Eduard Bernstein

Die Wahrheit über
die Einkreisung Deutschlands


II. Kapitel zur Geschichte der Legende


Soweit der Artikel des New Yorker Vorwärts. Er konnte natürlich das Thema nicht in bezug auf alle in Betracht kommenden Punkte behandeln, und seine Fortsetzung ist mir nicht zu Gesicht gekommen. Daher sei er hier noch durch einige Kapitel ergänzt.
 

f) Aus der Geschichte der „Einkreisung“

Im letzten Jahrfünft des 19. Jahrhunderts hatten sich die Beziehungen zwischen Frankreich und England infolge verschiedener Streitigkeiten auf dem Gebiet der Kolonialpolitik – die Fragen Siams, des Sudans, (Faschoda!), Madagaskars, der Neufundland-Fischerei – so zugespitzt, daß es darüber beinahe zum Krieg zwischen den beiden Nationen gekommen wäre. Während aber demokratische Engländer sich darauf verlegten, eine Aussöhnung mit Frankreich anzubahnen, suchte die damalige konservativ-unionistische Regierung, durch eine Abmachung mit Deutschland sich einen möglichen Bundesgenossen gegen Frankreich zu sichern. „Deutschland ist der geborene Bundesgenosse Englands“, verkündete am 30. November 1899 ihr energischstes Mitglied, der Kolonialminister Joseph Chamberlain in einer großen Rede zu Leicester, und 1901 trat er mit bestimmten Vorschlägen an Deutschland heran, ohne aber die erhoffte Gegenliebe zu finden. Dies und die im Gegenteil mit fieberhaftem Eifer betriebene Vergrößerung der deutschen Kriegsflotte legten es den maßgebenden Politikern Englands nahe, nun doch einen Ausgleich mit Frankreich nach dem Grundsatz von Geben und Nehmen zu versuchen. Es ward ihnen das durch die Mitwirkung des damals gerade auf den englischen Thron gelangten Eduard VII. erleichtert, der ein alter Freund der Franzosen war, und so kam 1904 das Abkommen zustande, das in einem Freundschaftsbündnis allgemeiner Natur eine Art Weihe fand. Es erhielt denselben Namen, den wenige Jahre vorher eine von dem radikal-demokratischen Schriftsteller W. Thompson, Chefredakteur von Reynolds Newspaper gegründete englisch-französische Vereinigung sich gegeben hatte, nämlich Entente cordiale, wörtlich: herzliches Einvernehmen, was andeuten sollte, daß es keinen punktierten Bündnisvertrag darstellte.

Nun hatte zu jener Zeit Frankreich längst sein Bündnis mit Rußland geschlossen. Von dem Augenblicke an, wo England in intimere Beziehung zu Frankreich trat, war infolgedessen damit der Sache nach auch schon dessen Freundschaftsbündnis mit Rußland angezeigt. Das eine Einvernehmen konnte nicht ohne das andere sein. Eines zog das andere mit Notwendigkeit nach sich. 1907 ward denn auch ein ähnliches Abkommen zwischen England und Rußland vereinbart, womit zwischen den drei Großmächten, die Deutschland von Westen, Nordwesten, Osten und Nordosten her umgeben, eine diplomatische Vereinigung geschaffen war, der Tripleentente (deutsch: Einvernehmenzudritt) genannte Freundschaftsbund, der natürlich, wenn er sich feindselig gegen Deutschland kehrte, diesem leicht unbequem werden konnte, den aber nach Lage der Dinge Deutschland doch nur zu fürchten hatte, wenn es selbst

eine aggressive Politik verfolgte. Etwas später erfolgte eine längst angebahnte Verständigimg mit Italien, die indes dessen Bündnis mit Deutschland und Österreich-Ungarn unberührt ließ, wenn sie auch seinen Wert für Italien naturgemäß verminderte. Dies die schreckliche Einkreisung Deutschlands. Sie ist nicht das Werk eines weitausgreifenden, mit teuflischem Geschick gesponnenen Planes, sondern im wesentlichen ein Produkt der Umstände, bei dem es fraglich ist, wer mehr dazu beigetragen hat, ihr Geburtshilfe zu leisten: das Unterhändlertalent Eduards VII. oder das Talent der Staatskunst Wilhelms II., Mißtrauen gegen sich zu erregen. [1]
 

