Rudolf Rocker

 

Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus

 

I

1. Zur Ideologie des Anarchismus

Der Anarchismus ist eine bestimmte intellektuelle Strömung, deren Anhänger die Abschaffung der wirtschaftlichen Monopole und aller politischen und sozialen Zwangsinstitutionen innerhalb der Gesellschaft anstreben. An die Stelle der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wollen die Anarchisten eine freie Vereinigung aller Produktivkräfte stellen, die auf kooperativer Arbeit beruht, und die als alleinigen Zweck die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse jedes Mitglieds der Gesellschaft haben würde. Anstatt der gegenwärtigen Nationalstaaten mit ihrer leblosen Maschinerie politischer und bürokratischer Institutionen fordern Anarchisten eine Föderation freier Kommunen, die untereinander durch ihre alltäglichen Interessen verbunden sind, und ihre Angelegenheiten durch gegenseitige und freie Verträge regeln.

Jeder, der die ökonomische und politische Entwicklung des gegenwärtigen Systems genauer untersucht, wird erkennen, daß diese Ziele nicht den utopischen Ideen einiger Phantasten entspringen. Sie sind vielmehr das logische Ergebnis einer gründlichen Überprüfung der heutigen miserablen sozialen Verhältnisse, die sich in jeder Phase der gegenwärtigen sozialen Bedingungen immer deutlicher und schädlicher offenbaren. Der moderne Monopolkapitalismus und die totalitären Staaten sind nichts anderes als die letzten Stufen einer Entwicklung, die nirgendwo anders enden konnte.

Die unheilvolle Entwicklung unseres gegenwärtigen wirtschaftlichen Systems, die zu einer enormen Anhäufung sozialen Reichtums in den Händen privilegierter Minderheiten und zu einer andauernden Unterdrückung der großen Masse des Volkes führte, ebnete den Weg für die heutige politische und soziale Reaktion. Sie erwies sich ihr in jeder Weise als dienlich. Sie opferte die allgemeinen Interessen der Gesellschaft den Privatinteressen einzelner und unterminierte so systematisch echte Beziehungen zwischen den Menschen. Die Menschen vergaßen, daß der Fleiß nicht Selbstzweck ist, sondern lediglich dem Menschen zur Sicherung seines materiellen Unterhalts dient und ihm die Errungenschaften einer höherstehenden Kultur zugänglich machen soll. Wo Fleiß alles ist, Arbeit ihren ethischen Einfluß verliert und der Mensch nichts ist, beginnt der brutale wirtschaftliche Despotismus. Dessen Auswirkungen sind nicht weniger unheilvoll als die irgendeines politischen Despotismus.

Unser modernes soziales System hat im Innern den sozialen Organismus jedes Landes in zwei feindliche Klassen gespalten. Nach außen hat es den gemeinsamen kulturellen Kreis der verfeindeten Nationen zerbrochen; beide, Klassen und Nationen, stehen sich in offener Feindschaft gegenüber. Bedingt durch ihren unaufhörflichen Kampf unterliegt das soziale Leben fortwährenden Störungen. Zwei Weltkriege innerhalb eines halben Jahrhunderts mit ihren schrecklichen Nachwirkungen, und die latente Gefahr neuer Kriege, die zur Zeit alle Völker beherrscht, sind nur die logischen Konsequenzen dieser unerträglichen Bedingungen, die nur in weitere weltweite Katastrophen führen können. Die bloße Tatsache, daß die meisten Staaten heute verpflichtet sind, einen erheblichen Teil ihres Bruttosozialprodukts für die sog. nationale Verteidigung und für die Liquidation alter Kriegsschulden auszugeben, ist der Beweis für die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Zustands. Es sollte jedem klar sein, daß der vorgebliche Schutz, den der Staat dem Einzelnen gewährt, zu teuer erkauft wird.

Die ständig wachsende Macht einer seelenlosen politischen Bürokratie, die das Leben der Menschen von der Wiege bis zur Bahre überwacht und „schützt“, wird für die Zusammenarbeit der Menschen zu einem immer größeren Hindernis. Ein System, das mit jeder Handlung das Wohlergehen großer Teile der Menschen, sogar ganzer Nationen, der egoistischen Sucht nach Macht und den ökonomischen Interessen von Minoritäten opfert, muß notwendigerweise die sozialen Bindungen auflösen und zu einem fortwährenden Kampf jeder gegen jeden führen. Dieses System ist lediglich Schrittmacher für die große geistige und soziale Reaktion geworden. Diese findet heute ihren Ausdruck im Faschismus und in der Idee des totalitären Staates, die die Machtbesessenheit der absoluten Monarchie der vergangenen Jahrhunderte weit übertreffen und versuchen, jeden Bereich der menschlichen Aktivität unter die Kontrolle des Staates zu bringen. „Alles im Staate, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat!“ (Mussolini) wurde das Leitmotiv einer neuen politischen Theologie. Heißt es in den alten Kirchensystemen „Gott ist alles und der Mensch ist nichts“, so ist das moderne Glaubensbekenntnis „Der Staat ist alles und der Bürger nichts“. Und so wie das Wort „Der Wille Gottes“ benutzt wurde, um den Willen der herrschenden Klassen zu rechtfertigen, so verstecken sich heute hinter dem „Willen der Staaten“ nur die egoistischen Interessen derer, die sich berufen fühlen, diesen Willen in ihrem Sinne zu interpretieren und den Menschen aufzuzwingen.

