Eduard Bernstein

Die Wahrheit über
die Einkreisung Deutschlands


III. Zwei Zeugnisse


k) Fürst Bülow über die Einkreisung

Einer nach dem ändern haben Staatsmänner und Heerführer Wilhelms II. zur Feder gegriffen und Bücher geschrieben, die entweder nur die politische Vorgeschichte und Geschichte des Krieges behandeln oder eine Verbindung von politischer und militärischer Kriegsgeschichte darbieten. In einer Hinsicht sind die Verfasser alle auf den gleichen Ton gestimmt. Das kaiserliche Deutschland erklären sie sämtlich für wider den Willen seiner Regierung in den Krieg getrieben. Durch die Bank erklären sie die Triple-Entente für schuldig am Krieg und weichen nur in der Verteilung der Schuld an die Ententemächte von einander ab. Daneben aber gibt es bei ihnen, wie man weiß, allerhand sachliche und persönliche Differenzen, die sich bei einigen in teils offener und teils verhüllter Polemik Luft machen und sie Personen und Vorgänge sehr verschieden abschätzen lassen. Hält man sie gegeneinander, so kommt beim Vergleichen manchmal mehr zutage, als in der Absicht der Verfasser lag, weil der eine unbewußt den ändern ergänzt. Das trifft auch auf die hier behandelten Fragen zu. Als Beispiel mögen zwei Stücke dienen.

In seinem 1916 erschienenen Buch Deutsche Politik beschäftigt sich Fürst Bülow auch mit der Einkreisungsfrage. Da er als Diplomat einen Ruf zu verlieren hat, behandelt er sie weniger plump, als es das nationalistische Zeitungsgeschreibe tat und tut. Nach ihm, der es doch besser wissen muß als jene, gab es nur eine gar nicht sehr lange „Ära“ einer „Einkreisung“ Deutschlands durch England, und auch für sie braucht er vorsichtig den Ausdruck „sogenannte englische Einkreisungspolitik“. (a. a. O., S. 58) Von Eduard VII., der als ihr Betreiber gilt, sagt er: „Seine Politik richtete sich nicht so sehr direkt gegen deutsche Interessen, als daß sie versuchte, durch Verschiebung der europäischen Machtverhältnisse Deutschland mattzusetzen.“ Das bestätigt mit anderen Worten unsere obige Bemerkung, daß es sich um eine Sicherung gegen etwaige Angriffsabsichten Deutschlands handelte. Und diese Einkreisung hat nach Bülow schon 1908 sich als illusorisch erwiesen, als Österreich-Ungarn Bosnien annektierte. Da habe Deutschlands Erklärung, in Nibelungentreue zu Österreich-Ungarn zu stehen, genügt, trotz England eine Aktion der Triple-Entente gegen diese Durchlöcherung des Berliner Vertrages nicht Zustandekommen zu lassen. Vor dem „in die Wagschale geworfenen deutschen Schwert“ sei die Entente zurückgewichen. Triumphierend schreibt Bülow:

„Die Stunde war da. die zeigen mußte, ob Deutschland durch die Einkreisungspolitik wirklich mattgesetzt war, ob die in den Kreis der antideutschen Politik gezogenen Mächte es mit ihrem europäischen Lebensinteresse vereinbar finden würden. feindlich gegen das Deutsche Reich und seine Verbündeten aufzutreten oder nicht. Der Verlauf der bosnischen Krise wurde tatsächlich das Ende der Einkreisungspolitik Eduards VII. Keine Macht zeigte. Lust, die eigenen europäischen Interessen unterzuordnen und die eigenen Knochen für andere zu Markte zu tragen. Durch die bosnische Annexionskrisis wurde weder der Krieg entfesselt, noch auch nur unser Verhältnis zu Rußland ernstlich geschädigt. Die sehr überschätzte Konstellation von Algeciras zerbarst an den handfesten Fragen der Kontinentalpolitik. Italien blieb an der Seite seiner Verbündeten, Frankreich verhielt sich abwartend und nicht unfreundlich für Deutschland, und Kaiser Nikolaus entschied sich für einen gütlichen Ausgleich der bestehenden Schwierigkeiten. So erwies sich damals die kunstvolle Einkreisung und Isolierung Deutschlands, während einiger Zeit das Schreckbild ängstlicher Gemüter, als ein diplomatisches Blendwerk, dem die realpolitischen Voraussetzungen fehlten.“ — — — — — — — — — —

