Eduard Bernstein

Die deutsche Revolution




XIII. Die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg


Ein anderes Schicksal als ihren Aufstandsgenossen wurde Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zuteil. Sie konnten sich nicht entschließen zu fliehen, im Angesicht der gegen sie ergangenen Verhaftbefehle mieden säe jedoch gleichfalls ihre Wohnungen. Als aber in der Presse das Gerücht auftauchte, daß sie an die holländische Grenze geflohen seien, schrieb Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 in der Roten Fahne in einem Artikel, der die spartakistische Bewegung als nicht zu besiegen hinstellt:

„O, gemach! Wir sind nicht geflohen, wir sind nicht geschlagen. Und wenn sie uns in Bande werfen – wir sind da und wir bleiben da! Und der Sieg wird unser sein. Denn Spartakus – das heißt Feuer und Geist, das heißt Seele und Herz, das heißt Wille und Tat der Revolution des Proletariats. Und Spartakus – das heißt alle Not und Glückssehnsucht, alle Kampfentschlossenheit des klassenbewußten Proletariats. Denn Spartakus – das heißt Sozialismus und Weltrevolution. Noch ist der Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse nicht beendet – aber der Tag der Erlösung naht.“

In der darauf folgenden Nacht weilten er und Rosa Luxemburg nicht mehr unter den Lebenden. Am Abend des 15. Januar waren zuerst er und etwas später Rosa Luxemburg im Vorort Wilmersdorf bei dem ihnen befreundeten Ehepaar Markussohn von Mannschaften der Wilmersdorfer Bürgerwehr verhaftet und dem im Edenhotel am Kurfürstendamm einlogierten Stab der Gardeschützen-Kavalleriedivision Abteilung Lüttwitz eingeliefert worden, wo man sie einem kurzen Verhör unterzog und sie dann unter militärischer Eskorte einzeln in das Untersuchungsgefängnis Moabit überführen zu lassen beschloß. Für jeden von Beiden ward jedoch der Transport zur Todesfahrt. Karl Liebknecht erhielt, als er Abends aus dem Hotel heraustrat und das bereit gehaltene Automobil besteigen wollte, vom Jäger Otto Runge, der vor dem Hotel Posten stand, mit dem Gewehrkolben zwei oder drei so wuchtige Schläge über den Kopf, daß er stark blutete und eine Weile fast die Kräfte verlor. Etliche Minuten später ward er veranlaßt, das Automobil, das den Weg durch den Tiergarten genommen und angeblich eine Panne erhalten hatte, vorübergehend zu verlassen, um eine kurze Strecke zu Fuß zu gehen, und soll nun versucht haben ins Dickicht zu entfliehen. Als er auf das Halt! der Militärs die Flucht nicht unterbrach, geht der offizielle Bericht weiter, feuerten diese nach militärischem Brauch auf ihn, und dann sei er von deren Schüssen durchbohrt tot niedergefallen. Seine Leiche ward auf Befehl des die Eskorte führenden Kapitänleutnants Pflugk-Hartung in die Unfallstation am Zoologischen Garten gebracht und als die eines Unbekannten eingeliefert. Letzteres begründet Pflugk-Hartung später vor Gericht damit, er habe vermeiden wollen, daß „die Sache gleich bekannt und aufgebauscht werde.“ Seiner vorgesetzten Behörde hat er jedoch den Vorfall sofort mit richtiger Benennung des Getöteten gemeldet. In gleicher Weise wie an Karl Liebknecht verging sich Runge an Rosa Luxemburg, als diese eine Viertelstunde nach Ersterem im Automobil nach dem Gefängnis transportiert werden sollte. Auf der Fahrt ward die nahezu Leblose durch einen Schuß, der wahrscheinlich den Oberleutnant Kurt Vogel zum Urheber hatte, getötet. Dieser ist jedenfalls dafür verantwortlich, daß die Leiche der Ermordeten nicht eingeliefert, sondern künstlich beschwert in der Nähe der Corneliusbrücke in den Landwehrkanal versteckt wurde, wo sie erst nach Monaten aufgefunden wurde.