g) Die Staatskunst der gepanzerten Faust

Als nach Abschluß des englisch-französischen Abkommens am 19. April 1904 der damalige englische Staatssekretär des Äußeren, Lord Lansdowne, die Schriftstücke über diese Abmachung dem Haus der Lords vorlegte, bemerkte der Wortführer der liberalen Opposition in der Peerskammer, der radikale Lord Spencer („Bobby Spencer“), er könne nicht umhin, der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß der gleiche Erfolg, der diese Unterhandlungen gekrönt habe, auch die Ausgleichung der mit anderen Ländern obwaltenden Differenzen begleiten möge. Worauf Lord Lansdowne in seiner Antwort folgende Erklärung abgab:

„Ich füge nur noch hinzu, daß ich dem Widerhall zu geben wünsche, was der edle Lord am Schluß seiner Ausführungen gesagt hat, und die Hoffnung ausdrücken, die ich mit ihm hege, daß das in diesem Fall erreichte Abkommen ein nützliches Vorbild abgeben möge für unsere Verhandlungen mit ändern Mächten.“ (Vgl. den damaligen amtlichen Bericht, dem dies und die folgenden Zitate entnommen sind.)

Eine bestimmtere Sprache in diesem Sinne ward im Haus der Gemeinen geführt, wo das Abkommen am 1. Juni 1904 zur Verhandlung kam. Dort erklärte der Regierungsvertreter Earl Percy:

„Das Abkommen wird, so hoffe ich, sich nicht nur als sehr nützlich für diejenigen erweisen, für die unser Einfluß geltend gemacht worden ist, sondern auch ein brauchbares Muster abgeben für die Ausgleichung von anderwärts zwischen uns und rivalisierenden Nationen obwaltenden Differenzen. die in hohem Grade zur Mehrung jener Gefühle von Eifersucht und Mißtrauen beigetragen haben, infolge deren die Ausbreitung des Einflusses des Westens so sehr hintenangehalten worden ist.“

Für die in der Opposition befindlichen Liberalen erwiderte Sir Edward Grey:

„Ich heiße die Vereinbarung willkommen und hoffe, wie dies der edle Lord erklärt hat, daß die Regierung keine Gelegenheit vorübergehen lassen wird, sie als praktisches Muster für andere Fälle zu benutzen, wo dies möglich ist.“

Und Greys Parteigenosse, Augustine Birrel, schloß drei Wochen später, am 20. Juni 1904, in seinem Wahlort Bristol, eine politische Programmrede mit den Worten:

„England muß auf der Bahn, die es durch das Abkommen mit Frankreich beschritten hat. weiterwandeln und Verträge gleicher Art mit stammesverwandten Nationen abschließen.“

Ebenso schrieb das Organ der Regierungspartei, der konservative Standard am 23. Juni 1904:

„Nichts würde der englischen Nation mehr gefallen, als wenn in den politischen Zirkeln Deutschlands sich eine freundliche Stimmung gegenüber England als im Zunehmen begriffen feststellen ließe. Mit dem Volk, als einer Summe von Individuen, ist es niemals zu einer ernsten oder doch nicht zu einer andauernden Feindschaft gekommen.“

Zwei Tage darauf erfolgte der Besuch Eduards VII. in Kiel und ein Austausch von Freundschaftsreden zwischen Wilhelm und dem englischen König. Wie viel oder wie wenig Gewicht man nun auch Monarchenbesuchen und den dabei üblichen Reden beilegen mag, so war doch in diesem Fall der Besuch eine ziemlich deutliche Unterzeichnung der obigen Parlamentsreden. In Hinblick auf ihn hatte der Standard in dem zweiten Artikel noch ausgeführt, daß eine freundliche Verständigung mit Deutschland über koloniale Fragen sehr wohl möglich sei, wenn sie auch nicht schon in Kiel sofort abgeschlossen werden könne.

