Johann Most

 

Kapital und Arbeit

Der Erhaltungs- und Anhäufungsprozeß des Kapitals

Sowenig eine Gesellschaft aufhören kann zu konsumieren, sowenig kann sie aufhören zu produzieren. In seinem stetigen Zusammenhange und dem beständigen Flusse seiner Erneuerung betrachtet, ist jeder gesellschaftliche Erzeugungsprozeß zugleich Rückerzeugungs-, Erhaltungsprozeß. Hat der erstere kapitalistische Form, so auch letzterer.

Der Produktionsprozeß wird eingeleitet mit dem Kauf der Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit, und diese Einleitung erneuert sich beständig, sobald der Verkaufstermin der Arbeit fällig und damit eine bestimmte Produktionsperiode, Woche, Monat etc., abgelaufen ist. Gezahlt wird der Arbeiter erst, nachdem seine Arbeitskraft gewirkt hat. Es ist ein Teil des vom Arbeiter selbst produzierten Produkts, welcher ihm in der Form des Arbeitslohns beständig zurückfließt.

Nehmen wir nun an, ein Kapitalist sei ursprünglich z. B. im Besitze von 1000 Talern gewesen, deren Quelle wir nicht erforschen wollen, die er nun aber kapitalistisch anwendet, und zwar so, daß sie ihm jährlich einen Mehrwert von 200 Taler einbringen, den er verzehrt, so verzehrt er in 5 Jahren eine Summe, die genau so groß ist als das ursprünglich vorgeschossene Kapital. Ob sich der Kapitalist nun auch vorstellt, er habe nur Profit aufgegessen, sein ursprüngliches Kapital aber einfach erhalten, und ob auch Teile dieses Kapitals, z. B. Gebäude, Maschinerie etc., noch handgreiflich in seiner ersten Form fortbesteht, tut das alles nichts zur Sache. Der Kapitalist hat den vorgeschossenen Kapitalwert von 1000 Talern verzehrt. Hätte er ihn nicht durch unbezahlte Arbeit ersetzt, so wäre also sein Kapital alle geworden, oder er wäre zum Betrag desselben Schuldner einer dritten Person. In diesem Falle hat sich also das Kapital in 5 Jahren reproduziert. Der vorgeschossene Kapitalwert, dividiert durch den jährlich verzehrten Mehrwert, ergibt die Jahreszahl oder die Reproduktionsperioden, nach deren Ablauf der ursprünglich vorgeschossene Kapitalwert vom Kapitalisten aufgezehrt und daher verschwunden ist. Stamme das Kapital aus eigener Arbeit oder wo immer ursprünglich her, früher oder später verwandelt es sich in Verkörperung unbezahlter, fremder Arbeit.

Die ursprünglichen Voraussetzungen für die Verwandlung von Geld in Kapital waren nicht nur Warenproduktion und Warenzirkulation. Auf dem Warenmarkt mußten Besitzer von Wert oder Geld und Besitzer der wertschaffenden Substanz, Besitzer von Produktions- und Lebensmitteln und Besitzer von Arbeitskraft, einander als Käufer und Verkäufer gegenübertreten. Diese gegebene Grundlage des kapitalistischen Produktionsprozesses wird durch ihn selbst forterhalten. Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den sachlichen Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als rein persönliche, von ihren eigenen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz, den Arbeiter als Lohnarbeiter.

Selbst die individuelle Konsumtion des Arbeiters gehört zur Produktion und Reproduktion des Kapitals, sofern sie nur die Arbeitskraft instand hält, wie z. B. Maschinen durch Ölen, Putzen etc. instand gehalten werden. Was der Arbeiter persönlich verzehren muß, um arbeiten zu können, verzehrt er zum Vorteil des Kapitalisten, gleichwie Lasttiere zum Vorteil ihrer Eigentümer fressen.

Vom gesellschaftlichen Standpunkt ist also die Arbeiterklasse auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses ebensosehr Zubehör des Kapitals als die toten Arbeitsinstrumente. Der römische Sklave war durch Ketten, der Lohnarbeiter ist durch unsichtbare Fäden an seinen Eigentümer gebunden.

Früher machte das Kapital, wo es ihm nötig schien, sein Eigentumsrecht auf den „freien Arbeiter“ durch Zwangsgesetze geltend. So war z. B. die Auswanderung der Maschinenbauer in England bis 1815 bei Strafe verboten. Zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges, als die englische Baumwollindustrie total darniederlag, verlangten die Arbeiter Nationalhilfe zur Erleichterung der Auswanderung. Da gebärdeten sich die Baumwoll-Lords wie toll und meinten, man solle den Arbeitern gegen gewisse Arbeitsleistungen (Steinklopfen etc.) zwar eine geringe „Unterstützung“ gewähren, damit sie nicht umkommen, aber ja nicht die Auswanderung erleichtern. Sie sprachen es ziemlich unverblümt aus, daß die Arbeiter ihre Melkkühe seien, die sie später wieder brauchten, da ohne dieselben keine Mehrwertmacherei denkbar. Das Kapitalisten-Parlament mißkannte seinen Beruf auch keineswegs und tat, wie die Baumwollritter wünschten.