Die Verhaftung und der Tod der zwei Häupter der Spartakusbewegung wurden im Laufe des 16. Januar allgemein bekannt und riefen naturgemäß große Erregung hervor. Ein am Abend des gleichen Tages bekannt gegebener amtlicher Bericht stellte die Sache so dar, daß die gegen sie geführten Schläge von Unbekannten aus der Mitte der das Hotel umlagernden und gegen sie Verwünschungen ausstoßenden Menge hergerührt hatten, daß der Schuß, der Rosa Luxemburg tötete, von einem Unbekannten auf sie abgegeben worden war, der, als das Automobil der Menschenmenge wegen langsamer fahren mußte, aus der Menge heraus auf das Trittbrett gesprungen sei, und daß die Leiche von einem Teil der Menge, die das Auto umgab, aus diesem unter dem Ruf „da ist die Rosa“ herausgerissen und entführt worden sei.

Diese Umschreibungen des wahren Sachverhalts wurden indes bald als irreführend aufgedeckt. Die Regierung beschloß sofort, eine eingehende Untersuchung über die Umstände, unter denen der Tod der zwei Revolutionäre erfolgt war, zu veranstalten, und machte das in folgender Kundgebung bekannt:

„Die Regierung hat über die Umstände, die zum gewaltsamen Tode Dr. Rosa Luxemburgs und Dr. Karl Liebknechts geführt haben, die strengste Untersuchung angeordnet. Die beiden Getöteten hatten sich zweifellos schwer am deutschen Volke vergangen, sie hatten jedoch ebenso zweifellos Anspruch auf Recht, das Schuldige bestraft, aber auch sie vor Unrecht schützt. Ein Akt der Lynchjustiz, wie er an Rosa Luxemburg begangen worden zu sein scheint, schändet das deutsche Volk, und jeder, auf welcher Seite er auch politisch stehen mag, wird ihn sittlich verdammen. Ist im Fall Luxemburg das Gesetz offenbar verletzt worden, so bedarf es auch im Fall Liebknecht noch der Aufklärung, ob hier nach gesetzlichen Vorschriften gehandelt worden ist. Sollten sie verletzt worden sein, so müßte auch hier in der schärfsten Weise eingegriffen werden.“

Der Zentralrat der deutschen und der Vollzugsrat der Berliner Arbeiterräte nahmen ihrerseits die Erforschung des Tatbestandes in die Hand, Verwandte und Freunde boten ihr Möglichstes auf, hinter die Wahrheit zu kommen, eine Reihe von Personen, die zur fraglichen Zeit im Hotel oder dessen Umgebung geweilt hatten, meldeten sich freiwillig als Zeugen gegen bestimmte Angaben des amtlichen Berichts, und so erfuhr die Öffentlichkeit schon in den nächsten Tagen, daß das Eden-Hotel zu jener Zeit keineswegs von sonderlich viel Zivilpersonen umgeben gewesen war, daß das Auto, welches Rosa Luxemburg nach dem Untersuchungsgefängnis befördern sollte, zu keiner Zeit absichtlich oder unabsichtlich vom Publikum in seiner Fahrt aufgehalten wurde, sondern seinen Weg durch menschenleere Straßen genommen hatte und daß daher von einer gewaltsamen Entführung der Leiche durch Leute aus der Menge nicht geredet werden könne, daß aber es Militärs gewesen seien, welche Rufe des Inhalts ausgestoßen hätten, „man müsse die zwei Aufrührer ohne Weiteres erledigen.“

Spartakisten und Unabhängige richteten indes ihre Angriffe nicht nur gegen die Militärs. Als bekannt wurde, daß die mehrheitssozialistische Regierung die Untersuchung und voraussichtliche Strafverfolgung den zuständigen Militärinstanzen überwiesen hatte, ward auch sie der Gegenstand heftiger Angriffe, die sich bis zu der Verdächtigung steigerten, sie wolle keine gründliche Untersuchung, sondern fühle sich gewissermaßen mit der „Mörderbande“ solidarisch. Davon war selbstverständlich nicht die Rede. Da die Angeschuldigten im Militärverhältnis standen, kam für sie das noch bestehende Gesetz in Betracht, nach dessen Vorschriften ihre Angelegenheit in der Tat von Militärbehörden zu untersuchen und einem Militärgericht zur strafrechtlichen Abhandlung zu überweisen war. Wenn die Regierung, beziehungsweise ihr juristisches Mitglied erklärte, durch den Rechtssatz gebunden zu sein, daß niemand seinem ordentlichen Richter entzogen werden dürfe, so war das formalrechtlich unwiderlegbar. Zudem hatte man in jenem Zeitpunkt noch nicht die Erfahrungen mit Militärgerichten in der Republik gemacht, die seitdem dem radikal gesinnten Teil der Bevölkerung jedes Vertrauen in deren politische Unparteilichkeit geraubt haben. Wenig sprach dagegen, die strafrechtliche Aburteilung des Falles dem Militärgericht zu belassen.