„Über den Eindruck, den unser Erfolg in St. Petersburg hinterlassen hatte, schrieb Baron Greindl, man empfinde dort, daß die Triple-Entente Rußland keine genügende Stütze biete, um auf mindestens normale Beziehungen zu Deutschland verzichten zu können. Die Erfahrung habe Rußland die Wirkungslosigkeit der von König Eduard gebildeten Koalition beim erstenmal gezeigt, wo diese auf die Probe gestellt worden wäre. Der belgische Geschäftsträger in Paris berichtete um dieselbe Zeit, in Frankreich sei von dem frenetischen Enthusiasmus, mit dem dort erst die russische Allianz begrüßt worden wäre, nicht mehr viel zu spüren. Der jener Isolierungspolitik zugrunde liegende Rechenfehler war der gewesen, daß sie die europäische Großmachtstellung des Deutschen Reiches nicht mit ihrem vollen Wert als Faktor in die politische Rechnung eingestellt hatte.“ — —

“Der Dreibund war eine Macht, gegen die sich um ferner liegender Interessen willen selbst von einer geschickten Diplomatie keine Macht vorschieben ließ, gegen die jede Macht den Kampf nur um letzte Lebensfragen wagen konnte. Last not least waren die Festlandmächte vielfach durch Interessen verbunden, die sich der deutsch-englischen Rivalität auf der See und im Welthandel nicht unterordnen ließen. Nur mit England stand Deutschland in weltpolitischer Verrechnung. Bei allen anderen europäischen Mächten kam die kontinentalpolitische Gegenrechnung für die Gestaltung ihrer Beziehungen zum Deutschen Reich entscheidend in Betracht. Wie recht die Mächte des Festlandes damals hatten, neben und vor allen Interessengemeinschaften mit Deutschland den Respekt vor dem in Kraft und Kräften starrenden deutschen Nachbarn in die große politische Berechnung zu stellen, das haben die vergangenen Kriegsmonate bewiesen, in denen die englische Freundschaft die Furchtbarkeit der deutschen Feindschaft nicht zu beschwören, und von denen, die auf diese Freundschaft gebaut hatten, das Verderben nicht abzuwenden vermochte.“

Es ist nicht nötig, über diesen Anfang 1916 ausgestoßenen Jubelruf, soweit der Weltkrieg in Frage kommt, Worte zu verlieren. Er legt nur Zeugnis davon ab, wie sehr auch die größte Weltgewandtheit den Staatsmann nicht vor groben Rechenfehlern schützt, wenn er mit den in der Seele der Völker lebenden Empfindungen leichtes Spiel treiben zu können glaubt. Tatsächlich wurzelte der Erfolg von 1908, auf den Bülow so stolz ist, in der Abneigung aller Völker gegen den Krieg. Aber wenn die Staatsmänner der Entente es damals auf einen solchen nicht ankommen ließen, so geht daraus sicherlich noch nicht hervor, daß damit das drohende Gebahren des kaiserlichen Deutschland aus ihrem Gedächtnis ausgelöscht war. Deutschland hatte die „Einkreisung“ nicht zu fürchten, solange es nicht selbst den Krieg erklärte. Sein wiederholtes Drohen hatte aber die Wirkung, daß, als es mit Krieg vorging, es bald fast ganz Europa gegen sich hatte.