Im modernen Anarchismus treffen zwei große Strömungen zusammen, die vor und nach der französischen Revolution einen sehr großen Ausdruck im geistigen Leben Europas gefunden haben: Sozialismus und Liberalismus. Der moderne Sozialismus entwickelte sich, als immer klarer erkannt wurde, daß politische Einrichtungen und Regierungswechsel niemals an die Wurzel des großen Problems, die Soziale Frage, dringen konnten. Seine Anhänger erkannten, daß eine Anpassung der sozialen und politischen Bedingungen zum Wohl aller trotz der besten Voraussetzungen unmöglich ist. Sie ist nicht möglich, solange die Menschen auf der Basis des Besitzes oder Nicht-Besitzes von Eigentum in Klassen geteilt sind – Klassen, deren bloße Existenz von vornherein jeglichen Gedanken an eine wirkliche Gemeinschaft ausschließen. Deshalb kam man zu der Überzeugung, daß nur durch die Beseitigung der wirtschaftlichen Monopole und den gemeinschaftlichen Besitz an Produktionsmitteln ein Zustand sozialer Gerechtigkeit hergestellt werden könne. Ein Zustand, in der die Gesellschaft eine wirkliche Gemeinschaft wird, und die menschliche Arbeit nicht länger die Ausbeutung zur Folge hat, sondern das Wohlbefinden aller sichert. Aber sobald der Sozialismus organisiert auftrat und zu einer Bewegung wurde, traten auf einmal bestimmte Meinungsunterschiede auf, die von dem Einfluß des sozialen Milieus der verschiedenen Länder herrührten. Es ist eine Tatsache, daß jedes politische Konzept von der Gottesherrschaft bis zum Cäsarismus und zur Diktatur sich auf bestimmte Parteien der sozialistischen Bewegung ausgewirkt hat.

Die zwei großen Strömungen des politischen Denkens nahmen einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung sozialistischer Ideen: der Liberalismus, den fortschrittliche Denker in den angelsächsischen Ländern und teilweise in Holland und Spanien stimuliert hatten; die Demokratie in dem Sinne, wie sie Rousseau in seinem „Gesellschaftsvertrag“ [1] dargelegt hatte, und die ihre einflußreichsten Repräsentanten in den Führern der französischen Jakobiner [2] fand. Der Liberalismus ging in seinen sozialen Theorien vom Individuum aus. Er forderte, die Aktivitäten des Staates auf ein Minimum zu beschränken. Demgegenüber beruhte Demokratie auf einem abstrakten kollektiven Konzept, Rousseaus „Allgemeinem Willen“, das versuchte, diese Vorstellung im Nationalstaat zu verwirklichen.

Liberalismus und Demokratie waren hervorragende politische Konzepte. Da die meisten Anhänger von Liberalismus und Demokratie kaum die ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft betrachteten, konnte die weitere Entwicklung dieser Bedingungen praktisch nicht mit den ursprünglichen Prinzipien der Demokratie versöhnt werden. Noch weniger jedoch mit denen des Liberalismus. Demokratie mit ihrem Motto der „Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz“, und der Liberalismus mit seinem „Recht des Menschen auf seine Person“ scheiterten beide an den Realitäten der kapitalistischen Wirtschaft.

Solange Millionen von Menschen in jedem Land ihre Arbeitskraft einer kleinen Minorität von Besitzenden verkaufen müssen und in die erbärmlichste ökonomische Lage geraten, wenn sie keinen Käufer finden, bleibt die sogenannte Gleichheit vor dem Gesetz eine Farce, seit die Gesetze von denen gemacht werden, die im Besitz des gesellschaftlichen Reichtums sind. Aber in demselben Zusammenhang kann auch nicht vom Recht des Menschen auf seine Person gesprochen werden, da dieses Recht dort endet, wo jemand gezwungen ist, sich dem ökonomischen Diktat eines anderen zu unterwerfen.

Wie der Liberalismus vertritt auch der Anarchismus die Idee, daß das Glück und die Wohlfahrt des Einzelnen der Maßstab in sämtlichen sozialen Angelegenheiten sein muß. Und wie die bedeutenden Repräsentaten des liberalen Gedankenguts vertritt auch der Anarchismus die Auffassung, daß die Aufgaben der Regierung auf ein Minimum beschränkt werden müssen. Seine Anhänger sind diesem Gedanken bis zur letzten Konsequenz gefolgt und sind bestrebt, jede Institution der politischen Macht aus dem gesellschaftlichen Leben zu eliminieren. Wenn Jefferson [3] das Grundkonzept des Liberalismus in die Worte faßt: „Diejenige Regierung ist am besten, die am wenigsten regiert“, sagen die Anarchisten mit Thoreau [4]: „Diejenige Regierung ist am besten, die überhaupt nicht regiert“.

Gemeinsam mit den Vätern des Sozialismus fordern die Anarchisten die Abschaffung des wirtschaftlichen Monopols in jeder Form und unterstützen den Gemeinschaftsbesitz an Grund und Boden und den Produktionsmitteln, deren Gebrauch jedem ohne Unterschied zugänglich sein muß; denn persönliche und soziale Freiheit ist nur auf der Basis von gleichen ökonomischen Bedingungen für jedermann denkbar. Innerhalb der sozialistischen Bewegung vertreten die Anarchisten den Standpunkt, daß der Kampf gegen den Kapitalismus gleichzeitig ein Kampf gegen die Zwangsinstitutionen der politischen Macht sein muß, da in der Geschichte die ökonomische Ausbeutung Hand in Hand mit politischer und sozialer Unterdrückung gegangen ist. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Herrschaft des Menschen über den Menschen sind untrennbar und bedingen einander.