Der kapitalistische Produktionsprozeß reproduziert also durch seinen eigenen Vorgang die Scheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeitsbedingungen. Er reproduziert und verewigt damit die Ausbeutungsbedingungen des Arbeiters. Er zwingt beständig den Arbeiter zum Verkauf seiner Arbeitskraft, um zu leben, und befähigt beständig den Kapitalisten zu ihrem Kauf, um sich zu bereichern. Es ist nicht mehr der Zufall, welcher Kapitalist und Arbeiter als Käufer und Verkäufer auf dem Warenmärkte gegenüberstellt. Es ist die Zwickmühle des Prozesses selbst, die den einen stets als Verkäufer seiner Arbeitskraft auf den Warenmarkt zurückschleudert und sein eigenes Produkt stets in das Kaufmittel des anderen verwandelt. In der Tat gehört der Arbeiter dem Kapital, bevor er sich dem Kapitalisten verkauft. Seine Hörigkeit ist zugleich vermittelt und zugleich versteckt durch die periodische Erneuerung seines Selbstverkaufs, den Wechsel seiner individuellen Lohnherren und die Schwankungen im Marktpreis der Arbeit. Der kapitalistische Produktionsprozeß im Zusammenhange betrachtet, oder als Reproduktionsprozeß, erzeugt nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er erzeugt und erhält das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der anderen den Lohnarbeiter.

Bisher war die Rede davon, wie aus Kapital Mehrwert entsteht, betrachten wir nun, wie aus Mehrwert Kapital entsteht!

Angenommen, ein Kapital beträgt 10 000 Taler, dasselbe bringe jährlich einen Mehrwert von 2 000 Taler, und dieser werde stets unter gleichbleibenden Verhältnissen abermals zur Produktion verwendet, so werden aus diesen 2 000 Talern wiederum jährlich 400 Taler Mehrwert hervorgehen. Man mag nun dahingestellt sein lassen, woher die ersten 10 000 Taler stammen, man mag annehmen, ihr Besitzer (derselbe ist vielleicht ein moderner Herkules) habe sie durch eigene Arbeit geschaffen, so weiß man doch ganz genau, wie die 2 000 Taler Mehrwert entstanden, daß sie in Geld verwandelte fremde, unbezahlte Arbeit sind. Und nun erst die 400 Taler! Um diese zu produzieren, hat der Kapitalist nur dasjenige vorgestreckt (riskiert?), was er sich bereits notorisch von fremder Arbeit aneignete. Je mehr sich daher der Kapitalist unbezahlte Arbeit aneignet, desto mehr ist er befähigt, sich fernerhin unbezahlte Arbeit anzueignen. Mit anderen Worten: Je schamloser ein Kapitalist Arbeiter ausbeutet, desto leichter ist er imstande, immer mehr Arbeiter auszubeuten. „Die Arbeit“, sagt Wakefield, „schafft das Kapital, bevor das Kapital die Arbeit anwendet.“ [13]

Wir hatten erst angenommen, der Kapitalist verwende den ganzen Betrag des Mehrwerts zu Genußzwecken, sodann unterstellten wir, er verwandle den ganzen Mehrwert in neues Kapital. In Wirklichkeit findet weder das eine noch das andere ausschließlich statt, sondern es wird der Mehrwert auf beide Arten verwendet.

Die Summe des in einem Lande produzierten Mehrwerts, die in Kapital verwandelt werden könnte, ist daher immer größer als jene, welche tatsächlich in Kapital verwandelt wird. Je entwickelter die kapitalistische Produktionsweise ist, je mehr Mehrwert entsteht, desto größer sind auch Luxus und Verschwendung der Kapitalisten.

Der Kapitalist hat aber nur insoweit historischen Wert und historische Existenzberechtigung, als er vom produzierten Mehrwert möglichst wenig selbst verzehrt und möglichst viel kapitalisiert. Tut er dies, dann zwingt er die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen und zur Schöpfung solcher Produktionsbedingungen, welche allein die Grundlage einer höheren Gesellschaftsform bilden können übrigens zwingt schon die Konkurrenz den Kapitalisten zur stetigen Ausdehnung seines Kapitals. Auch wächst ja die Herrschaft des Kapitalisten mit seiner Kapitalvermehrung, so daß Herrschsucht sich mit dem Bereicherungstrieb verbindet.

In den historischen Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise - und jeder kapitalistische Emporkömmling macht dies historische Stadium individuell durch - herrschen Bereicherungstrieb und Geiz als absolute Leidenschaften vor.

Aber der Fortschritt der kapitalistischen Produktion schafft nicht nur eine Welt von Genüssen. Er eröffnet mit der Spekulation und dem Kreditwesen tausend Quellen plötzlicher Bereicherung. Auf einer gewissen Entwicklungshöhe wird ein konventioneller Grad von Verschwendung, die zugleich Schaustellung des Reichtums und daher Kreditmittel ist, sogar zu einer Geschäftsnotwendigkeit des Kapitalisten.

Geiz und Genußsucht werden somit in der Kapitalistenbrust zur Doppelseele. Der Geiz selbst veranlaßt indes den Kapitalist nicht so sehr zu der berühmten „Entsagung“ von Genüssen als zu möglichster Steigerung der Arbeiterausbeutung, Herabdrückung des Arbeitslohnes etc.

 

 

Anmerkungen

[13] Zitiert ebenda, S. 606 (MEW, Bd. 23, S. 608).

 


Zuletzt aktualisiert am 9.11.2008