Warum ist sie aber nicht wenigstens, kann man fragen, in der Folge jenes Besuchs eingetreten? Die Tangerfahrt von 1905 mit der gepanzerten Faust gibt die Antwort darauf. Sie veränderte mit einem Schlage die politische Situation. Nachdem die deutsche Regierung 1904 in Antwort auf eine Interpellation im Reichstag kategorisch erklärt hatte, daß durch das englisch-französische Abkommen über Ägypten und Marokko deutsche Interessen in keiner Weise berührt würden, ward im März 1905 plötzlich jene Fahrt unternommen und mit Reden und Erklärungen ergänzt, die allseitig als eine Aufstachelung des reformfeindlichen Sultans von Marokko gegen das auf Reformen drängende Frankreich aufgefaßt wurden, für das England in der Marokkofrage einzutreten verpflichtet war.

Die Ansprache, die Wilhelm II. an den ihm entgegengesandten Oheim des Sultans hielt, betont wiederholt und demonstrativ, daß er den Sultan als einen „unabhängigen Souverän“ aufsuche, und läuft in die Erklärung aus, er, Wilhelm, wolle mit dem Sultan als „völlig freien Souverän“ sich über die besonderen Mittel verständigen, Deutschlands Interessen in Marokko zu schützen. „Was die Reformen anlangt,“ heißt es dann wörtlich, „die der Sultan zu machen beabsichtigt, so scheint es mir, daß er mit großer Vorsicht vorgehen muß, indem er Rücksicht nimmt auf die religiösen Gefühle der Bevölkerung, damit die öffentliche Ordnung nicht gestört wird“.

Diese mit Sorgfalt vorher ausgearbeitete Rede aus dem Munde des Mannes, der 1898 sich der muselmännischen Welt als ihr Schutzherr präsentiert hatte, konnte nicht anders als ein Drohwort an die Adresse Frankreichs aufgefaßt werden, das durch seine an Marokko angrenzende Kolonie Algier in weit höherem Grade als Deutschland an der Schaffung gesetzlicher Zustände im ersteren Lande, interessiert war, mit dem seine Beziehungen obendrein auf Jahrhunderte zurückgehen. Sie rief denn auch in Frankreich ungeheure Aufregung hervor, und es hat nur wenig gefehlt, daß es darüber zum Krieg kam. Das herausfordernde Auftreten Deutschlands zu jener Zeit ist von Kurt Eisner in seiner 1904 erschienenen Schrift Der Sultan des Weltkrieges (Dresden, Kaden & Co.), auf Grund sorgfältigen Studiums der diplomatischen Akten mit prophetischem Blick für die Folgen gekennzeichnet worden. [2]

Aus seinem Buch ersieht man unter anderm, daß, wenn der Krieg damals vermieden wurde, dies in hohem Grade dem großen Sozialisten Jean Jaurès geschuldet war. Denn Jaurès war es, der, von seiner Partei unterstützt, in den kritischen Tagen sich als der sicherste und stärkste Beistand des auf Erhaltung des Friedens bedachten französischen Ministerpräsidenten Rouvier bewährte und den Rücktritt des Staatssekretärs des Äußern Delcassé erwirkte, der von der Berliner Regierung als Gegenstand ihres besonderen Mißtrauens hingestellt worden war. Aber Jaurès hatte auch in der Humanité geschrieben:

„Unser Land wünscht leidenschaftlich den Frieden. Es würde einen Konflikt nicht leichten Herzens hinnehmen ... Aber diese Klugheit bedeutet nicht Furcht. Wenn Frankreich das Ziel eines schändlichen und ungerechtfertigten Angriffes vdirde, so würde es sich mit allen seinen Lebenskräften gegen ein solches Attentat erheben.“ (Eisner, a. a. O., S. 59.)