1908 ging, wie weiter oben schon festgestellt ward, die gereizte Stimmung ziemlich schnell vorüber. 1909 kam Eduard VII. wieder zum Besuch nach Berlin. Über das Ergebnis der damaligen Besprechungen lesen wir bei Bülow:

„Mit diesem letzten Besuch des Königs Eduard in Berlin fiel ein freundliches und für die Zukunft gute Hoffnungen erweckendes Licht nicht nur auf das Verhältnis des Königs zu Deutschland, sondern auch auf die Beziehungen zwischen zwei großen Völkern, die allen Grund hatten, sich gegenseitig zu achten und friedlich in Friedensarbeiten miteinander zu wetteifern. Der Versuch, den deutsch-englischen Gegensatz zu einem System der gesamten internationalen Politik zu erweitern, ist bis 1914 nicht wiederholt worden.“

Aber zwischen 1909 und 1914 liegt 1911, das Jahr des Panthersprungs nach Agadir. Er erfolgte, als Bülow nicht mehr im Amt war. Über ihn schweigt sich dieser denn auch weidlich aus. Hören wir daher einen Mann der Aktion, den Flottenerbauer Tirpitz.
 

l) Tirpitz über den Panthersprung nach Agadir

Tirpitz zeigt sich in seinem 1919 erschienenen Buch Erinnerungen als ein typischer Vertreter jener Auffassung, für die ein wahrhafter Friede zwischen Deutschland und England nur dadurch zu erzielen war, daß ersteres sich in die Lage versetzte, dem letzteren jederzeit die Pistole auf die Brust setzen zu können. Andernfalls würde England in seiner Mißgunst die erste Gelegenheit ergreifen, Deutschlands ihm unbequemen Handel zu vernichten. Daß England noch mit mehr Konkurrenten zu tun hatte, als mit Deutschland, und mit ihnen bisher ohne Wettrüsten zur See auskam, stört diese Auffassung nicht. Noch kennt oder anerkennt sie eine Entwicklung der Völkerbeziehungen in der Richtung zunehmender Erkenntnis der Verbundenheit der Interessen der Kulturmenschheit und Durchführung auf ihr beruhenden internationalen Rechts. Mit nur geringen Änderungen ist sie eine Auffrischung der politischen Auffassung, wie sie der merkantilistischen Denkweise des 17. und 18. Jahrhunderts entsprach. Für die Demokratie und den Pazifismus unserer Zeit hat sie nur ein geringschätziges Achselzucken.

Nicht Anwandlungen dieser Art sind es also, die Tirpitz am Panthersprung scharfe Kritik üben lassen. Er schreibt im 15. Kapitel seines Buches:

„Die einzige wirkliche Krisis der deutsch-englischen Beziehungen zwischen 1904 und 1914 trat im Sommer 1911 ein infolge der Art, wie die politische Reichsleitung versuchte, den zwischen uns und den Franzosen schwebenden Marokkostreit zu liquidieren. Der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes v. Kiderlen-Wächter, dem, wie so vielen deutschen Diplomaten, das Organ gerade für England abging, hat zwar nicht durch Nachlaufen, aber durch saloppe Geschäftsbehandlung Schaden gestiftet. Auf seine Anregung entsandte am 1. Juli 1911 der Reichskanzler das Kanonenboot Panther nach der marokkanischen Hafenstadt Agadir und ließ die britische Regierung, welche nach dem Zweck fragte, mehrere Wochen lang ohne Antwort und im unklaren. Die Folge war, daß am 21. Juli Lloyd George eine im englischen Kabinett festgelegte Rede ablas, worin er Deutschland warnte, es würde im Fall einer Herausforderung die britische Macht an Frankreichs Seite finden.“

Hier wird kühl eingestanden, was seinerzeit dem deutschen Volk vorenthalten ward, nämlich daß die von Lloyd George verlesene Rede dadurch verursacht worden war, daß die deutsche Regierung wiederholte Anfragen der englischen Regierung nach dem Zweck der Demonstration einfach unbeantwortet gelassen hatte. Sie war ein Protest gegen eine Handlungsweise, die nur als eine beleidigende Nichtachtung international anerkannter Rechte Englands aufgefaßt werden konnte. Die an die Adresse Berlins gerichtete Rede lautete denn auch:

