Emma Goldman

 

Was ich denke ...


Aus: Emma Goldman – Widerstand (Deutsche Erstübersetzungen / Anarchistische Vereinigung Norddeutschland)
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„Was ich denke“ war häufig das Thema gewisser Schreiberlinge. Es kreisten derart blut- und zusammenhanglose Geschichten über mich, daß es kein Wunder ist, daß der Durchschnittsmensch bereits bei der bloßen Erwähnung des Namens Emma Goldman Herzflattern bekommt. Wirklich, es ist zu schade, daß wir nicht mehr in jenen Zeiten leben, als Hexen am Pfahl verbrannt oder gemartert wurden, um ihnen ihren bösen Geist auszutreiben. Denn Emma Goldman ist zweifellos eine Hexe! Zwar frißt sie keine kleinen Kinder, doch sie treibt viele noch schlimmere Dinge. Sie stellt Bomben her und treibt ihre Spielchen mit gekrönten Häuptern! B-r-r-r! Das ist der Eindruck, den die Öffentlichkeit von mir und meiner Meinung hat. Deshalb muß man The World sehr zugute halten, daß sie ihren Lesern wenigstens die Möglichkeit gibt, zu erfahren, was meine Meinung wirklich ist.

Demjenigen, der die Geschichte fortschrittlichen Denkens studiert, ist es wohl bewußt, daß jede Idee in ihren Anfangsstadien falsch dargestellt wurde, und daß die Vertreter solcher Ideen verleumdet und verfolgt wurden. Man muß keine zweitausend Jahre zurückgehen, zu der Zeit, als jene, die an den Geist Jesu glaubten, in die Arena geworfen oder in den Kerker gesteckt wurden, um zu erkennen, wie wenig große Gedanken oder ernsthafte Denker verstanden wurden. Die Geschichte des Fortschritts wurde mit dem Blut jener Männer und Frauen geschrieben, die es wagten, sich mit einer unpopulären Sache zu verbinden, wie zum Beispiel mit dem Recht der Schwarzen auf ihren Körper oder dem Recht der Frau auf ihre Seele. Wenn dann dem Neuen seit undenkbaren Zeiten Widerstand und Verdammnis entgegenschlägt, warum sollten dann meine Gedanken nicht auch der Dornenkrone ausgeliefert sein?

„Was ich denke“ ergibt sich weit eher als ein Prozeß als etwas Endgültiges. Endgültigkeiten sind für Götter und Regierungen, nicht für den menschlichen Verstand. Es kann sein, daß Herbert Spencers Formulierung der Freiheit, als eine politische Grundlage der Gesellschaft, eine der bedeutendsten diesbezüglich ist; dennoch bedeutet das Leben mehr als Formeln. Im Kampf um Freiheit, wie Ibsen so gut darauf hingewiesen hat, ist es vor allem der Kampf um die Freiheit, und nicht so sehr das Erreichen; dieser enthüllt all das stärkste, festeste und schönste im menschlichen Charakter.

Der Anarchismus schreitet jedoch nicht nur als Prozeß mit „düsteren Schritten“ voran und beschönigt alles, das in Bezug auf organische Entwicklung vollkommen und schöpferisch ist. Er zeigt sich als deutlicher Protest der militantesten Art. Er stellt eine derart kompromißlose, beharrliche und eindringliche Kraft dar, um den hartnäckigsten Angriff und jeglicher Kritik jener, die in Wahrheit die letzten Trompeten eines zerfallenden Zeitalters blasen, standzuhalten und zu überwinden. Anarchisten sind unter keinen umständen passive Beobachter im Theater der sozialen Entwicklung; im Gegenteil, sie haben einige sehr positive Vorstellungen im Hinblick auf Ziele und Methoden.

Um mich, ohne viel Raum zu beanspruchen, so klar wie möglich ausdrücken zu können, sei mir gestattet, die thematische Aufteilung von „Was ich denke“ anzunehmen.
 