Berlin zog sich hinter die Forderung einer internationalen Mächtekonferenz zur Regelung der Marokkofrage zurück, womit das so pomphaft verbürgte Eintreten für die „volle Unabhängigkeit“ Marokkos grundsätzlich schon wieder aufgegeben war, und Frankreich willigte, um den Krieg zu vermeiden, ein. War das ein Erfolg, so wird selbst der blindeste Lobredner der damaligen Berliner Politik den Ausgang der dann in Algeciras abgehaltenen Konferenz nicht als einen solchen hinzustellen wagen. Sie mußte in dem Punkt, auf den es ihr angekommen war, nachgeben und sich mit einigen Zugeständnissen kommerzieller Natur begnügen, die auch ohne das Heraufbeschwören der Kriegsgefahr hätten erzielt werden können. Nur den Vertreter Österreichs fand sie in Algeciras an ihrer Seite, sonst hatte sie sich mit ihrer Unterstützung der reaktionären Tendenzen des Sultans Abdul Asis gründlich selbst „eingekreist“.

Es dauerte eine gute Weile, bis die üble Nachwirkung dieser Aktion sich einigermaßen legte. Der Eindruck, daß es sich um einen deutscherseits vom Zaun gebrochenen Streit handelte, war im Ausland ziemlich allgemein, und in Frankreich war die Anschauung weit verbreitet, Deutschland habe den Umstand, daß Rußland durch die im Krieg mit Japan erlittene Niederlage für eine Weile entkräftet war, zu einem Krieg mit Frankreich ausnutzen wollen. „Bernstein, wir haben 25 Jahre vergebens für den Frieden gearbeitet,“ sagte der damals in Berlin lebende Mitbegründer des seinerzeit am entschiedensten international gesinnten marxistischen Flügels der französischen Sozialisten, Duc Quercy, niedergeschlagen zum Schreiber dieses, und Jaurès, um die möglichst starke Sicherung des Friedens bemüht, betrieb auf dem Internationalen Sozialistenkongreß, der 1907 in Stuttgart zusammentrat, die Annahme einer Resolution, welche die Sozialisten aller Länder verpflichten sollte, die Kriegserklärung mit dem Generalstreik zu beantworten.

Grundfalsch ist es, mit Veit Valentin zu behaupten, daß Deutschlands schroffes Auftreten von 1905 den Erfolg gehabt habe, „Frankreich und England auseinanderzutreiben“. Was damals in England auseinanderbrach, war die konservative und unionistische Regierung, aber nicht wegen außenpolitischer Fragen, sondern im Streit um die Handelspolitik (Chamberlains Reichszollverband-Plan). Sie trat Ende 1905 zurück und wurde durch das stark pazifistisch gesinnte radikale Kabinett Campbell Bannermann-Asquith-Grey ersetzt, das allerdings für eine kriegerische Unterstützung Frankreichs nicht zu haben gewesen wäre, wenn dieses durch schroffes Auftreten Deutschland einen Kriegsvorwand geliefert hätte. Wie aber Grey in seiner großen Rede vom 3. August 1914 dem Haus der Gemeinen mitgeteilt hat, hat er jedoch damals dem Botschafter der französischen Regierung erklärt und dies gleichzeitig auch die deutsche Regierung wissen lassen, daß, wenn Frankreich aus Anlaß des mit England 1904 geschlossenen Vertrags in Sachen Marokkos ein Krieg aufgezwungen werden sollte, nach seiner Ansicht die öffentliche Meinung Englands „zur materiellen Unterstützung Frankreichs sich zusammenfinden würde.“

Außerdem machte Grey im Einverständnis mit seinen obengenannten Kollegen und dem Minister Haldane, der damals das Kriegsamt unter sich hatte, der französischen Regierung das weitere Zugeständnis, daß die Heeres- und Marinesachverständigen beider Länder von Zeit zu Zeit sollten zusammenkommen dürfen, um sich über ihre Anordnungen zu unterhalten. So wenig waren die Kabinette auseinandergetrieben. Zwar hieß es in der Abmachung noch, daß nichts, was zwischen diesen Sachverständigen vorgehen sollte, die Regierungen selbst in irgendeiner Weise binden dürfe. Aber diese Klausel hatte wohl einen Wert für die Gewissen der Vereinbarer der Abmachung, änderte aber nichts daran, daß das Endresultat der Tangerfahrt das war, die beiden Länder in ein festeres Verhältnis zueinander zu bringen, als vorher zwischen ihnen bestanden hatte.

