Peter Kropotkin

Über Krieg und Frieden

(1909)


Ursprünglich Teil von einer Vorlesungsreihe, die in den USA 1909 gehalten wurde.
Aus Petr Kropotkin: Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur, Suhrkamp 1975.
Nachgedruckt in Graswurzelrevolution, Nr.253, November 2000.
Überarbeitet nach: http://www.graswurzel.net/253/tolstoi.shtml.
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Die Philosophie des Krieges, die Tolstoi in Krieg und Frieden entwickelt hatte, rief leidenschaftliche Diskussionen und scharfe Kritiken hervor, und dennoch kann man nicht umhin, sie als zutreffend anzuerkennen. In Wirklichkeit ist sie anerkannt von denen, die den Krieg aus eigener Anschauung kennen oder die Massen in ihren Handlungen beobachten konnten. Freilich solche, die den Krieg aus Zeitungsberichten kennen, und besonders solche Offiziere, die hinterher so und so oft einen „verbesserten“ Schlachtbericht vorgetragen haben, wie er ihnen paßte, und worin sie die führende Rolle spielten – solche Leute werden mit Tolstojs Schilderung der „Helden“ nicht einverstanden sein; aber es genügt, beispielsweise zu lesen, was Moltke und Bismarck in ihren Privatbriefen über den Krieg von 1870 und 1871 geschrieben haben, oder die einfache ehrliche Schilderung irgendeines historischen Ereignisses, wie wir ihr gelegentlich begegnen, um Tolstojs Ansichten vom Krieg und seine Auffassung von dem außerordentlich begrenzten Anteil, den die „Helden“ an den historischen Ereignissen nehmen, zu verstehen. Tolstoj hat den Artillerieoffizier Tuschin nicht frei erfunden, den seine Vorgesetzten mitten in der Stellung von Schöngraben vergessen hatten und der durch vorsichtige und kluge Verwendung seiner vier Kanonen den ganzen Tag hindurch die Aufreibung der russischen Arrièregarde verhindern konnte: er kannte solche Tuschins zu gut von [Tolstojs eigener früheren Kriegsteilnahme in Red.] Sevastopol her. Sie sind die wahre Lebenskraft jedes Heeres in der Welt, und der Erfolg einer Armee hängt unendlich mehr von der Anzahl der Tuschins ab als vom Genie der Höchstkommandierenden. Hierin stimmen Tolstoj und Moltke überein, und hierin unterscheiden sie sich beide in gleicher Weise von den „Kriegskorrespondenten“ und den Generalstabshistorikern.

In den Händen eines Schriftstellers von geringerer Gestaltungskraft als Tolstoj hätte eine solche These vielleicht nicht überzeugend wirken können; aber in Krieg und Frieden tritt sie fast mit der Gewalt der Selbstverständlichkeit auf. Tolstojs Kutuzov ist – was er in Wirklichkeit war – ein ganz gewöhnlicher Mann; aber er war ein großer Mann in dem Sinne, daß er in der Voraussicht des unvermeidlichen und fast schicksalsmäßigen Verlaufs der Ereignisse wenigstens nicht vorgab, sie zu dirigieren, sondern einfach sein Bestes tat, um die Kräfte seiner Armee so zu verwenden, daß wenigstens größeres Unglück vermieden wurde.

Es braucht kaum gesagt zu werden, daß Krieg und Frieden eine machtvolle Verurteilung des Krieges bedeutet. Die Wirkung, die der große Schriftsteller in dieser Beziehung auf seine Generation ausgeübt hat, läßt sich tatsächlich in Rußland verfolgen. Sie trat bereits während des großen türkischen Krieges von 1877 und 1878 zutage, als es absolut unmöglich war, in Rußland einen Kriegskorrespondenten zu finden, der da beschrieben hätte, wie „wir die Granaten in den Feind hineingepfeffert“ haben, oder wie „wir sie wie Kegel umgeschossen haben.“ Und selbst wenn ein Mann sich gefunden hätte, der in seinen Berichten solche Überbleibsel von Kannibalismus gebraucht hätte, so würde keine Zeitung mehr gewagt haben, sie zu drucken. Der allgemeine Charakter des russischen Kriegskorrespondenten war völlig umgeformt worden, und während desselben Krieges tauchten Männer auf, wie der Novelist Garsin und der Maler Vererscagin, die ihre Lebensaufgabe darin sahen, den Krieg zu bekämpfen.