Das, worauf es vor allem ankam, war nicht die Höhe der Strafen, auf die erkannt werden würde, sondern die über jeden Zweifel hinaus sichere Feststellung aller für eine Beurteilung der Natur des Vorfalles wesentlichen Einzelheiten und die Ermittelung und vorläufige Festsetzung aller mutmaßlich Schuldigen und Mitschuldigen. Mit Bezug hierauf ward denn auch in der Arbeiterschaft von Angehörigen der verschiedensten Parteien die Forderung erhoben, daß man die Untersuchung einer Kommission übertrage, die entweder ausschließlich oder mindestens zum Teil aus Mitgliedern der sozialistischen Parteien zusammenzusetzen sei, und diesem Verlangen hätte nachgegeben werden können, ohne daß dem Recht ungebührliche Gewalt angetan wurde. Man war ja doch noch in der Revolution, und zwar in einer Revolution, von der ihre Vertreter wußten und wollten, daß sie in ihrem Verlaufe mit den militärischen Sondergerichten aufräumen werde, auch verkannte die Regierung die sachliche Berechtigung des Verlangens nicht. Sie konnte sich nur nicht dazu entschließen, den radikalen Schritt zu tun, sondern beschränkte sich darauf, die Hinzuziehung von je zwei Mitgliedern des Zentralrats und des Berliner Vollzugsrats zur Beteiligung an der Untersuchung zu erwirken, deren Leitung aber dem Gericht der GardeschützenKavallerie-Division und der Oberleitung des Divisionskommandeurs von Hoffmann als dem militärischen Gerichtsherrn verblieb. Bald zeigte sich, welcher Fehler damit gemacht war. Die Militärs ließen die Arbeitervertreter fühlen, daß sie sie nur als überflüssiges Beiwerk betrachteten. Der von Hoffmann zum Leiter der Untersuchung eingesetzte Kriegsgerichtsrat Jörns und er selbst lehnten eine Anzahl Anträge der Arbeiter ab, worauf die Mitglieder des Vollzugsrats Oskar Rusch und Paul Wegmann und das Mitglied des Zentralrats Hugo Struve am 16. Februar von der Teilnahme an der Untersuchung zurücktraten. Die Gründe sind im folgenden Stück aus der Einleitung einer Denkschritt über ihren Rücktritt zusammengefaßt:

„Wir forderten die Einsetzung einer mit den Rechten eines Untersuchungsrichters ausgestatteten Sonderkommission. Diese unsere sofort und wiederholt gestellte Forderung wurde abgelehnt.

Wir fordern ferner die Aburteilung der Mörder und ihrer Anstifter durch ein ordentliches Zivilgericht.

Wir lehnen es in aller Öffentlichkeit ab, weiter an den Untersuchungshandlungen teilzunehmen, weil

  1. dieser unserer Forderung seitens der Regierung der deutschem Republik nicht zugestimmt wurde,

  2. auf wiederholte mündliche und schriftliche Anträge die uns durch Zeugenaussagen bekannten Anstifter, Täter und Beihelfer nicht in Haft gesetzt werden,

  3. es hierdurch einigen der Beschuldigten möglich war, flüchtig zu werden, und

  4. eine Verdunkelungsgefahr vorliegt dadurch, daß es den sich noch in Freiheit Befindlichen möglich ist, sich untereinander zu verständigen.