Bei alledem blieb die auswärtige Politik des Kabinetts Campbell Bannermann der Absicht nach entschieden pazifistisch. Es gab dieser Tendenz dadurch greifbaren Ausdruck, daß es in seinem ersten Budget die Ausgaben für die Flotte um über 40 Millionen Mark herabsetzte. Die deutsche Regierung ließ sich jedoch nicht veranlassen, ihrerseits von einer fortgesetzten Steigerung des Flottenbudgets abzusehen. Sie verhinderte vielmehr durch ihren Einspruch, daß auf dem Haager Friedenskongreß von 1907 die Frage der Einschränkung der Rüstungen verhandelt wurde, und kam schon im Jahr darauf mit einem neuen Flottenbauplan heraus. [3] Sie unterstützte 1908 Österreich, als es den politischen Umschwung in der Türkei zum Anlaß nahm, Bosnien zu annektieren, und damit die Balkanfrage aufs neue ins Rollen brachte. Andererseits machte sie Frankreich mit Bezug auf dessen Sonderstellung in Marokko Zugeständnisse, und es kommt 1909 zu einem deutsch-französischen Abkommen über die Auslegung strittiger Punkte des Vertrags von Algeciras, in dem Deutschland ausdrücklich anerkennt. daß „die besonderen politischen Interessen Frankreichs in Marokko dort auch mit der Festigung der Ordnung und Festigung des Friedens im Innern verbunden sind.“ Bei den Besuchen Eduards VII. in Deutschland kommt ein immer stärkerer Wunsch nach Ausgleichung von Differenzpunkten zum Ausdruck, gegenseitige Besuche Wilhelms II. und Nikolaus II. geben 1910 zu Kundgebungen Anlaß, wonach die Beziehungen der beiden Kaiserreiche Rußland und Deutschland nichts zu wünschen übrig hissen. Vom Tripolis-Abenteuer Italiens abgesehen, bot die Welt einen so friedlichen Anblick wie seit langem nicht.

Da erfolgte im Sommer 1911 plötzlich der „Panthersprung“, die Entsendung des deutschen Kriegsschiffes Panther nach Agadir an der Westküste Marokkos, der Streit um Frankreichs Rechtsstellung in diesem Land wird von neuem aufgerollt und gestaltet sich zum Streit um die Forderung Deutschlands nach einer für den Verzicht auf Marokko zu gewährenden Entschädigung. Nachdem er in Deutschland einen Entrüstungssturm gegen England herbeigeführt hat wegen einer Rede Lloyd Georges, in der dieser erklärt hatte, England könne auf sein Recht, in der Marokkofrage gehört zu werden, nicht verzichten, wird er nach langen Unterhandlungen, die zweimal ins Stocken gerieten und durch einen Krieg beendet zu werden drohten, im Herbst 1911 muhsam geschlichtet. Auf der einen Seite wird er in seiner akuten Gestalt durch das französisch-deutsche Abkommen vom November 1911 behoben, durch das Deutschland seine Entschädigung in Gestalt des später Neukamerun bezeichneten Teils des französischen Kongo erhält, auf der andern erfolgt Anfang 1912 nach vorhergegangenen unverbindlichen Anknüpfungsversuchen die Reise des englischen Staatsministers Haldane nach Berlin, die den Zweck hat, durch offene gegenseitige Aussprache Behebung der Streitigkeiten zwischen England und Deutschland zu erzielen, die also jedenfalls nicht Einkreisungspolitik hieß. Infolge welcher Forderungen Deutschlands ein voller Erfolg nicht erzielt werden konnte, ist bekannt. England sollte sich verpflichten, so vorlangte man in Berlin, neutral zu bleiben, falls Deutschland ein Krieg „aufgezwungen“ werden würde. Welcher Dehnbarkeit der Begriff „aufgezwungen werden“ fähig ist, braucht heute nicht erst des breiteren entwickelt zu werden. Es hat noch keine Macht einen Krieg erklärt, ohne ihn damit zu begründen, daß sie zu ihm „gezwungen“ worden sei. Der Verdacht, daß die Forderung auf eine Fortsetzung der Politik der gepanzerten Faust hinauslaufe, wird begreiflich, wenn man berücksichtigt, daß sie gestellt wurde, ehe noch ein Jahr seit dem Panthersprung nach Agadir verstrichen war.
 