1. Was das Eigentum anbelangt

„Eigentum“ bedeutet, über Dinge zu herrschen und andere daran zu hindern, diese Dinge zu benützen. Solange Produktion normaler Nachfrage angepaßt war, konnte institutionell gesichertes Eigentum eine gewisse Daseinsberechtigung haben. Man muß jedoch nur die Wirtschaftswissenschaften befragen, um zu sehen, daß die Produktivität der Arbeit innerhalb der letzten Jahrzehnte so ungeheuer angestiegen ist, daß sie den Bedarf um ein Hundertfaches deckt und das Eigentum nicht nur zu einem Hindernis für menschlichen Wohlstand, sondern zu einer Blockade, ja zu einer tödlichen Barriere für jeglichen Fortschritt werden ließ. Die private Herrschaft über Dinge verdammt Millionen von Menschen zu bloßen Nichtigkeiten, zu lebenden Leichnamen ohne Originalität oder Kraft zur Initiative, zu menschlichen Maschinen aus Fleisch und Blut, die Berge von Reichtum für andere auftürmen und dafür mit einer grauen, langweiligen und erbärmlichen Existenz für sich selbst bezahlen. Ich glaube, daß es keinen wirklichen Wohlstand, sozialen Wohlstand, geben kann, solange er menschliches Leben kostet – junges Leben, altes Leben, und entstehendes Leben.

Von allen radikalen Denkern wird erklärt, daß die grundlegende Ursache dieses schrecklichen Zustandes darin liegt, daß (1) der Mensch seine Arbeitskraft verkaufen muß und (2) seine Neigungen und sein Urteil dem Willen eines Herrn untergeordnet sind. Der Anarchismus ist die einzige Philosophie, die diese demütigende und erniedrigende Situation beseitigen kann und will. Er unterscheidet sich von allen anderen Theorien insofern, als er heraushebt, daß allein die Entwicklung des Menschen, sein körperliches Wohlbefinden, seine innewohnenden Fähigkeiten und seine angeborenen Neigungen die Art und die Bedingungen seiner Arbeit zu bestimmen haben. Ähnlich wird jedermandes physische und geistige Einschätzung und seelisches Verlangen entscheiden, wieviel er konsumieren soll. Ich glaube, dies zu realisieren, wird nur in einer Gesellschaft möglich sein, die auf freiwilliger Zusammenarbeit produktiver Gruppen, Gemeinden und Gesellschaften, die lose zusammengeschlossen sind, beruht, und die sich, angetrieben durch eine Gleichheit der Interessen, möglicherweise in einen freien Kommunismus hineinentwickelt. Es kann keine Freiheit im weitesten Sinn des Wortes geben, keine harmonische Entwicklung, solange hauptsächlich gewinnsüchtige und wirtschaftliche Blickpunkte die Verwaltung des Einzelnen bestimmen.
 

2. Was die Regierung anbelangt

Ich glaube, daß Regierung, organisierte Autorität und Staat n u r dazu dienen, Eigentum und Monopol aufrechtzuerhalten und zu schützen. Nutzen zeigten sie lediglich in dieser Funktion. Was ihre Funktion als Förderer individueller Freiheit, menschlichen Wohlstands und sozialer Harmonie anbelangt, welche einzig wirkliche Ordnung darstellen, so wurde die Regierung vor allen großen Männern der Welt als untauglich verworfen.

Mit meinen anarchistischen Genossen glaube ich deshalb, dass alle gesetzlichen Regelungen gesetzgebenden Verfügungen und verfassungsmäßigen Einrichtungen Eingriffe darstellen. Noch nie veranlaßten sie den Menschen etwas zu tun, was er aufgrund seines Verstandes oder Temperaments nicht tun könnte oder wollte, noch verhindern sie jemals irgendetwas, zu dem der Mensch durch dieselben Diktate getrieben (unleserlich) tun.