Solange sich in der Gesellschaft eine besitzende und nichtbesitzende Schicht in Feindschaft gegenüberstehen, wird der Staat für die besitzende Minderheit unentbehrlich sein, um ihren Besitz zu schützen. Wenn diese Voraussetzung der sozialen Ungerechtigkeit verschwindet, um der Ordnung Platz zu machen, die keine besonderen Rechte anerkennt und als Grundvoraussetzung die Gemeinschaft der sozialen Interessen haben wird, muß die Regierung über Menschen der Verwaltung der ökonomischen und sozialen Angelegenheiten das Feld überlassen, oder, um mit Saint Simon [5] zu sprechen: „Die Zeit wird kommen, in der die Kunst, Menschen zu regieren, verschwinden wird. Eine neue Kunst wird diesen Platz einnehmen, die, Dinge zu verwalten“. In dieser Hinsicht muß der Anarchismus als freiwilliger Sozialismus betrachtet werden.

Das bestimmte auch die von Marx und seinen Änhängern aufgestellte Theorie, daß der Staat, in der Form der Diktatur des Proletariats, eine notwendige Übergangsstufe zur klassenlosen Gesellschaft ist, in der der Staat, nach der Eliminierung aller Klassenkonflikte und schließlich der Klassen selbst, sich auflösen wird und verschwindet. Dieses Konzept, daß die reale Natur des Staates und die Bedeutung des Faktors der politischen Macht in der Geschichte völlig verkennt, ist nur das logische Ergebnis des sogenannten ökonomischen Materialismus. Der sieht in allen Erscheinungen der Geschichte lediglich die unvermeidlichen Folgen der Produktionsmethode dieser Zeit. Unter dem Einfluß dieser Theorie betrachteten die Menschen die verschiedenartigen Formen des Staates und all der anderen sozialen Institutionen als einen „rechtlichen und politischen Überbau der ökonomischen Basis“. Sie meinten darin den Schlüssel zu jedem historischen Prozeß gefunden zu haben. In Wirklichkeit liefert uns jeder historische Abschnitt Tausende von Beispielen, in denen die ökonomische Entwicklung verschiedener Länder durch den Staat und seine Machtpolitik einen Rückschlag von Jahrzehnten erlitten hat.

Vor dem Aufstieg der klerikalen Monarchie war Spanien, industriell gesehen, das am weitesten entwickelte Land in Europa und hielt den ersten Platz in der Produktion in fast jedem Bereich. Aber ein Jahrhundert nach dem Triumph der klerikalen Monarchie waren die meisten Industriebetriebe verschwunden; was von ihnen übrigblieb, überlebte unter den elendsten Bedingungen. In den meisten Industriezweigen ging man auf die primitivsten Produktionsmethoden zurück. Die Landwirtschaft brach zusammen, Wasserstraßen wurden ruiniert und weite Landflächen in eine Wüste verwandelt. Der fürstliche Absolutismus in Europa, mit seinen törichten „ökonomischen Verordnungen“ und seiner „industriellen Gesetzgebung“, der jedes Abweichen von den vorgeschriebenen Produktionsmethoden streng bestrafte und keine neuen Erfindungen erlaubte, blockierte den industriellen Fortschritt in den europäischen Ländern für Jahrzehnte und verhinderte seine natürliche Entwicklung. Und selbst nach den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege erweist sich die Machtpolitik der großen Nationalstaaten als das größte Hindernis für die Wiederherstellung der europäischen Wirtschaft.

In Rußland jedoch, wo die sog. Diktatur des Proletariats herrscht, hat das politische Machtstreben einer einzigen Partei jegliche echte Reorganisation des ökonomischen Lebens verhindert und das Land in die Sklaverei des Staatskapitalismus gezwungen. Die Diktatur des Proletariats, von der Naive glauben, daß sie eine notwendige Übergangsstufe zum wirklichen Sozialismus darstellt, hat sich zu einem schrecklichen Despotismus und zu einem neuen Imperialismus gewandelt, der in nichts hinter der Tyrannei des Faschismus zurückbleibt. Die Behauptung, daß der Staat solange bestehen bleiben muß, bis die Gesellschaft nicht in feindliche Klassen gespalten ist, erscheint, im Lichte aller historischen Erfahrungen, wie ein schlechter Scherz.

Jeder Typus politischer Macht setzt eine besondere Form von menschlicher Sklaverei voraus, für deren Erhaltung die Macht überhaupt ins Leben gerufen worden ist. Nach außen, in Beziehung zu anderen Staaten, muß der Staat einige künstliche Widersprüche schaffen, um seine Existenz zu rechtfertigen. Im Inneren ist die Spaltung der Gesellschaft in Kasten, Stände und Klassen die notwendige Bedingung für sein Fortbestehen. Die Entwicklung der bolschewistischen Bürokratie in Rußland unter der Diktatur des Proletariats – die nichts anderes ist als die Diktatur einer kleinen Clique über das Proletariat und über das ganze russische Volk – ist lediglich ein neues Beispiel einer alten historischen Erfahrung, die sich unzählige Male wiederholt hat. Diese neue herrschende Klasse, die sich heute in eine neue Aristokratie wandelt, hat sich von den großen Massen der russischen Bauern und Arbeiter abgesetzt, genau wie die privilegierten Kasten und Klassen in anderen Ländern von der Masse der Bevölkerung. Und diese Situation wird immer unerträglicher, wenn ein despotischer Staat den niederen Klassen das Recht verweigert, sich gegen die bestehenden Verhältnisse zu wenden, so daß jeder Protest die Gefährdung des Lebens zur Folge hat.