Jeder, der Krieg und Frieden gelesen hat, erinnert sich natürlich des harten Schicksals Pierres und seiner Freundschaft mit dem Soldaten Karataev. Man fühlt, daß Tolstoj für die ruhige Philosophie dieses Mannes aus dem Volke, eines typischen Repräsentanten des gewöhnlichen, mit gesundem Menschenverstand begabten russischen Bauern, große Bewunderung hegt. Einige Kritiker haben deswegen gemeint, daß Tolstoj in Karataev eine Art orientalischen Fatalismus predige. Nach der Ansicht des Schreibers ist das aber ganz falsch. Karataev, ein konsequenter Pantheist, weiß nur, daß es Unglücksfälle gibt, denen zu widersprechen unmöglich ist, und er weiß, daß das Mißgeschick, das ihn befallen hat, seine eigenen Leiden und vielleicht die Erschießung einer Anzahl von Gefangenen, unter denen er morgen geradesogut wie nicht sich ebenfalls befinden kann –, daß all dies die unvermeidlichen Folgen eines viel größeren Ereignisses sind: des bewaffneten Konfliktes zwischen Nationen, der, wenn er einmal begonnen hat, sich mit all seinen furchtbaren und absolut unkontrollierbaren Konsequenzen abspielen muß. Karataev handelt wie eine von den Kühen an den Alpenabhängen, von denen der Philosoph Guyau erwähnt, daß, wenn eine fühlt, daß sie an einem steilen Abhange ins Rutschen kommt, sie zuerst verzweifelte Anstrengungen macht, sich zu halten, aber wenn sie sieht, daß keine Mühe hilft, sich ruhig in den Abgrund gleiten läßt. Karataev nimmt das Unvermeidliche hin, aber er ist kein Fatalist. Wenn er geglaubt hätte, daß er irgendwie den Krieg verhindern könnte, so würde er alles dazu aufgeboten haben. Ja, als Pierre gegen Ende des Werkes seiner Frau Natascha sagt, daß er sich mit den Dekabristen [russische Aufständische von 1825 gegen den Zaren Red.] verbinden will – es wird wegen der Zensur in verschleierten Worten gesagt, aber der russische Leser versteht es nichtsdestoweniger –, und als sie ihn fragt: „Würde Platon Karataev es gutheißen?“ antwortet Pierre nach einem Augenblick der Überlegung mit Entschiedenheit: „Ja, er würde es tun.“

Ich weiß nicht, was ein Engländer oder Franzose oder Deutscher fühlt, wenn er Krieg und Frieden liest – gebildete Engländer haben mir gesagt, daß sie es langweilig finden -; aber ich weiß, daß für gebildete Russen die Lektüre fast jeder Szene in Krieg und Frieden eine Quelle unbeschreiblichen ästhetischen Genusses ist. Ich habe, wie so viele Russen, das Werk viele Male gelesen und konnte doch nicht, wenn ich gefragt wurde, die Szenen nennen, die mich am meisten entzückt haben: die Kindergeschichten, die Masseneffekte in den Kriegsszenen, das Regimentsleben, die unnachahmlichen Szenen aus dem Leben des Hofes und der Aristokratie, die kleinen Details über Napoleon oder Kutuzov oder aus dem Leben der Rostovs – das Gastmahl, die Jagd, das Verlassen Moskaus usw.

Viele fühlen sich verletzt, wenn sie beim Lesen des Werkes ihren Helden Napoleon auf einen so kleinen Maßstab reduziert und selbst lächerlich gemacht sehen. Aber der Napoleon, der nach Rußland kam, war nicht mehr der Mann, der die Armeen der Sanskulotten begeisterte und sie in den ersten Feldzügen gegen Leibeigenschaft, Absolutismus und Inquisition geführt hatte. Alle Männer in hoher Stellung sind in gewissem Grade Schauspieler, wie Tolstoj so deutlich an vielen Stellen seines großen Werkes zeigt, und Napoleon war sicherlich nicht der schlechteste Schauspieler unter ihnen. Aber zur Zeit, als er nach Rußland kam – als ein Kaiser, der inzwischen durch die Lobhudeleien der Höflinge ganz Europas und die Verehrung der Massen verdorben war, die ihm zuschrieben, was der durch die große Revolution [in Frankreich Red.] hervorgerufenen Bewegung der Geister zuzuschreiben war, und die infolgedessen in ihm einen Halbgott sahen – da hatte der Schauspieler in ihm die Oberhand gewonnen über den Mann, in dem vorher die jugendliche Energie der plötzlich erwachten französischen Nation verkörpert gewesen, in dem der Ausdruck jenes Erwachens erschienen und durch den die Stärke dieser Bewegung noch erhöht worden war. Auf diese Umstände war der Zauber zurückzuführen, den Napoleons Name auf seine Zeitgenossen ausübte ...

In Krieg und Frieden entwickelte Tolstoj die Philosophie der Massen gegen die Helden, eine Philosophie, die nur wenige unter den Gebildeten ganz Europas bereit gefunden hätte, sich ihr anzuschließen. War es sein dichterisches Genie, das ihm die Rolle, die die Massen in dem großen Kriege von 1812 gespielt hatten, enthüllte und das ihn lehrte, daß sie – die Massen und nicht die Helden – alle großen Dinge in der Geschichte geleistet haben? Oder war es nur eine Weiterentwicklung der Ideen, die ihn in der Schule von Jasnaja Poljana erfüllten und die sich im Gegensatz befanden zu allen Erziehungstheorien, die von Kirche und Staat im Interesse der privilegierten Klasse ausgearbeitet worden waren? Auf alle Fälle muß Krieg und Frieden ihm ein genügend großes Problem zu lösen gegeben haben, um seine Gedanken für eine Reihe von Jahren zu absorbieren, und während der Abfassung dieses Monumentalwerkes, in dem er versuchte, eine neue Geschichtsauffassung zu bieten, muß er gefühlt haben, daß er auf dem rechten Wege war.
 

