Karl Liebknecht beim Unterzeichneten zurück. Ende Mai 1915 suchte mich Liebknecht auf und fragte mich, ob ich nicht eine Flugschrift über irgendeine der auf den Krieg und unser Volk bezüglichen Fragen abfassen wolle. Angesichts der beklagenswerten Haltung des größten Teils der sozialistischen Parteipresse und des scheußlichen Drucks der Zensur auf die anderen Blätter haben Freunde und er beschlossen, aufklärende Schriften geheim drucken und unter der Hand verbreiten zu lassen, um der systematischen Täuschung des Volkes entgegenzuwirken; sie würden sich freuen, wenn ich mich daran beteiligte. Nach kurzer Überlegung sagte ich zu. Hatte ich doch reichlich genug Gelegenheit gehabt mich davon zu überzeugen, wie sehr die Mitglieder unserer Partei in ihrer Mehrheit durch die von oben ausgegebenen und von der nationalistischen Presse noch in vielfacher Vergröberung wiedergegebenen Schlagworte über Ursachen, Entstehung usw. des Krieges in ihrem Urteil über ihn irregeführt und zu jener Haltung mit Bezug auf ihn verleitet wurden, die nach meiner Überzeugung jede internationale Aktion der Sozialdemokratie für eine baldige Beendigung des Krieges und den Abschluß eines ihren Grundsätzen entsprechenden Friedens unmöglich machte.

Zu jenen Schlagworten gehörte auch die Behauptung, Deutschland sei von den Ententemächten teuflischerweise eingekreist und dadurch zur Gegenwehr genötigt gewesen. Sie betörte selbst Leute, die zugaben, daß Deutschland nicht „mitten im Frieden“ von den ändern überfallen worden sei. Sie erwies sich – und erweist sich ja auch heute noch – als ein verhängnisvoll wirkendes Opiat zur Betäubung der Gewissen. Die Zeit des Krieges über ein Agitationsmittel der Parteien der Annexionen, ist sie heute ins Arsenal der unser Volk gegen die Republik und die Demokratie aufstachelnden und die Geister mit der Idee des Vergeltungskrieges betörenden Reaktion übergegangen und richtet noch immer Unheil an. Das wirksamste Mittel der Beeinflussung der Geister, die unablässige, dreiste Wiederholung einer Behauptung, als ob sie eine unantastbar festgestellte Tatsache ausdrücke, kommt ihr in hohem Maße zugute.

Kurz nachdem Karl Liebknecht bei mir gewesen war, fiel mir eine Nummer des Vorwärts betitelten Wochenblatts der Sozialdemokratie New Yorks mit einem Artikel in die Hand, der gerade diese Einkreisungsfrage behandelte und mir für die geplante Flugschrift außerordentlich geeignet erschien. Der Verfasser war zwar nicht ganz frei von dem Fehler so vieler sozialistischer Schriftsteller aus der Schule von Karl Marx und Friedrich Engels, im Gegensatz zum Beispiel, das diese Denker selbst gegeben, das ökonomische Motiv in der Geschichtserklärung zu übertreiben. Aber er legte doch hierbei eine stärkere Unterscheidungskraft an den Tag als man sie in der Regel findet. So nahm ich den Aufsatz zum Ausgangspunkt der Flugschrift.

Als diese aber fertig war, konnte ich mich nicht entschließen, sie Liebknecht für dessen Vereinigung zu übersenden. Es hatte sich inzwischen herausgestellt, daß diese den Kampf in der Partei unter Voraussetzungen und in Formen führten, die sich wesentlich von dem unterschieden, was ich für angezeigt und richtig hielt. Ein Vergleich zwischen dem gerade damals von Hugo Haase, Karl Kautsky und mir veröffentlichten Aufruf Das Gebot der Stunde und der zur selben Zeit von jener Seite behufs Unterzeichnung in Umlauf gesetzten Denkschrift gegen die Kriegspolitik der Mehrheitsfraktion der Sozialdemokratie wird dies klar erkennen lassen. Der Aufruf enthält sich jeder Kritik der Fraktion und sucht lediglich durch Vorführung einer Reihe von Tatsachen, die nach unserer Ansicht über die Natur des Krieges keinen Zweifel mehr ließen, auf das Urteil der Fraktion einzuwirken. Die Denkschrift aber übt an der Haltung der Fraktion selbst Kritik und läuft in eine Warnung an die Adresse der Fraktionsmehrheit aus, die schön einer förmlichen Kriegserklärung innerhalb der Partei sehr nahe kam. An einer Bewegung, die auf dergleichen abzielte, mochte ich mich, solange es irgend zu vermeiden war, weder direkt, noch indirekt beteiligen, und so lehnte ich es ab, die Denkschrift zu unterschreiben, und blieb auch den Zusammenkünften der Anhänger dieser Auffassung fern. Damit geriet meine Liebknecht gegebene Zusage in Vergessenheit, und das Manuskript blieb, weil niemand mehr danach fragte, in meinem Pult.

Wenn ich es nun aus diesem heraushole und an die Öffentlichkeit bringe, so veranlaßt mich dazu die oben schon betonte Tatsache, daß die in ihm behandelte Frage noch heute ihre Aktualität hat. Ja. genau zugesehen, fast noch größere Aktualität hat als zur Zeit des Krieges selbst. Solange dieser nicht beendet war, genügten für die große Masse der Nation und auch die Mehrzahl der Politiker seine einfache Tatsache und der Gedanke an die mit einer Niederlage verbundenen Gefahren, ihre Stellung zur Regierung und der Heeresleitung zu bestimmen; es war die objektive Prüfung der Ursachen des Krieges mehr eine innere Angelegenheit der Parteien als ein Gegenstand der öffentlichen Debatte. Heute aber ist die Frage der Verantwortung für den Krieg eine Angelegenheit von grundlegender Bedeutung für das ganze politische Leben der Nation. War das durch die Revolution des November 1918 entthronte System verantwortlich für den Krieg oder nicht, und in welchem Grade war es verantwortlich? Das ist die Frage, über welche die Nation sich klar werden muß.

Mit einem ungeheuren Aufwand von Geldmitteln und mit einem noch größeren Aufwand von Dreistigkeit im Umspringen mit den Tatsachen suchen die Anhänger des alten Systems dieses in den Augen der breiten Massen als das unschuldige Opfer böswilliger Ränke des Auslands und teils berechnet lügenhafter, teils kurzsichtiger Umtriebe seiner inneren Feinde hinzustellen. Von Seiten der berufenen Vertreter der Republik aber wird – das muß einmal von einem Nichtoppositionsmann rund heraus gesagt werden – die Aufklärung des Volkes über diese Fragen in unverantwortlicher Weise vernachlässigt. Wer sich im Volk bewegt und da bemerkt, welches Unheil in den Köpfen aller Schichten der Bevölkerung die von den Reaktionsparteien mit guter Wirkung für die Empfänglichkeiten der Volksseele in Umlauf gesetzten handgreiflichen Unwahrheiten über den Krieg anrichten, kann sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß auf diesem Gebiet noch unendlich viel nachzuholen ist, soll die Republik nicht eines Tages sehr trübe Erfahrungen machen. Erwägungen dieser Art veranlassen mich, die nun ziemlich fünf Jahre alte Broschüre mit einigen notwendig gewordenen Ergänzungen auf den Markt zu bringen, und wenn es durch den Verlag Neues Vaterland geschieht, so soll dieser Name anzeigen, welche Interessen mich dabei geleitet haben.

Berlin-Schöneberg, Ende Februar 1920

Ed. Bernstein


Zuletzt aktualisiert am 31.07.2010