Millets bildhafte Beschreibung von dem Mann mit der Hacke; Meuniers Meisterstück über die Minenarbeiter, die dabei halfen, die Arbeit aus ihrer erniedrigenden Stellung emporzuheben; Gorkis Beschreibung der Unterwelt; Ibsens psychologische Analyse menschlichen Lebens; dies hätte niemals durch die Regierung veranlaßt werden können; genauso wenig, wie der Geist der einen Menschen dazu treibt, ein ertrinkendes Kind oder eine verkrüppelte Frau aus einem brennenden Haus zu retten, jemals durch gesetzliche Verordnung oder den Polizeiknüppel in Aktion gerufen wird. Ich glaube- – nein ich weiß tatsächlich – daß das Gute und Schöne im Menschen, gleich was es auch sein mag, sich nicht wegen der Regierung, sondern gerade trotz der Regierung ausdrückt und erklärt.

Die Anarchisten nehmen folglich zurecht an, dass der Anarchismus – die Abwesenheit von Herrschaft – das weiteste und größte Spektrum für ungehinderten, menschlichen Fortschritt, dem Grundstein sozialer Weiterentwicklung und sozialer Harmonie, sichern wird. An das stereotype Argument, Regierung wirke kontrollierend auf Verbrechen und Laster, glauben selbst die Gesetzesgeber nicht mehr. Dieses Land gibt Millionen von Dollar für den Unterhalt seiner „Verbrecher“ hinter Gefängnisgittern aus, und dennoch steigt die Verbrechensrate an. Dieser Tatbestand rührt sicher nicht von einer Unzulänglichkeit der Gesetze her! Neunzig Prozent aller Verbrochen sind Eigentumsdelikte, und diese haben ihre Wurzeln in unseren ökonomischen Ungerechtigkeiten. So lange, wie diese fortbestehen, könnten wir alle Laternenpfähle in Galgen verwandeln, ohne die geringste Wirkung auf die Verbrechen mitten unter uns zu erzielen. Verbrechen, die genetisch bedingt sind, können ganz sicher nie durch Gesetze verhindert werden. Gewiß lernen sogar wir heute, daß solche Verbrechen nur durch die besten medizinischen Methoden behandelt werden können, wenn wir es wollen, und vor allem durch den Geist eines tieferen Verständnisses für Kameradschaft, Freundlichkeit und Verstehen.
 

3. Was den Militarismus anbelangt

An sich sollte ich diesem Thema keinen besonderen Platz einräumen, da es zum ganzen Drum und Dran der Regierung gehört, wenn nicht die Umstände wären, das gerade jene, die meinen Gedanken am stärksten entgegentreten, und zwar auf der Grundlage, daß diese für Gewalt eintreten würden, die Fürsprecher des Militarismus sind.

Tatsache ist, daß Anarchisten die einzigen wirklichen Advokaten des Friedens sind, die einzigen, die der wachsenden Tendenz des Militarismus, die auf schnelle Weise aus dem ehemals freien Land imperialistische und despotische Macht formt, Einhalt gebieten. Nichts ist so gnadenlos, herzlos und brutal wie der militaristische Geist. Er nährt eine Institution, für die es nicht einmal den Schein einer Rechtfertigung gibt. Der Soldat ist ein berufsmäßiger Menschenschlächter, um mit Tolstoi zu sprechen. Er tötet nicht aus Liebe zum Töten, wie ein Wilder, oder aus Leidenschaft, wie ein Totschläger. Er ist ein kaltblütiges, mechanisches, seinen militärischen Vorgesetzten gehorsames Instrument. Bereit auf Befehl eines führenden Offiziers Kehlen durchzuschneiden oder ein Schiff zu versenken, ohne zu wissen oder sich vielleicht auch nur darum zu kümmern, wie, warum oder wofür. In diesem Streitpunkt werde ich durch ein nicht geringeres militärisches Licht als General Funston unterstützt. Ich erinnere an dessen Zuschrift an die New York Evening Post vom 30.Juni. Dort bespricht er den Fall des Soldaten William Buwalda, der im gesamten Nordwesten große Aufregung verbreitete. [1] Unser edler Krieger spricht: „Die erste Pflicht eines jeden Offiziers oder eines jeden gewöhnlichen Soldaten liegt im bedingungslosen Gehorsam und in der bedingungslosen Treue der Regierung gegenüber, welcher er Ergebenheit geschworen hat; gleich ob er diese Regierung anerkennt oder nicht.“

Wie läßt sich das Prinzip des „bedingungslosen Gehorsams“ mit dem Prinzip von „Leben, Freiheit und Trachten nach Glück“ vereinbaren? Die tödliche Macht des Militarismus wurde in diesem Land niemals zuvor so wirkungsvoll demonstriert wie durch die kürzliche Verurteilung William Buwaldas aus San Francisco, Kompanie A, Ingenieur, zu fünf Jahren Militärgefängnis durch das Militärgericht. Ein Mann, der fünfzehn Jahre ununterbrochen gedient hatte.