Aber auch ein höherer Grad von ökonomischer Gleichheit als der in Rußland würde noch keine Garantie gegen politische und soziale Unterdrückung bedeuten. Ökonomische Gleichheit allein bedeutet keine soziale Befreiung. Es ist genau dies, was die Schulen des autoritären Sozialismus niemals verstanden haben. Im Gefängnis, im Kloster oder in der Kaserne findet man einen ziemlich hohen Grad von ökonomischer Gleichheit, da alle Insassen mit derselben Unterkunft, derselben Verpflegung, derselben Uniform und denselben Aufgaben versehen sind. Der alte Inka-Staat in Peru und der Jesuitenstaat in Paraguay hatten die gleiche ökonomische Versorgung für alle Einwohner geschaffen. Aber trotzdem herrschte dort der schlimmste Despotismus, und der Mensch war lediglich der Automat eines höheren Willens, auf dessen Entscheidungen er nicht den geringsten Einfluß hatte. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß Proudhon [6] in einem „Sozialismus“ ohne Freiheit die schlimmste Form der Sklaverei sah. Der Drang nach sozialer Gerechtigkeit kann sich nur entwickeln und nur effektiv sein, wenn er vom Sinn für Freiheit und Verantwortlichkeit ausgeht und darauf basiert. Mit anderen Worten, der Sozialismus wird frei, oder er wird nicht sein. Im Erkennen dieser Tatsache liegt die wahre und tiefe Rechtfertigung des Anarchismus.

Institutionen dienen im Leben der Gesellschaft demselben Zweck wie die physischen Organe im Leben der Pflanzen und der Tiere: sie sind die Organe des sozialen Körpers. Organe entwickeln sich nicht willkürlich, sondern verdanken ihren Ursprung bestimmten Notwendigkeiten der physischen und sozialen Umgebung. Veränderte Lebensbedingungen schaffen veränderte Organe. Und ein Organ verschwindet allmählich oder verkümmert, sobald seine Funktion für den Organismus nicht mehr notwendig ist.

Dasselbe gilt für soziale Institutionen. Sie entstehen ebenfalls nicht willkürlich, sondern werden durch besondere soziale Notwendigkeiten bedingt ins Leben gerufen, um einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Auf diese Weise entwickelte sich der moderne Staat, nachdem Ökonomische Privilegien und damit verbundene Klassenspaltungen im Rahmen der alten sozialen Ordnung immer sichtbarer wurden. Die neu entstandenen besitzenden Klassen benötigten ein politisches Machtinstrument, um ihre ökonomischen und sozialen Privilegien gegenüber den Massen des Volkes zu behaupten.

So entstanden die entsprechenden sozialen Bedingungen für die Entwicklung des modernen Staates als politisches Machtinstrument für die Unterdrückung der nicht-besitzenden Klassen. Diese Aufgabe ist der wichtigste Grund für seine Existenz. Seine äußerlichen Formen haben sich im Laufe der historischen Entwiklung geändert, aber seine Aufgaben sind immer die gleichen geblieben. Sie haben sich sogar konstant in dem Maße ausgebreitet, wie es seinen Anhängern gelang, sich weitere Felder sozialer Aktivitäten dienstbar zu machen. Und so wie man die Funktionen eines physischen Organs nicht willkürlich ändern kann, so kann man auch nicht nach Belieben ein Organ der sozialen Unterdrückung in ein Instrument für die Befreiung der Unterdrückten umwandeln.

Der Anarchismus ist keine Patentlösung für alle menschlichen Probleme, keine Utopie einer perfekten Gesellschaftsordnung (wie er so oft bezeichnet wurde), weil er grundsätzlich alle absoluten Schemata und Konzepte verwirft. Er glaubt nicht an eine absolute Wahrheit oder an bestimmte Endziele der menschlichen Entwicklung. Vielmehr an eine unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit von sozialen Modellen und menschlichen Lebensbedingungen, die sich ständig um höhere Ausdrucksformen bemühen, und denen man, aus diesem Grund, keinen bestimmten Endpunkt und kein festes Ziel zuweisen kann.

Das größte Übel jeder Form von Macht ist, daß sie ständig versucht, die große Mannigfaltigkeit des sozialen Lebens in bestimmte Formen zu pressen und sie einzelnen Normen anzupassen. Je stärker sich seine Anhänger fühlen, desto umfassender werden sie versuchen, sich jeden Bereich des sozialen Lebens dienstbar zu machen. Ergebnis ist ihr lähmender Einfluß auf die Tätigkeit alle kreativen Kräfte. Hier zeigt sich mit erschreckender Klarheit, zu welcher Ungeheuerlichkeit Hobbes „Leviathan“ [7] entwickelt werden kann. Es ist der totale Triumph der politischen Maschine über Geist und Körper, die Rationalisierung des menschlichen Denkens, Fühlens und Verhaltens entsprechend den festgesetzten Regeln der Bürokratie und, in letzter Konsequenz, das Ende aller echten intellektuellen Kultur.

Anarchismus anerkennt lediglich die relative Bedeutung von Ideen, Institutionen und sozialen Bedingungen. Er ist deshalb nicht ein bestimmtes, geschlossenes soziales System, sondern eher eine bestimmte Richtung in der historischen Entwicklung der Menschheit. Im Gegensatz zu der intellektuellen Vormundschaft aller klerikalen und Regierungsinstitutionen strebt er nach der freien ungehinderten Entfaltung aller individuellen und sozialen Kräfte im Leben. Auch Freiheit ist nur ein relatives, kein absolutes Ziel, da sie dauernd dazu neigt, ihren Bereich zu erweitern und auf weite Kreise in mannigfaltiger Weise einzuwirken. Für den Anarchisten ist Freiheit nicht ein abstraktes philosophisches Ziel. Vielmehr ist sie die lebenswichtige konkrete Möglichkeit für jedes menschliche Wesen, alle Fähigkeiten und Talente zur vollen Entfaltung zu bringen und sie in einen sozialen Rahmen zu stellen. Je weniger diese natürliche Entwicklung des Menschen durch klerikale und politische Bevormundung gestört wird, desto leistungsfähiger und harmonischer werden die Menschen sein, desto mehr werden sie das Maß der intellektuellen Kultur der Gesellschaft sein, in die sie hineingewachsen sind. Das ist der Grund, warum alle großen kulturellen Perioden in der Geschichte Perioden der politischen Schwäche waren. Denn politische Systeme waren immer auf die mechanische und nicht auf die organische Entwicklung der sozialen Kräfte versessen.