h) Die kolonialpolitische Rückwirkung des Zustandekommens der Triple-Entente

Unter zwei Gesichtspunkten konnte die „Einkreisung“ Deutschlands diesem Grund zum Mißvergnügen geben: als Gefährdung oder direkte Schädigung seiner kolonialpolitischen Entwicklung und als Gefährdung oder direkte Schädigung seines Handels- und Wirtschaftslebens im allgemeinen. Was das erstere betrifft, so wird von den deutschen Imperialisten erklärt und von einigen Sozialdemokraten wiederholt, die Triple-Entente habe sich in der Praxis als „Länderverteilungssyndikat“ betätigt, das Riesengebiete unter sich verteilt und Deutschland das leere Nachsehen gelassen habe. Nimmt man aber die Liste der Gebiete, die in solcher Weise verteilt worden sein sollen, in näheren Augenschein, so wird man finden, daß es sich da entweder um Länder oder Provinzen handelt, die, wie Ägypten, Marokko, Nordpersien, schon vor dem Zustandekommen der Triple-Entente in irgendeiner Form dem Interessengebiet der diese bildenden Mächte angehörten, oder aber um Gebiete (Südpersien, Arabien), die selbst 1914 noch nicht in ein festes Verhältnis zu einer der Ententemächte getreten, noch keiner von ihnen angegliedert waren. Auch schrumpfen die Zahlen über die Größe der Gebiete sehr zusammen, wenn man unbewohnbare Wüsten und Gebirgszüge in Abzug bringt. Arabien z.B. bedeckt 3 Millionen Quadratkilometer, aber der weitaus größte Teil davon – weit mehr als drei Viertel – ist unwirtliches Gebirgs- oder Wüstenland. Ferner genoß Deutschland fast überall die Rechte der offenen Tür, in Marokko außerdem noch Beteiligung an Sonderrechten Frankreichs, und schließlich war ihm, wie schon bemerkt, durch den Marokkovertrag von 1911 das später Neukamerun genannte Stück des französischen Kongo im Umfange von 275.000 Quadratkilometer zugefallen, waren ihm ferner durch die von Rohrbach erwähnten Verträge mit England, die schon Ende 1913 unterzeichnet waren und nur noch der Veröffentlichung harrten, als der Krieg ansbrach, Förderung seiner Pläne auf Ausdehnung des Schutzgebiets in Südwestafrika nach Norden und Nordosten hin sowie der mit dem Bau der Bagdadbahn verbundenen Unternehmungen zugesichert worden, die der kolonialen Betätigung einen sehr weiten Spielraum eröffneten. Die Bekanntgabe dieser Abmachungen ist dem deutschen Volk damals vorenthalten worden. [4] Tatsache ist, daß in bezug auf koloniale Ausdehnung Deutschland unmittelbar vor Ausbruch des Krieges in günstigerer Lage sich befand als zu irgendeiner früheren Zeit. Wenn also wirklich die koloniale Ausdehnung für Deutschlands wirtschaftliche Entfaltung ein Lebensbedürfnis war, so lag zu keiner Zeit weniger Notwendigkeit vor, sich diese Entfaltung durch einen Krieg zu sichern, als im Sommer 1914.
 

i) Die Einkreisung und Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung

Wie steht es aber mit der Rückwirkung der „Einkreisung“ auf Deutschlands Wirtschaftsentwicklung? Hat diese „Einkreisung“ und die behauptete Expansion der Einkreisungsmächte ein Zurückbleiben der Volkswirtschaft Deutschlands gegenüber der Volkswirtschaft jener zur Folge gehabt? Man weiß, daß das Umgekehrte der Fall ist.