„Wenn man zugäbe, daß Großbritannien so behandelt würde, als ob es im Rate der Nationen nicht mitzählte, dann, das sage ich mit Nachdruck, dann wäre der Friede um diesen Preis eine unerträgliche Demütigung für eine große Nation wie die unsrige.“

Obwohl in der Rede Deutschland absichtlich nicht genannt war, der Rat also als eine allgemeine Sentenz aufgefaßt werden konnte, ward in Deutschland ob ihrer ein Entrüstungssturm ins Werk gesetzt, der nicht ärger hätte sein können, wenn der Nation die größte Beleidigung angetan worden wäre. „Unverschämt“ war noch das geringste Beiwort, das in bezug auf Lloyd George gebraucht wurde. Allerdings wußte von hundert Leuten noch nicht einer, was Lloyd George eigentlich nun gesagt hatte. „Diese Rede Lloyd Georges!“ rief in einem Gespräch mit mir ein freisinniger Abgeordneter im Ton höchster Entrüstung aus, wobei er die Hände nach oben streckte. Als ich ihn aber fragte, was Schreckliches Lloyd George denn gesagt habe, wußte er nichts zu antworten. Irgendwo war die Parole „Entrüstung“ ausgegeben worden, und einer überbot den ändern im Entrüstetsein. Während aber bei uns die aufgepeitschte Wut alsdann dadurch gestillt wurde, daß man verbreitete, Englands Minister des Auswärtigen sei nach einer Abkanzlung durch den deutschen Botschafter zu Kreuze gekrochen, war tatsächlich das Umgekehrte geschehen. Berlin hatte sich in der Notwendigkeit gesehen, um Entschuldigung zu bitten. Von einem der namhaftesten und wegen seiner politischen Unabhängigkeit ganz besonders geschätzten englischen Gesinnungsgenossen, nämlich J. Ramsay Macdonald, darüber unterrichtet, habe ich es damals in der Schrift Die englische Gefahr und das deutsche Volk festgestellt (Berlin 1911, Vorwärts – Verlag, S. 26-27). Jetzt kann es der von seiner großen Presse belogene deutsche Michel bei Tirpitz erfahren. Dieser schreibt weiterhin:

„Die gröbste Fehlrechnung aber beging die Reichsleitung darin, daß sie sich in den ersten Juliwochen über ihre Absichten in Dunkel hüllte. Kiderlen hat nachträglich versichert, daß der Kanzler niemals daran gedacht habe, marokkanisches Gebiet zu fordern. Nach Lloyd Georges Drohrede aber sah es so aus, als ob er nur vor dem erhobenen Schwert Englands zurückgewichen wäre. Unser Ansehen erlitt in der ganzen Welt einen Stoß, und auch die deutsche öffentliche Meinung stand unter dem Eindruck der Schlappe. ‚England stopped Germany‘, war das Schlagwort der Weltpresse.“

Was Tirpitz hier „die deutsche öffentliche Meinung“ nennt, war die Meinung der Eingeweihten. Dem Volk war es anders hingestellt worden. Noch am 18. November 1911 schrieb Matthias Erzberger, der damals sich des besonderen Vertrauens des Tirpitz erfreute, im Tag, England habe von Deutschland „die allein entsprechende Antwort“ erhalten und die deutsche Diplomatie dadurch „einen nicht zu geringen Erfolg“ erzielt, so daß das Foreign Office sich von da ab „nicht mehr in amtlicher Form“ eingemischt habe.

Ob Erzberger zu den Eingeweihten gehörte oder auch einer der Eingeseiften war, mag dahingestellt bleiben. Von Tirpitz erfährt das Volk aber jetzt, welches Spiel unter dem Kaiserreich mit seiner Leichtgläubigkeit getrieben wurde.


Zuletzt aktualisiert am 31.07.2010