Staat und Kultur sind unversöhnliche Gegensätze. Nietzsche, der kein Anarchist war, erkannte dies sehr deutlich, als er schrieb: „Niemand kann schließlich mehr ausgeben, als er besitzt. Das gilt für Einzelpersonen; das gilt für das Volk. Wenn einer sich in der Hohen Politik, in der Landwirtschaft, im Handel, Parlamentarismus, in militärischen Interessen erschöpft – wenn einer diese Summe von Vernunft, Eifer, Willen und Gewalt über sich selber weggibt, die sein eigenes Ich ausmacht, wird er es nicht für andere Sachen haben. Kultur und der Staat – darüber sollte sich niemand täuschen – sind Gegner: der Kulturstaat ist lediglich eine moderne Idee. Das Eine lebt gegen das Andere, das Eine entwickelt sich auf Kosten des Anderen. Alle großen Kulturepochen sind Perioden des politischen Niedergangs. Was im kulturellen Sinn bedeutend ist, ist unpolitisch, ist sogar antipolitisch.“

Wo der Einfluß der politischen Macht auf die kreativen Kräfte in der Gesellschaft auf ein Minimum reduziert ist, gedeiht die Kultur am besten, da politische Herrschaft ständig nach Uniformität strebt und den Hang hat, jeden Aspekt des sozialen Lebens seiner Vormundschaft unterzuordnen. Die politische Herrschaft findet sich in einem unentrinnbaren Widerspruch zu den kreativen Bestrebungen kultureller Entwicklung, die immer auf der Suche ist nach neuen Formen und Feldern der sozialen Aktivität. Für sie sind die Freiheit der Meinungsäußerung, die Vielfältigkeit und der unaufhörliche Wechsel von Dingen genauso lebensnotwendig wie rigide Formen, tote Vorschriften und die gewaltsame Unterdrückung für die Erhaltung der politischen Macht. Jedes erfolgreiche Stück Arbeit verstärkt den Wunsch nach größerer Perfektion und tieferer Inspiration; jede neue Form wird der Vorbote für neue Entwicklungsmöglichkeiten. Aber die Macht versucht die Dinge zu bewahren, verankert in Stereotypen. Das war der Grund für alle Revolutionen in der Geschichte. Macht wirkt nur destruktiv, ist ständig darauf bedacht, jede Manifestation des sozialen Lebens in die Zwangsjacke seiner Vorschriften zu zwingen. Ihre intellektuelle Sprache ist ein totes Dogma, ihre physische Form rohe Gewalt. Und diese Ausdrucksformen drücken auch ihren Repräsentanten ihren Stempel auf und machen sie oft einfältig und brutal.

Das ist der Grund für die Entstehung des modernen Anarchismus. Daraus schöpft er seine moralische Kraft. Nur Freiheit kann die Menschheit zu großen Dingen inspirieren und intellektuelle und soziale Veränderungen herbeiführen. Die Kunst, Menschen zu regieren war nie die Kunst, sie zu einer neuen Lebensform zu erziehen und zu begeistern. Lebloser Drill ist der Ausdruck von Zwang, der jegliche vitale Initiative von Anfang an erstickt und nur Untertanen hervorbringt, aber keinen freien Menschen. Freiheit ist das höchste Gut im Leben, die treibende Kraft in jeder intellektuellen und sozialen Entwicklung, die Schöpferin jeder neuen Zielsetzung für die Zukunft der Menschheit. Die Befreiung des Menschen von der ökonomischen Ausbeutung und von der intellektuellen, sozialen und politischen Unterdrückung, die ihren höchsten Ausdruck in der Philosophie des Anarchismus findet, ist die erste Voraussetzung für die Entwicklung einer höheren sozialen Kultur und einer neuen Humanität.
 

2. Geschichte der anarchistischen Philosophie von Lao-Tse bis Kropotkin

Anarchistische Ideen sind in fast jeder Periode der bekannten Geschichte anzutreffen. Wir begegnen ihnen in dem chinesischen Weisen Lao-tse, in den griechischen Philosophen, den Hedonisten und Zynikern und anderen Verfechtern des sogenannten Naturrechts, in Zeno, dem Gründer der Stoiker-Schule und Opponenten Platons. Sie fanden Ausdruck in den Lehren der gnostischen Carpokraten in Alexandria. Ferner besaßen sie einen unverkennbaren Einfluß auf bestimmte christliche Sekten im Mittelalter in Frankreich, Deutschland, Italien, Holland und England. Die meisten von ihnen wurden Opfer grausamster Verfolgungen. In der Geschichte der böhmischen Revolution fanden sie einen machtvollen Verteidiger in Peter Chelcicky, der in seinem Werk Das Netz des Glaubens dieselben Urteile über die Kirche und den Staat fällte, wie es Tolstoi Jahrhunderte später tat. Unter den großen Humanisten war es Rabelais, der in seiner Beschreibung der glücklichen Abtei von Theleme [8] ein Bild des von allen autoritären Zwängen befreiten Lebens zeichnete. Von den anderen Pionieren des libertären Denkens sollen hier nur La Boetie, Sylvain Marechal, und vor allem Diderot erwähnt werden, in dessen umfangreichen Schriften man immer wieder die Äußerungen eines wirklich großen Geistes findet, der sich von jedem autoritären Vorurteil freigemacht hat.