„Sein Charakter und seine Führung waren ohne Tadel“, sagt uns General Funston, der in Anbetracht dessen Buwaldas Urteil auf drei Jahre reduzierte. Doch der Mann sieht sich plötzlich aus der Armee verstoßen, entehrt, seiner Möglichkeit auf Pension beraubt und ins Gefängnis geworfen. Ihr freigeborenen Amerikaner, hört gut zu! William Buwalda. besuchte eine öffentliche Veranstaltung und schüttelte nach dem Vortrag dem Redner die Hand. General Funston erklärt in seinem Brief an die Post, daß Buwaldas Handlung ein „großes militärisches Vergehen, unendlich schlimmer als Fahnenflucht“ darstellen würde. Auch in Portland, Oregon, erklärte der General, daß Buwaldas „Verbrechen ebenso schwerwiegend war, wie Verrat.“

Allerdings, Anarchisten organisierten die Versammlung. Hätten jedoch Sozialisten dazu aufgerufen, so unterrichtet uns General Funston, hätten keinerlei Beanstandungen wegen Buwaldas Anwesenheit bestanden. So erklärt der General auch wirklich: „Ich würde nicht im geringsten zögern, selbst eine sozialistische Veranstaltung zu besuchen.“ Doch: der Besuch einer anarchistischen Veranstaltung, mit Emma Goldman als Rednerin – könnte es etwa „verräterischeres“ geben?

Für dieses schreckliche Verbrechen schmachtet nun ein Mann, ein freier amerikanischer Bürger, der diesem Land fünfzehn kostbare Jahre seines Lebens opferte, und dessen Charakter und Führung während dieser Zeit „unanfechtbar“ waren, in einem Gefängnis, entehrt, entwürdigt, seines Lebensunterhaltes beraubt. Kann es etwas geben das das Ideal der Freiheit mehr zerstört, als jener Geist, der Buwaldas Verurteilung ermöglichte – jener Geist bedingungslosen Gehorsams? Sollte dafür das amerikanische Volk in den letzten paar Jahren 400 Millionen – Dollar und seine innerste Kraft und Energie geopfert haben?

Ich glaube, der Militarismus – ein stehendes Heer und Marine in irgendeinem Land – ist ein Anzeichen für den Zerfall von Freiheit und die Zerstörung all dessen, was in unserem Land das Beste und Schönste genannt werden kann. Das ständig lauter werdende Geschrei um mehr Kriegsschiffe und eine besser ausgerüstete Armee, mit der Begründung, diese würden uns den Frieden sichern, ist genauso absurd, wie jenes Argument, ein friedfertiger Mensch sei derjenige, der gut bewaffnet umhergeht. Derselbe Mangel an Folgerichtigkeit zeigt sich bei jenen Friedensbewahrern, die dem Anarchismus deshalb entgegentreten, weil er anscheinend Gewalt predigt, und die dennoch über die Möglichkeit höchst erfreut wären, wenn die amerikanische Nation bald in der Lage wäre, Bomben aus Flugzeugen über wehrlose Feinde abzuwerfen .

Ich glaube der Militarismus wird in dem Moment verschwinden wenn alle die, die die Freiheit lieben, zu ihren Herren sagen werden: „Verschwinde! Besorge dein Morden selber! Lange genug opferten wir uns und unsere Lieben, um deine Schlachten zu liefern. Als Gegenleistung hast du uns in Friedenszeiten zu Parasiten und Kriminellen geformt und in Kriegszeiten verrohen lassen. Du hast uns von unseren Brüdern getrennt und aus der Welt ein Schlachthaus für Menschen gemacht. Nein, wir wollen nicht mehr deinetwegen für dieses Land, das du uns geraubt hast, töten oder kämpfen.“ Oh, ich glaube von ganzem Herzen, daß Brüderlichkeit und Solidarität unter allen Menschen den Horizont mit seinen blutroten Streifen des Krieges und der Zerstörung aufhellen wird.
 