Wir lehnen es vor dem Proletariat der Welt ab, teilzunehmen an einem Gerichtsverfahren, das es ermöglicht, die Spuren der Tat zu verwischen und die Mörder den Armen der Gerechtigkeit zu entziehen.“

Nun hatte schon der gewaltsame Tod der zwei revolutionären Führer bei einem erheblichen Teil der Arbeiter Berlins einen Umschwung der Stimmung zu Ungunsten der Regierung herbeigeführt, die Ablehnung der sozialistischen Sonderkommission ihn verschärft, und so fehlte nur noch diese Erklärung der drei Arbeitervertreter, um die Mißstimmung auf die Spitze zu treiben. Sie hat der Partei der Mehrheitssozialisten und damit auch der Republik, die in dieser Partei ihre eigentliche Stütze hat, damals sehr geschadet. Sie hat es gewissen Journalisten ermöglicht, dem sozialistischen Ausland diese Partei als die moralisch Mitschuldige an der Ermordung von Liebknecht und Rosa Luxemburg und als Begünstiger der Mörder hinzustellen. So hat sogar ein Romain Rolland im Frühjahr 1919 durch einen deutschen Literaten sich verleiten lassen, in einem langen, durch drei Nummern der Pariser Humanité laufenden Artikel gegen die sozialdemokratische Partei und Regierung diese Anschuldigung zu erheben. Tatsächlich ist sie aber im höchsten Grade ungerecht. Niemand wäre vielleicht eher in der Lage hierfür Zeugnis abzulegen, als der Schreiber dieses. Denn ich war durch einen Zufall am Vormittag des 16. Januar 1919 grade zu der Stunde in der Reichskanzlei, als die Meldung eintraf, daß Karl Liebknecht erschossen sei, und weiß daher, welche Bestürzung und selbst Erschütterung sie bei den anwesenden Regierungsmitgliedern hervorrief. Es ist nicht die Spur eines stichhaltigen Beweises dafür vorhanden, daß die Regierung oder irgend eines ihrer Mitglieder die Tötung auch nur mit einer Silbe angeregt oder die Mörder begünstigt haben. Der Fehler, als der die Überweisung der Untersuchung an die Militärbehörden sich herausstellte, lag auf der politischen und nicht auf der moralischen Seite. Aber als ein politischer Fehler hat sie sich ohne jede Frage erwiesen. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kriegsgerichtsrat Jörns bei Leitung der Untersuchung absichtlich auf Vertuschung bestimmter Einzelheiten hingearbeitet hat, sein energisches Verhalten als Anklagevertreter bei der Gerichtsverhandlung leiht dieser Annahme wenig Spielraum. Richtig dagegen ist, daß er in Bezug auf Zeugenverhöre usw. Verschiedenes unterlassen hat, was zur Erhellung des Tatbestandes Wesentliches beigetragen hätte. Eine von aller militärischen Befangenheit freie sozialistische oder aus Sozialisten und Ziviljuristen zusammengesetzte Untersuchungskommission hätte unzweifelhaft mehr an das Licht gebracht, als von Jörns ermittelt wurde, und ihr Bericht hätte in breiten Volkskreisen das Vertrauen genossen, das dem seinen versagt blieb. Darauf aber kam es an.

Freilich, die große Mord-Verschwörung, von der Spartakisten und Spartakistengönner damals fabelten, hätte auch er schwerlich feststellen können, sie gehört eben in das Reich der Fabel. Nicht eine Verschwörung im juristischen Sinne dieses Wortes hat vorgelegen, wohl aber ein von der Stunde geborenes Kollektivverbrechen, an dem die Militärs vom Eden-Hotel in verschiedenem Grade beteiligt waren, einige als Anreger (mit Rufen wie: „Schlagt sie tot“ und dergleichen), andere direkt als Anstifter, und wieder andere als Helfer und Täter. Die von den Arbeitervertretern erhobene Anklage, daß zwischen einem Teil der letzteren eine Art Verabredung stattgefunden habe, hat alle Wahrscheinlichkeit für sich und hätte daher auf das Sorgfältigste berücksichtigt werden müssen. Ob aber selbst die genaueste Prüfung zu einem für die Verurteilung ausreichenden Beweis geführt hätte, bleibt bei alledem zweifelhaft.