Über „passiven Widerstand“

Das Schwergewicht der christlichen Lehre sieht Tolstoj in der Vorschrift: Widersteht nicht dem Bösen. Während der ersten Jahre nach seiner [Lebens- Red.]-Krise predigte er absolute Passivität gegenüber dem Übel – in voller Übereinstimmung mit dem buchstäblichen und ganz bestimmten Sinne der Worte des Evangeliums, welche Worte im Zusammenhang mit dem von der rechten und der linken Wange offenbar vollständige Demut und Ergebung bedeuten. Er mußte aber bald erkannt haben, daß eine solche Lehre nicht nur mit seiner Auffassung von Gott im Widerspruch stand, sondern daß sie auch darauf hinauslief, einfach dem Bösen Vorschub zu leisten. Sie enthält direkt die Erlaubnis zum Bösen, die immer im Interesse der herrschenden Klassen von den Staatsreligionen gepredigt worden ist, und Tolstoj muß dies erkannt haben. Er erzählt uns, wie er einmal in einem Zug einen Gouverneur der Provinz Tula an der Spitze eines Trupps Soldaten antraf, die mit Gewehren und einer Wagenladung von Birkenruten ausgerüstet waren. Sie waren im Begriff, die Bauern eines Dorfes auszupeitschen, um einen Akt einfacher Räuberei durchzusetzen, den die Administration zugunsten eines Gutsbesitzers und in offener Verletzung des Gesetzes erzwingen wollte. Er schildert mit seiner wohlbekannten Macht des Ausdrucks, wie eine „liberale Dame“ offen, laut und in starken Worten dem Gouverneur und seinen Leuten Vorhaltungen machte und wie sie sich darüber schämten. Dann beschreibt er, wie die Bauern, wenn eine solche Expedition ihre Arbeit begann, sich in echt christlicher Resignation mit zitternden Händen bekreuzten, sich auf den Boden legten und sich peitschen ließen, bis das Herz zu schlagen aufhörte, ohne daß die Soldaten oder der Gouverneur im mindesten durch diese christliche Demut gerührt worden wären. Was Tolstoj tat, als er mit der Expedition zusammentraf, wissen wir nicht: er sagt uns nichts darüber. Wahrscheinlich machte er den Offizieren Vorhaltungen und empfahl den Soldaten, ihnen nicht zu gehorchen, d.h. zu revoltieren. Auf alle Fälle muß er gefühlt haben, daß eine passive Haltung angesichts dieses Unrechtes einer schweigenden Billigung gleichgekommen wäre; – es hätte eine Aufmunterung darin gelegen. Ja, die passive Haltung der Resignation angesichts des Unrechtes ist so sehr der Natur Tolstojs entgegengesetzt, daß er nicht lange solch eine Lehre gutheißen konnte, und er änderte bald seine Interpretation des Evangelienwortes in dem Sinne um: „Du sollst dich dem Unrecht nicht mittels Gewalt widersetzen.“ Alle seine späteren Schriften sind daher eine leidenschaftliche Auflehnung gegen die verschiedenen Formen des Unrechtes, denen er in der Welt begegnet war. Fortwährend läßt er seine mächtige Stimme gegen Unrecht und gegen Übeltäter ertönen – nur die physische Gewalt weist er bei der Auflehnung gegen Unrecht zurück, weil er glaubt, daß sie nur neues Unheil stiften würde ...

Er besteht auf der Vereinfachung des Lebens – in Nahrung, Kleidung und Wohnung –, die sich übrigens aus körperlicher Arbeit, speziell auf dem Lande, ergibt und zeigt die Vorteile, die selbst die Reichen und die Müßiggänger unserer Zeit in solcher Arbeit finden würden. Er zeigt, wie alle die Übelstände der gegenwärtigen Mißwirtschaft sich aus der Ursache herleiten, daß gerade diejenigen, die gegen die schlechte Regierung protestieren, sich alle mögliche Mühe geben, ein Teil dieser Regierungsgewalt zu werden.

So nachdrücklich, wie er gegen die Kirche protestiert, protestiert er auch gegen den Staat und sieht in diesem Protest das einzige wirkliche Mittel, die gegenwärtige, den Menschen durch diese Einrichtung aufgebürdete Sklaverei aus der Welt zu schaffen. Er rät dazu, sich zu weigern, irgend etwas für den Staat zu tun. Und schließlich beweist er mit einer Fülle von Beispielen, in welchen seine Kunst voll zur Geltung kommt, daß in dem Verlangen der Reichen nach Reichtum und Luxus – ein Verlangen, das keine Grenzen kennt und keine haben kann –, das zu erblicken ist, was all diese Sklaverei aufrechterhält, all diese unnatürlichen Lebensbedingungen und all die Vorurteile und Lehren, die heute im Interesse der herrschenden Klassen von Kirche und Staat verbreitet werden.

 

Peter Kropotkin, 1909

 


Zuletzt aktualisiert am 15.9.2004