Mittlerweile ist es der neueren Geschichte vorbehalten, der anarchistischen Lebenskonzeption eine deutliche Form zu geben und sie mit dem unmittelbaren Prozeß der sozialen Evolution zu verbinden. Das wurde zum erstenmal von William Godwin (1756-1836) in seinem Werk Eine Untersuchung über das Wesen der politischen Gerechtigkeit und ihr Einfluß auf allgemeine Tugend und Glück (London 1793) vollzogen. Godwins Werk war, so kann man sagen, die reife Frucht jener langen Entwicklung des politischen und sozialen Radikalismus in England, ausgehend von George Buchanan über Richard Hooker, Gerard Winstently, Alge Enon Sydney, John Locke, Robert Wallace und John Bellers zu Jeremy Bentham, Joseph Priestley, Richard Price und Thomas Price. Godwin erkannte sehr deutlich, daß der Grund für das soziale Elend nicht in der Form des Staates, sondern in seiner bloßen Existenz zu suchen ist. Aber er erkannte auch, daß die Menschen nur frei und natürlich miteinander leben können, wenn die geeigneten ökonomischen Bedingungen dafür gegeben sind, und das Individuum nicht länger das Opfer von Ausbeutung durch andere ist. Das war eine Überlegung, die die meisten Repräsentanten des reinen politischen Radikalismus zumeist gänzlich übersehen haben. Daher waren sie später gezwungen, dem Staat ständig größere Zugeständnisse zu machen, die sie eigentlich auf ein Minimum beschränken wollten. Godwins Idee einer staatenlosen Gesellschaft setzte die Sozialisierung des Grund und Bodens und der Produktionsmittel sowie die Fortführung des wirtschaftlichen Lebens in Form von freien Kooperativen der Produzenten voraus. Sein Werk hatte starken Einfluß auf die fortschrittlichen Kreise der englischen Arbeitschaft und auf die aufgeklärtesten Teile der liberalen Intelligenz. Was jedoch am allerwichtigsten war: er trug zur jungen sozialistischen Bewegung in England, die ihre reifsten Vertreter in Robert Owen [>9], John Gray und William Thompson fand, den unverkennbaren libertären Charakter bei, den sie sehr lange besaß. In Deutschland und vielen anderen Ländern konnte man das dagegen nicht voraussetzen. Auch der französische Sozialist Charles Fourier (1722-1832) mit seiner Theorie von der attraktiven Arbeit muß hier als einer der Pioniere der libertären Ideen erwähnt werden.

Aber einen weit größeren Einfluß auf die Entwicklung der anarchistischen Theorie besaß Pierre Joseph Proudhon (1809-1865), einer der talentiertesten und vielseitigsten Schriftsteller des modernen Sozialismus. Proudhon war im geistigen und sozialen Leben seiner Zeit vollständig verwurzelt, und dies beeinflußte seine Haltung zu jeder Frage, mit der er sich beschäftigte. Deshalb kann man ihn nicht nach den speziellen praktischen Vorschlägen beurteilen, die den Notwendigkeiten der Zeit entsprachen, wie es viele Kritiker taten. Unter den zahllosen sozialistischen Denkern war er derjenige, der die Ursachen der miserablen sozialen Lage am gründlichsten verstand, und der überdies visionäre Fähigkeiten besaß. Er war der freimütige Gegner aller künstlichen sozialen Systeme und sah in der sozialen Entwicklung den immerwährenden Drang nach neueren und höheren Formen des geistigen und sozialen Lebens. Er war davon überzeugt, daß diese Entwicklung nicht an irgendwelche bestimmte abstrakte Formeln gebunden werden könnte.

Proudhon bekämpfte den Einfluß der jakobinischen Tradition, die das Denken der französischen Demokraten und der meisten Sozialisten jener Zeit dominierte, mit der gleichen Entschlossenheit wie den Eingriff des Zentralstaates und des ökonomischen Monopols in den natürlichen sozialen Prozeß. Für ihn war es die große Aufgabe der Revolution des 19. Jahrhunderts, die Gesellschaft von diesen krebsartigen Gewächsen zu befreien. Proudhon war kein Kommunist. Er verurteilte Eigentum als bloßes Privileg der Ausbeutung. Er anerkannte aber den Besitz an Produktionsmitteln für alle, benutzt von industriellen Gruppen, die durch freie Vereinbarung verbunden sein sollten. Aber nur solange, wie dieses Recht nicht dazu mißbraucht würde, andere auszubeuten, und solange gesichert ist, daß das gesamte Produkt der individuellen Arbeit jedem Mitglied der Gesellschaft zugute kommt. Diese Verbindung, die auf Gegenseitigkeit beruht, garantiert den Genuß gleicher Rechte durch alle im Austausch für soziale Dienste. Die durchschnittliche Arbeitszeit, die die Fertigstellung irgendeines Produktes fordert, wird das Maß ihres Wertes. Auf diese Weise wird das Kapital – seiner akkumulierenden Macht beraubt – an die Verrichtung der Arbeit gebunden. Wenn es jedem nützt, hört es auf, ein Instrument der Ausbeutung zu sein. Solch eine Wirtschaftsform macht jeden politischen Zwangsapparat überflüssig. Die Gesellschaft wird ein Bund freier Gemeinwesen, die ihre Angelegenheiten entsprechend dem Bedürfnis verrichten, allein oder in Verbindung mit anderen. In dieser Gesellschaft ist die persönliche Freiheit die Freiheit des anderen und nicht deren Begrenzung, sondern deren Sicherheit und Bestätigung. „Je freier, unabhängiger und unternehmungslustiger das Individuum ist, desto besser ist es für die Gesellschaft.“ (Proudhon)