4. Was Rede- und Pressefreiheit anbelangt

Der Buwaldafall ist nur ein Punkt einer tiefergehenden Frage nach freier Rede, freier Presse und dem Recht auf ungehinderte Versammlung.

Viele gutgläubige Menschen haben, die Vorstellung, daß die Prinzipien von Rede- und Pressefreiheit innerhalb der Grenzen verfassungsgemäßer Garantien richtig ausgeübt und geschützt werden können. Dies erscheint mir die einzige Entschuldigung für die erschreckende Apathie und Gleichgültigkeit gegenüber den Einschränkungen der Rede- und Pressefreiheit, wie wir sie in diesem Land in den letzten Monaten erfahren haben.

Ich denke Rede- und Pressefreiheit bedeutet, daß ich sagen und schreiben kann, was mir beliebt. Dieses Recht wird zu einer Farce, wenn es durch die Verfassung, durch gesetzliche Verfügungen, durch allmächtige Entscheidungen des Postministers oder durch den Polizeiknüppel geregelt wird. Natürlich wird man mich vor Konsequenzen warnen, wenn wir Rede und Presse von ihren Ketten befreien werden. Ich glaube jedoch, daß das Heilmittel vor Konsequenzen, die dem ungehinderten Gebrauch der Meinungsäußerung entspringen, darin besteht, das Recht auf Meinungsäußerung noch weiter auszudehnen. Geistige Fesseln vermochten noch nie den Lauf des Fortschritts Einhalt zu gebieten; allerdings wurden frühzeitige soziale Explosionen nur allzu oft durch eine Welle der Repression hervorgerufen.

Werden unsere Regierenden nie lernen, daß Länder, wie England, Holland, Norwegen, Schweden und Dänemark, Länder mit weitester Freiheit der Meinungsäußerung, die Länder sind, die die wenigsten „Konsequenzen“ aufzuweisen haben? Wogegen Rußland, Spanien, Italien, Frankreich und – leider! – sogar Amerika diese „Konsequenzen“ zum drängendsten politischen Faktor erhöben. Es wird immer behauptet, unser Land würde von der Mehrheit regiert; dennoch kann jeder Polizist, der nicht durch die Mehrheit mit Macht ausgestattet ist, eine Versammlung auflösen, den Redner von der Rednerbühne wegschleppen und die Zuhörer aus dem Saal knüppeln, in wahrer russischer Manier. Der Postminister, kein wählbarer Beamter, verfügt über die Macht, Veröffentlichungen zu unterdrücken und Post zu unterschlagen. Seine Entscheidung ist ebenso unanfechtbar wie die des russischen Zaren. Ich glaube wirklich, wir brauchen eine neue Unabhängigkeitserklärung. Gibt es keinen modernen Jefferson oder Adams?
 

5. Was die Kirche anbelangt

Auf der kürzlichen Zusammenkunft der politischen Überreste einer einst revolutionären Idee wurde vertreten, daß Religion und Stimmenerhalten nichts miteinander zu tun hätten. Warum sollten sie auch? So lange, wie die Menschheit willens ist, das Wohl ihrer Seele dem Teufel anzuvertrauen, so lange kann sie mit derselben Folgerichtigkeit das Wohl ihrer Rechte dem Politiker anvertrauen. Daß Religion Privatsache sei, wurde schon vor langer Zeit von vormarxistischen Sozialisten Deutschlands festgehalten. Unsere amerikanischen Marxisten, leblos und arm an Originalität, haben es nötig, um ihrer Weisheit willen nach Deutschland zu gehen. Diese Weisheit diente als wesentliche Geißel, um einige Millionen Menschen in die gutdisziplinierte Armee des Sozialismus zu peitschen. Sie könnte hier dasselbe anrichten. Um Himmels Willen, verletzen wir nicht die religiösen Gefühle des Volkes!