Bei allen Kollektivverbrechen ist die richtige Abmessung der Verantwortlichkeiten eine fast unlösbare Aufgabe. Was wir in dieser Hinsicht aus eignem Erlebnis von Schülerstreichen her wissen, wiederholt sich unter den ernsthaftesten Formen im späteren Leben. Daß an Rosa Luxemburg ein brutal feiger Mord verübt worden ist, bestreitet niemand. Ob aber als der Haupttäter der Soldat Runge zu betrachten ist, der auf den Kopf des körperlich ungewöhnlich schwächlichen Weibes ohne jede Provokation wiederholt so heftig mit dem Gewehrkolben losschlug, daß das Opfer sofort besinnungslos zusammenbrach, oder der Offizier, der der ohne ein Lebenszeichen Daliegenden eine Kugel durch den Kopf jagte, kann nachträglich niemand entscheiden. Schwieriger noch ist die Bemessung der Verantwortungen inbezug auf die Tötung Karl Liebknechts. Lag bei ihr überhaupt ein Mord im strafrechtlichen Sinne dieses Wortes vor? Nach Angabe der ihn exkortierenden Offiziere ist Liebknecht erschossen worden, als er einen Fluchtversuch machte, und auf einen fliehenden Gefangenen zu schießen, ist militärischer Brauch, den das Reglement sanktioniert. Aber jeder wird dem Kriegsgerichtsrat Jörns Recht geben, der ausführte, daß selbst, wenn Liebknecht einen Fluchtversuch machte, für die sechs schwerbewaffneten, kräftigen Männer, die ihn exkortierten, dies kein genügender Anlaß sein konnte, auf den durch die heftigen Kolbenschläge des Runge seiner vollen Kraft schon beraubten Mann ohne Weiteres zu schießen. Außerdem aber ist es zweifelhaft, ob überhaupt ein wirklicher Fluchtversuch vorlag. Nicht deshalb weil ein solcher, wie Anhänger Liebknechts erklärten, ein Akt der Feigheit gewesen wäre, dessen Liebknecht nicht fähig war. Flucht hätte in einem solchen Falle mit Mut oder Feigheit garnichts zu tun gehabt. Es erhebt sich eine ganz andere Frage. Nach allem, was wir seit jenen Tagen an Erschießungen von Gegnern des Militärs bei deren militärischen Exkortierung erlebt haben, muß man vielmehr fragen, ob der angebliche Fluchtversuch nicht lediglich in einem Ausweichen vor Drangsalierungen körperlicher Natur bestanden hat. Darauf lassen insbesondere die ärztlichen Gutachten schließen, die bekunden, daß die tötlichen Schüsse auf Liebknecht aus der Nähe abgegeben sein mußten. War dies aber der Fall, dann lag keine bloß unüberlegte oder fahrlässige Tötung, sondern ein wohlüberlegter, wenn nicht raffinierter Mord vor. Jörns beantragte denn auch gegen die vier Offiziere, die geschossen hatten, die Todesstrafe wegen vollendeten Mordes. Das Gericht aber sprach sie frei, obwohl es in seinem Erkenntnis zugab, daß Indizien dafür vorlagen, „daß unter ihnen eine Verabredung zur Tötung Liebknechts stattgefunden hat.“

Wer, wie der Schreiber dieses, in der Todesstrafe keine Sühne für ein begangenes Verbrechen erblickt, den wird es gleichgültig lassen, daß die vier Offiziere von ihr verschont geblieben sind. Nicht gleichgültig aber ist es, daß das Verbrechen der gerichtlichen Brandmarkung entging. Sie zum Mindesten war man dem öffentlichen Gewissen schuldig.