In den Jahren seit der sogenannten Einkreisung haben weder England noch Frankreich noch Rußland eine Steigerung ihrer Volkswirtschaft und Zunahme ihres Nationalreichtums erfahren, die günstigere Zahlen aufweisen als die gleichzeitige deutsche Wirtschafts- und Vermögensentwicklung. Was insbesondere die Warenausfuhr der genannten Länder anbetrifft, so ergeben die Zusammenstellungen des Statistischen Jahrbuchs für das Deutsche Reich darüber folgendes Bild. Es betrug der Gesamtwert des Eigenhandels in der Ausfuhr in Millionen Mark von:

 

  

1904

  

1912

  

1913

England

6.134,1

9.939,3

10.719,4

Frankreich

3.560,8

5.370,1

  5.500,1

Rußland

2.173,8

3.280,6

Deutschland

5.222,8

8.956,8

10.097,8

Während der Wert von Rußlands Ausfuhr um rund 50, Frankreichs um rund 56, Englands, d.h. Großbritanniens, um rund 76 vom Hundert zunahm, stieg in derselben Zeit der Wert der Ausfuhr Deutschlands um über 90 vom Hundert. Nicht anders ist das Bild der Produktionsstatistik. Und wenn wir nach der Vermögensbildung als für die heutige Gesellschaft entscheidenden Anzeiger des Nationalwohlstandes fragen, so erzählen uns gerade die autorisiertesten Vertreter der deutschen Volkswirtschaft, Praktiker wie Theoretiker, daß Deutschland dabei war, alle seine europäischen Rivalen zu überflügeln. Es war kein anderer als der spätere Schatzkanzler des Reiches, Herr Professor Helfferich, der am Vorabend des Krieges das Wort vom „reichen Deutschland“ prägte, der ein ganzes Buch schrieb, um den Deutschen zu zeigen, wie heidenmäßig viel Geld sie haben, wie üppig es auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens um Deutschland stehe, und daß die Deutschen infolgedessen — — — —

Herr Helfferich hat damals das Wort nicht ausgesprochen, aber andere haben die Folgerung gezogen. Nämlich die, daß Deutschland reich genug sei, um sich „zur Abwechslung“ einen Krieg leisten zu können. Und in der Tat, nicht Not oder Armut Deutschlands oder auch nur Zurückbleiben seines Wohlstands im Verhältnis zu dem anderer Länder war es, was diejenigen Elemente nicht ruhen ließ, welche in Deutschland auf den Krieg hin arbeiteten, sondern im Gegenteil jenes Gefühl des Übermutes, das den Protzen auf den vollen Geldsack schlagen läßt, wenn er für wahnsinnige Zwecke Unsummen mit den Worten wegwirft: „Meine Mittel erlauben mir das.“ So berief sich General von Bernhardi in seinem Buch Deutschland und der nächste Krieg, das so viel dazu beigetragen hat, Stimmung für den Krieg zu machen, auf einen Vortrag des Nationalökonomen Professor Dade, worin dieser nachwies, daß, wie Deutsehlands Industrie und Handel, so auch sein Vermögenszuwachs unausgesetzt aufsteige. Und wie sehr letzteres stimmt, erzählt Herr Helfferich am Vorabend des Krieges:

„Das deutsche Volkseinkommen – Herr Helfferich meint das Nationaleinkommen, wovon das Volkseinkommen nur ein Teil ist – beträgt heute rund 43 Milliarden jährlich, gegen 23-25 Milliarden Mark um das Jahr 1895. 10 Milliarden Mark wachsen als Mehrung dem Volksvermögen – soll heißen Nationalreichtum – jährlich zu, gegen etwa 4½ bis 5 Milliarden vor 15 Jahren. Das deutsche Volksvermögen – wieder falscher Ausdruck für Nationalreichtum – beträgt heute mehr als 300 Milliarden Mark, gegen rund 200 Milliarden Mark um die Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts.“

So sah es wirtschaftlich um das Deutsche Reich aus, als man Österreich-Ungarn erlaubte, durch Einmarsch in Serbien und Ablehnung jeder internationalen Schlichtung oder Vermittlung seines Streits mit dem von ihm wirklich eingeschnürten serbischen Kleinstaat den Weltkrieg heraufzubeschwören, den Deutschlands Kriegserklärung an Rußland und Frankreich unabwendbar machte: ein gewaltiger Aufschwung der Industrie, ein blühender Außenhandel, letzterer mit keinem Reich stärker als mit dem britischen Weltreich, mit dem allein Deutschland im Jahre 1913 Güter im Wert von über 2,3 Milliarden Mark damaliger Valuta austauschte, ein fabelhaftes Anschwellen des Nationalreichtums! Unter diesen Umständen dem deutschen Volk erzählen, daß Deutschland sich gegen „politische Einkreisung“ und „wirtschaftliche Einschnürung“ habe zur Wehr setzen müssen, heißt es in verwerflichster Weise irreführen.