Religion ist ein Aberglaube, der seinen Ursprung in der geistigen Unfähigkeit des Menschen findet, Naturerscheinungen zu erklären. Die Kirche ist eine Organisation, die unentwegt dem Fortschritt Steine in den Weg legt. Die Organisation Kirche raubte der Religion ihre Naivität und Schlichtheit. Sie ließ die Religion zu einem Alptraum werden, der die Seele des Menschen unterdrückt und den Geist in Ketten schlägt. „Die Herrschaft der Finsternis“, wie der letzte wahre Christ, Leo Tolstoi, die Kirche nennt, war schon immer ein Feind menschlicher Entfaltung und freien Denkens. Und damit hat sie keinen Platz im Leben eines wahrhaft freien Volkes.
 

6. Was Ehe und Liebe anbelangt

Ich glaube, in diesem Land gibt es kaum ein Thema, das stärker tabuisiert wird, als dieses. Es erscheint nahezu unmöglich darüber zu sprechen, ohne die gehegte Schicklichkeit einer ganzen Reihe anständiger Leute zu verletzen. Kein Wunder, bei dieser Unwissenheit in diesem Fragenkomplex. Eine kurze Abhandlung, wenn auch offen, frei und klug geführt, kann die Luft von diesem hysterischen, gefühlsduseligen Dunst, der diese vitalen Themen verschleiert, nicht reinigen, Themen voller (unleserlich), für das Wohlergehen des Einzelnen als auch der Gemeinschaft.

Ehe und Liebe sind nicht gleichbedeutend; im Gegenteil, häufig widersprechen sie einander. Natürlich werden viele Ehen aus Liebe eingegangen, doch schnell zermalmen die engen, materiellen Grenzen der Ehe die zarte Blüte der Zuneigung.

Die Ehe ist eine Institution, die den Staat und die Kirche mit einem ungeheuren Einkommen und den Mitteln ausstattet, in den Bereich des Lebens neugierig einzudringen, den gewisse Leute lange als ihre eigene, als ihre unbedingt eigene, hochheilige Sache betrachtet haben. Liebe ist jener überaus kraftvolle Einfluß auf zwischenmenschliche Beziehungen, der seit undenkbaren Zeiten allen Gesetzen, die die Menschen formuliert haben, trotzten und die Gitter der kirchlichen und moralischen Konvention durchbrach. Oft ist die Ehe ein rein wirtschaftliches Abkommen, das die Frau Zeit ihres Lebens mit einer Lebensversicherung und den Mann mit einem schönen Spielzeug versieht oder ihm seine Nachkommenschaft sichert. Das bedeutet, daß die Ehe, oder auch die dahingehende Erziehung, die Frau, damit sie leben kann, zu einer Parasitin, zu einer abhängigen und hilflosen Dienerin formt, während sie den Mann mit einem Wertbrief, mit all seinen Rechten, über ein Menschenleben versorgt.

Wie können derlei Umstände irgendetwas mit Liebe zu tun haben? – mit dem Element, das jedem Reichtum an Geld und Macht voranstehen und in seiner eigenen Welt ungefesselter Veräußerung des Menschen leben sollte? Doch wir leben nicht im Zeitalter der Romantik, in den Tagen von Romeo und Julia, Faust und Gretchen, im Zeitalter der Mondscheinserenaden, der Blumen und Lieder. Wir leben in einer nüchternen Zeit. Unsere ersten Überlegungen gelten dem Einkommen. Um so schlimmer für uns, wenn wir das Zeitalter erreicht haben, in dem der Seele höchsten Flüge gezügelt werden müssen.