Die Organisation des Föderalismus, in der Proudhon die unmittelbare Zukunft der Menschheit sah, erlegt den zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten keinerlei Beschränkungen auf und bietet jeder individuellen und gesellschaftlichen Aktivität den größtmöglichen Spielraum. Vom Standpunkt des Föderalismus ausgehend, bekämpfte Proudhon gleichfalls die Bestrebungen des in dieser Zeit erwachenden Nationalismus nach politischer und nationaler Einheit, der seine energischsten Vertreter in Mazzini, Garibaldi, Lelewel und anderen fand. In dieser Hinsicht erkannte er die reale Natur des Nationalismus viel klarer als die meisten seiner Zeitgenossen. Proudhon übte starken Einfluß auf den Sozialismus aus, der besonders in romanischen Ländern zu spüren ist.

Ideen, ähnlich den ökonomischen und politischen Konzeptionen Proudhons, wurden von den Anhängern des sogenannten Individualistischen Anarchismus in Amerika propagiert. Seine fähigsten Vertreter waren Männer wie Josiah Warren, Stephen Perl Andrews, William B. Greene, Lysander Spooner, Benjamin R. Tucker, Ezra Heywood, Francis D. Tandy und viele andere. Aber keiner von ihnen konnte Proudhons Weitblick erreichen. Charakteristisch für diese Schule des libertären Denkens ist die Tatsache, daß die meisten ihrer Repräsentanten ihre politischen Vorstellungen nicht von Proudhon übernahmen, sondern von den Traditionen des amerikanischen Liberalismus, so daß Tucker behaupten konnte, daß „Anarchisten durchweg Jeffersonsche Demokraten seien“.

Eine einzigartige Darstellung libertärer Ideen findet man in Max Stirners (Johann Kaspar Schmidt, 1806-1856) Buch Der Einzige und sein Eigentum, das schnell in Vergessenheit geraten ist und keinen Einfluß auf die Entwicklung der anarchistischen Bewegung nahm. Stirners Buch ist vorwiegend ein philosophisches Werk, das die menschliche Abhängigkeit von sogenannten höheren Mächten auf all ihren abgelegenen Wegen verfolgt, und sich nicht scheut, Folgerungen aus diesem Wissen zu ziehen. Es ist das Buch eines bewußten und vorsätzlichen Aufrührers, das keine Verehrung für eine Autorität offenbart, wenn sie auch noch so erhaben ist, und deshalb eindrucksvoll an unabhängiges Denken appelliert.

Der Anarchismus fand einen revolutionären Kämpfer in Michael Bakunin (1814-1876). Dieser baute seine Vorstellungen auf den Lehren Proudhons auf. Er dehnte sie aber auf den ökonomischen Sektor aus, als er mit dem föderalistischen Flügel der 1. Internationale den Kollektivbesitz von Grund und Boden und allen Produktionsmitteln forderte, und das Recht auf Privatbesitz lediglich auf die Produkte der individuellen Arbeit eingeschränkt sehen wollte. Bakunin war auch ein Gegner des Kommunismus, der zu seiner Zeit einen vollkommen autoritären Charakter besaß, wie er auch heute Ausdruck des Bolschewismus ist. Bakunin: „Ich verabscheue den Kommunismus, weil er die Negation der Freiheit ist und weil ich mir nichts Menschliches ohne Freiheit vorstellen kann. Ich bin kein Kommunist, weil der Kommunismus alle Kräfte der Gesellschaft auf den Staat lenkt und in diesem absorbiert; weil er notwendig zur Zentralisierung des Eigentums in den Händen des Staates führt, während ich die Abschaffung des Staates will – die radikale Auslöschung des Prinzips der Autorität und Vormundschaft des Staates, das die Menschen unter dem Vorwand, sie moralischer und zivilisierter zu machen, ausgebeutet und verdorben hat.“

Bakunin war ein Revolutionär, der nicht an einen partnerschaftlichen Ausgleich der existierenden Konflikte in der Gesellschaft glaubte. Er erkannte, daß die herrschenden Klassen blind und halsstarrig alle Moglichkeiten für größere soziale Reformen bekämpfen. Dementsprechend sah er die einzige Rettung in einer internationalen sozialen Revolution, die alle Institutionen der politischen Macht und ökonomischen Ausbeutung abschaffen und an ihre Stelle eine freie Föderation von Produzenten und Konsumenten setzen würde, um die täglichen Bedürfnisse zu befriedigen. Seit er, wie so viele seiner Zeitgenossen, an die unmittelbar bevorstehende Revolution glaubte, setzte er seine gesamte Energie daran, alle aufrichtigen revolutionären und libertären Elemente innerhalb und außerhalb der Internationale zu vereinigen, um diese Revolution gegen jede Diktatur oder jeden Rückschritt zu sichern. So wurde er in einem bestimmten Sinne der Schöpfer der modernen anarchistischen Bewegung.