Fußnoten

1. Die Briefe Wilhelms II. an Nikolaus II., deren Inhalt letzterer schwerlich in seinem Busen bewahrt hat, waren nur zu geeignet, dies Mißtrauen zu nähren.

2. Daß Eisner der damaligen deutschen Politik nicht unrecht getan hat, ist später aus offiziösem Munde eingestanden worden. Klassisches Zeugnis hat z.B. dafür im Augustheft 1916 der Preußischen Jahrbücher der mit dem Auswärtigen Amt damals in enger Beziehung stehende Geschichtsprofessor Veit Valentin in einer Polemik mit dem Grafen Reventlow abgelegt. Gegen diesen, der in der neuen Auflage seines vorerwähnten Buches der deutschen Politik es zum Vorwurf machte, 1905 zu friedliebend gewesen zu sein, schreibt Valentin:

„Weiß Graf Reventlow nicht, daß unsere Leitung im Sommer 1905 Drohungen an Frankreichs Adresse hat gelangen lassen, die von der ‚unbedingten Friedensliebe‘ sehr weit entfernt waren, und deren Erfolg es gewesen ist, Frankreich und England auseinander zu treiben? Ebensowenig kommt der bedeutende taktische Erfolg Bülows, die Entlassung Delcassés, zu einer sachgemäßen Darstellung.“

Selbstverständlich konnten die Erfolge, die Herr Valentin da der deutschen Politik zuschreibt, nur Tageserfolge sein, während die verbitternde Wirkung ihres Vorgehens auf die Geister noch lange vorhielt. Übrigens hatte es mit jenen Ei folgen, wie oben ersichtlich, auch sonst seine Bewandtnis.

3. Er bestand darin, daß die Lebensdauer der Linienschiffe von 25 auf 20 Jahre herabgesetzt wurde, was den Bau von 5 weiteren Linienschiffen für die nächsten Jahre notwendig machte.

4. Der Erz-Nationalist Graf Reventlow hat in der dritten Auflage seines Buches Deutschlands auswärtige Politik 1888 bis 1913 behauptet, die britische Regierung habe tückischerweise die Geheimhaltung des Vertrages hinsichtlich der etwaigen Neubildung der portugiesischen Kolonien ausbedungen, um Deutschland hinterher einen Streich spielen zu können. Aus der verdienstvollen Denkschrift des Fürsten Lichnowski weiß man jetzt, daß das nicht wahr ist, daß im Gegenteil die englische Regierung auf die Bekanntgabe der Abkommen drängte und Berlin dagegen sie verschleppte. Schon im Berliner Tageblatt vom 13. Juni 1916 schrieb dessen Chefredakteur Theodor Wolff:

„Auch diese Angaben des nationalistischen Historikers stimmen nicht. Der deutsch-englische Vertrag wurde Ende 1913 fertiggestellt und im Januar 1914 paraphiert (unterzeichnet). Sir Edward Grey wünschte die Veröffentlichung und schlug auch die gleichzeitige Bekanntgabe des älteren, im Jahre 1898 abgeschlossenen Afrikavertrages vor. Aus Gründen, die man später vielleicht mitteilen wird, war die Berliner Diplomatie der Veröffentlichung abgeneigt.“

Was für Gründe das sind, deren Mitteilung der gut unterrichtete Leiter des liberalen Blattes damals einer späteren Zeit vorbehielt, kann man sich unschwer vorstellen. Jedenfalls hat die Nichtveröffentlichung des besagten Abkommens und des gleichzeitig mit ihm zustande gekommenen Einvernehmens hinsichtlich der Bagdadbahn viel dazu beigetragen, die Ausbeutung der Legende von der Einkreisung im Volk zu erleichtern.


Zuletzt aktualisiert am 31.07.2010