Aber wenn zwei Menschen am Schrein der Liebe beten, was wird aus den goldenen Kalb, der Ehe? „Sie bildet die einzige Sicherheit für die Frau, für das Kind, die Familie, den Staat.“ Doch der Liebe bietet sie keine Sicherheit; und ohne Liebe existiert und kann kein wirkliches Keim existieren. Ohne Liebe sollte kein Kind geboren werden; ohne Liebe kann keine aufrechte Frau zu einen Mann eine Beziehung haben. Die Befürchtung, Liebe biete keine ausreichende materielle Sicherheit für das Kind, ist veraltet. Ich glaube, wenn die Frau sich ihrer eigenen Emanzipation widmet, wird ihre erste Unabhängigkeitserklärung darin bestehen, einen Mann um die Qualitäten seines Herzens und seines Geistes zu bewundern und zu lieben, und nicht um die Quantitäten seines Geldbeutels. Die zweite Erklärung wird darin liegen daß sie sich das Recht nimmt, dieser Liebe zu folgen, ohne Zustimmung oder Hinderung durch die Umwelt. Die dritte und wichtigste Erklärung wird das absolute Recht auf freie Mutterschaft sein.

In solch einer Mutter und einem im selben Maße freien Vater ruht die Sicherheit des Kindes. Sie verfügen über die Kraft, über die Stärke und über die Ausgeglichenheit, eine Atmosphäre zu schaffen, in der einzig und allein die menschliche Pflanze zu einer außergewöhnlichen Blüte emporreifen kann.
 

7. Was Gewalttaten anbelangt

Nun bin ich schließlich an dem Punkt meiner Anschauungen angelangt, über den im Bewußtsein der amerikanischen Öffentlichkeit die größten Mißverständnisse herrschen. „Nun, komm schon; propagierst du nicht Gewalt, propagierst du nicht gekrönte Häupter und Präsidenten zu töten?“ Wer sagt, daß ich solches tue? Hast du mich je so etwas sagen hören; hat irgendjemand mich so etwas sagen hören? Hat irgendjemand etwas derartiges in unserer Literatur schwarz auf weiß gesehen? Nein, und dennoch behaupten die Zeitungen so etwas; Jeder behauptet das; folglich muß es auch so sein. Oh, diese Scharfsinnigkeit, diese Logik der lieben Öffentlichkeit!

Ich meine, der Anarchismus ist die einzige Philosophie des Friedens, die einzige Theorie sozialer Beziehungen, die menschliches Leben über alles stellt. Ich weiß, einige Anarchisten verübten Gewalttaten, doch wurden sie durch die schrecklichen ökonomischen Ungleichheiten und die große politischen Ungerechtigkeiten zu solchen Handlungen getrieben, und nicht durch den Anarchismus.

Jede bestehende Institution beruht auf Gewalt; selbst unsere Atmosphäre ist mit ihr durchtränkt. So lange, wie solch ein Zustand besteht, können wir genauso gut hoffen, die Niagarafälle aufzuhalten, wie Gewalttaten zum Verschwinden zu bringen. Ich habe bereits festgehalten, daß Länder mit einem gewissen Maß an freier Meinungsäußerung wenig oder gar keine Gewalttaten zu verzeichnen hatten. Worin liegt die Moral? Einfach darin: Keine von einem Anarchisten begangene Handlung geschah um des persönlichen Vorteils, des Profits oder darum, sich selbst hervorzuheben, sondern als bewußter Protest gegen bestimmte repressive, willkürliche und tyrannische Maßnahmen von oben.

Casiero tötete den französischen Präsidenten Carnot als Antwort auf die Weigerung Carnots, das Todesurteil Vaillants aufzuheben, für dessen Leben sich die gesamte literarische, wissenschaftliche und humanitäre Welt Frankreichs einsetzte. Bresci fuhr auf eigene Kosten nach Italien, wofür er das Geld in Seidenwebmühlen in Paterson selbst verdiente, um König Umberto Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, daß er den Befehl gab wehrlose Frauen und Kinder bei einem Aufruhr um Lebensmittel zu erschießen. Angelino richtete Premierminister Canovas deshalb hin, weil dieser im Montjuichgefängnis die spanische Inquisition wieder auferstehen ließ. Alexander Berkman versuchte ein Attentat auf das Leben Henry C. Fricks während des Homesteadstreiks. Er empfand ganz einfach ein tiefes Mitgefühl für die elf Streikenden, die von Pinkertons erschossen wurden, und für die Witwen und Waisen, die von Frick aus ihren erbärmlichen Hütten, die sich im Besitz von Mr. Carnegie befanden, gejagt wurden.