Als einen strafmildernden Umstand hob das Gericht die große Erregung hervor, die sich der Bevölkerung im Allgemeinen unter der Wirkung der Spartakusunruhen bemächtigt hatte. Diese Erregung aber war keine bloße Fabel, sie war von außerordentlicher Tiefe und beschränkte sich keineswegs auf Kapitalisten und Spießbürger, die für ihren Besitz und den Profit zitterten. Sie herrschte auch in weiten Kreisen der arbeitenden Bevölkerung vor. Und sie richtete sich gegen keinen mit stärkerer Erbitterung als gegen Karl Liebknecht, in dem man den Hauptschuldigen an diesen, für die Entwicklung der Republik so verderblichen Aufruhrakten erblickte. Wie groß in der Tat die Schuld war, die Karl Liebknecht in jener Zeit auf sich geladen hat, wo es galt, die Grundlagen der deutschen Republik festzulegen, ward in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt. Aber auch in bezug auf ihn gilt das Wort, daß der Tod keine Sühne ist. Der an ihm verübte mörderische Gewaltakt hat nur bewirkt, daß um seinen Namen sich ein Mythos wob, Dank dessen der tote Karl Liebknecht noch länger Unheil anzurichten vermochte, als es dem lebenden möglich gewesen wäre. Mit all seinen Gaben und seinem radikalen Wollen war Liebknecht selbst im Kreise der radikalen Führerschaft nicht sonderlich beliebt gewesen. Emil Barth spricht in seiner Schrift in dieser Hinsicht nur drastisch aus, was Ledebour in seiner Aussage vor Gericht vorsichtig angedeutet hat: daß man seine Mitwirkung im Rat der verantwortlichen Führer nicht sehr hoch einschätzte, daß man auch dort seinen Mangel an politischem Verantwortlichkeitsempfinden und jene ihn beherrschende geistige Ichsucht, die der Engländer zum Unterschied von dem auf das Materielle gerichteten Egoismus Egotismus nennt, wiederholt recht peinlich empfand. Hatten doch schon im Jahre 1915, als in der noch geeinigten sozialdemokratischen Fraktion über den Antrag abgestimmt wurde, ihm wegen fortgesetzter Nichtbeachtung von Fraktionsbeschlüssen die Rechte der Fraktionsmitgliedschaft zu entziehen, nur ein Teil der radikalen Fraktionsmitglieder sich ablehnend verhalten, ein andrer Teil aber die Erbitterung der Fraktionsmehrheit über sein Verhalten geteilt und für den Antrag gestimmt. Sein Eigenwille war aber, seit er aus dem Gefängnis herausgekommen war und überall, wo er den Massen sich zeigte, als Märtyrer des Militarismus bejubelt wurde, noch sehr gewachsen, die Selbstüberschätzung so gestiegen, daß Barth sich berechtigt hält, von seinem Größenwahn zu sprechen. In dieser Überschätzung seiner Macht über die Massen, und phantastischen Ausmalung der Möglichkeiten eines neuen Umsturzes hatte er jenen Erlaß unterzeichnet, durch den er sich, Ledebour und Scholze als die Vertreter der revolutionären Regierung hinstellte, die an die Stelle der vom Zentralrat der Arbeiterräte eingesetzten Regierung hatte treten wollen, und die nun eine solche in den Gefilden der Ungläubigen geworden war. Das konnte nicht anders als vernichtend wirken und sein Ansehen in der Arbeiterschaft bedeutend herabdrücken. Daß er aus dem von ihm und Gleichgesinnten gewissenlos ins Werk gesetzten und geleiteten Unternehmen nicht lebend hervorging, hatte auf längere Zeit die entgegengesetzte Wirkung. Es verklärte ihn und das Unternehmen.

Menschlich muß man es bedauern, daß der zwar nicht sehr tief angelegte, aber doch mit vielen Gaben und seltener geistiger Spannkraft ausgestattete Träger eines berühmten Namens im besten Mannesalter einen so gewaltsamen Tod gefunden hat. Das geschichtliche Urteil über den Politiker Karl Liebknecht aber kann darum doch nur dahin lauten, daß sein letztes Unternehmen zugleich gezeigt hat, wie sehr ihm die Eigenschaften fehlten, ohne welche die Sozialdemokratie ihre große Mission als aufbauende Kraft nicht erfüllen kann.

Das andere Opfer des sich neu erhebenden Militarismus Rosa Luxemburg ist lediglich als die selbstlose Kämpferin für eine Idee gefallen, der sie ihr ganzes Ich gewidmet hatte. Auch sie hat in der Einschätzung der Tragkraft der Revolution geirrt, und ihre im Krieg erschienene glänzend abgefaßte Schrift über die Krise in der Sozialdemokratie zeigt auch, warum sie irren mußte. Vor ihrem geistigen Auge stand und in ihrer Seele lebte ein aus der Abstraktion abgeleitetes Proletariat, dem das wirkliche Proletariat nicht entsprach. War sie doch, wie ihre hinterlassenen Briefe zeigen, im letzten Grunde eine durchaus dichterische Natur. In ihr hat der Sozialismus eine hochbegabte Mitstreiterin verloren, die der Republik unschätzbare Dienste hätte leisten können, wenn nicht falsche Einschätzung der Möglichkeiten sie ins Lager der Illusionisten der Gewaltpolitik geführt hätte. Aber auch wer um dessentwillen im Parteikampf ihr Gegner war, wird das Andenken dieser rastlosen Kämpferin in Ehren halten.


Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008