Jeder einzelne dieser Männer gab nicht nur seine Gründe der ganzen Welt in mündlichen oder schriftlichen Stellungnahmen preis, die den Auslöser aufzeigen, der zu seiner Tat führte, und die beweisen, daß es der untragbare ökonomische und politische Druck, daß es das Leiden und die Verzweiflung jener Männer, Frauen und Kinder waren, denen sie sich verbunden fühlten, die sie zu diesen Handlungen trieben, und daß es keineswegs die Philosophie des Anarchismus war. Darüber hinaus kamen sie offen, frei und bereit, die Konsequenzen zu tragen, bereit, ihr eigenes Leben hinzugeben. Wenn ich die wirkliche Natur unserer sozialen Erkrankung diagnostiziere, dann kann ich nicht jene verurteilen, die unschuldig an einer weitverbreiteten Krankheit leiden.

Ich glaube nicht, daß diese Taten die soziale Umwälzung herbeiführen können, oder das sie auch nur je in dieser Absicht erfolgten. Dies kann nur durch eine weite und breite Erziehung erzielt werden, in Bezug auf den Platz des Menschen in der Gesellschaft und seine echte Beziehung zu seinen Mitmenschen, und zweitens durch das Beispiel. Unter Beispiel verstehe ich, erkannte Wahrheiten auch wirklich zu leben, und nicht nur über deren lebendigen Inhalt zu theoretisieren. Letztendlich liegt die mächtigste Waffe im bewußten, klugen und organisierten wirtschaftlichen Protest der Massen durch die direkte Aktion und den Generalstreik.

Die allgemeine Ansicht, Anarchisten lehnten Organisationen ab und würden folglich für das Chaos eintreten, ist absolut haltlos. Es stimmt, wir lehnen jene zwanghafte willkürliche Organisationsform ab, die Menschen mit unterschiedlichen Neigungen und Interessen in einen Verband zwingt und sie dort durch Zwänge hält. Eine Organisation, die als Ergebnis einer natürlichen Vereinigung gleicher Interessen durch freiwillige Vereinbarung sich heranbildet, lehnen Anarchisten nicht nur nicht ab, sondern halten sie für die einzige mögliche Grundlage sozialen Lebens.

Die Harmonie des organischen Heranwachsens ist es, die die Vielfalt der Farbe und Gestalt schöpft – all das, was wir in der Blume bewundern. Ebenso wird das organisierte Handeln freier Menschen, die vom Geist der Solidarität getragen sind, in die vollkommene soziale Harmonie einmünden – und dies ist Anarchie. Sicher ist, nur der Anarchismus läßt anti-autoritäre Organisationen eine Wirklichkeit werden, denn er hebt den bestehenden Widerspruch zwischen Individuum und Klasse auf.

 

Anmerkungen

1. Der Soldat William Buwalda wurde inhaftiert, vor ein Kriegsgericht gestellt, unehrenhaft entlassen und zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Grund: er schüttelte Emma Goldman die Hand nachdem sie 1908 in San Francisco einen Vortrag über Patriotismus gehalten hatte. Der General, der den Prozeß leitete, bezeichnete das „Händeschütteln mit dieser gefährlichen, anarchistischen Frau“ als ein schweres Verbrechen, dessen sich William Buwalda schuldig gemacht habe. Buwalda, seit 15 Jahren Soldat, einst geehrt für besonders „treue Dienste“. Derzeit wußte er nichts über den Anarchismus. Die Vorträge Emma Goldmans besuchte er aus reiner Neugierde. Zehn Monate nach seiner Verurteilung wurde er durch Präsident Theodore Roosevelt begnadigt. Aus dem Gefängnis entlassen sandte Buwalda umgehend seine Auszeichnungen an die Armee zurück. In einem Brief erklärte er, er hätte „keine Verwendung für solchen Tand ... Geben sie es jemandem der es höher schätzt als ich.“ Darauf schloß er sich der anarchistischen Bewegung an.

 


Zuletzt aktualisiert am 30.12.2004