Der Anarchismus fand einen weiteren bedeutenden Vertreter in Peter Kropotkin (1842-1921). Dieser stellte sich die Aufgabe, die Leistungen der modernen Naturwissenschaft für die Entwicklung des soziologischen Konzeptes des Anarchismus nutzbar zu machen. In seinem Buch Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt tritt er gegen den sogenannten „Sozialdarwinismus“ auf. Dessen Exponenten versuchten, die Unvermeidlichkeit der herrschenden sozialen Bedingungen von der darwinistischen Theorie des „Kampfes ums Überleben“ her zu beweisen, indem sie dem Kampf der Starken gegen die Schwachen den Status eines ehernen Naturgesetzes verliehen, dem auch der Mensch Untertan sei. In Wirklichkeit war diese Konzeption stark beeinflußt von der Malthus’schen Doktrin, nach der der „Tisch des Lebens“ nicht für alle gedeckt ist, und daß die „Nichtsnutze“ sich mit dieser Tatsache anfreunden müssen. Kropotkin zeigt, daß diese Konzeption, die Natur als Feld der uneingeschränkten Kriegsführung zu sehen, nur eine Karikatur des wirklichen Lebens darstellt. Neben dem brutalen Existenzkampf existiere in der Natur auch eine andere Tendenz, die sich ausdrückt in der sozialen Verbindung der schwächeren Arten und der Rassenerhaltung durch die Entwicklung des sozialen Instinkts und der gegenseitigen Hilfe. In diesem Sinne ist der Mensch nicht der Schöpfer der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft der Schöpfer des Menschen, da er von den Arten, die ihm vorausgingen, den sozialen Instinkt erbte. Dieser allein befähigte ihn, sich in seiner Umgebung gegen die physische Überlegenheit anderer Arten zu behaupten, und sich einer ungeahnten Entwicklung zu vergewissern.

Nach Kropotkin bleibt die Tatsache, daß die meisten persönlichen Verbindungen auch unter schrecklichstem Despotismus durch soziale Gewohnheiten, freie und gegenseitige Vereinbarungen arrangiert werden, ohne die kein soziales Leben möglich wäre. Falls dies nicht der Fall wäre, würde selbst die brutalste Zwangsmaschinerie des Staates nicht in der Lage sein, die soziale Ordnung für eine gewisse Zeit aufrecht zu erhalten. Selbstverständlich sind diese natürlichen Verhaltensweisen, die der tiefsten menschlichen Natur entspringen, heute ständig gestört und gelähmt durch die Auswirkungen der ökonomischen Ausbeutung und der staatlichen Bevormundung. Diese sind die schlimmsten Formen des Existenzkampfes in der menschlichen Gesellschaft, die durch die Form der gegenseitigen Hilfe und der freien Kooperation überwunden werden müssen. Das Bewußtsein von persönlicher Verantwortung und die Fähigheit zur gegenseitigen Zuneigung, die die gesamte Moral und alle Ideen von sozialer Gerechtigkeit ausmachen, entwickeln sich am besten in Freiheit.

Wie Bakunin war auch Kropotkin ein Revolutionär. Aber er sah wie Elisee Reclus [10] und andere, in der Revolution nur eine spezielle Phase des evolutionären Prozesses. Sie ergibt sich wenn neue soziale Hoffnungen in ihrer natürlichen Entwicklung dermaßen eingeschränkt werden, daß sie mit Gewalt die alte Schale zerstören müssen, bevor sie als neue Faktoren im menschlichen Leben in Funktion treten können.

Im Gegensatz zu Proudhons Mutualismus und Bakunins Kollektivismus, befürwortete Kropotkin nicht nur das Gemeineigentum an Produktionsmitteln, sondern auch der Erzeugnisse: Seiner Meinung nach ist bei dem damaligen Stand der Technologie ein exaktes Maß für den Wert individueller Arbeit nicht möglich. Auf der anderen Seite sei es aber möglich, jedem Menschen bei rationaler Lenkung der modernen Arbeitsmethoden einen relativen Wohlstand zu sichern. Der kommunistische Anarchismus, der vor Kropotkin schon von Joseph Dejacque, Elisee Reclus, Carlos Cafiero [11] und anderen gefordert worden war, und der heute von der großen Mehrzahl der Anarchisten anerkannt wird, fand in ihm seinen hervorragenden Vertreter. Hier muß auch Leo Tolstoi (1828-1910) erwähnt werden, der, ausgehend vom Ur-Christentum und von der Basis der ethischen Prinzipien, die in der christlichen Lehre niedergelegt sind, zu der Vorstellung von einer Gesellschaft ohne Herrschaft gelangte.

Alle Anarchisten haben den Willen, die Gesellschaft von allen politischen und sozialen Zwangsinstitutionen zu befreien, die der Entwicklung einer freien Menschheit im Wege stehen. In diesem Sinn sind Mutualismus, Kollektivismus und Kommunismus nicht als geschlossene ökonomische Systeme anzusehen, die keine weitere Entwicklung erlauben, sondern als ökonomische Voraussetzungen, um eine freie Gemeinschaft zu sichern. Vermutlich werden sogar in jeder Form einer zukünftigen freien Gesellschaft verschiedene Formen ökonomischer Kooperation nebeneinander existieren. Denn jeder soziale Fortschritt muß mit freien Experimenten und praktischen Tests neuer Methoden verbunden sein, für die in einer freien Gesellschaft von freien Gemeinschaften jede Möglichkeit bestehen wird.

Dasselbe gilt für die verschiedenen Methoden des Anarchismus. Das Werk seiner Anhänger ist vorrangig ein Erziehungswerk, um die Menschen intellektuell und psychisch auf die Aufgaben ihrer sozialen Befreiung vorzubereiten. Jeder Versuch, den Einfluß des ökonomischen Monopols und die Macht des Staates einzuschränken, ist ein Schritt weiter in Richtung der Verwirklichung dieses Ziels. Jede Entwicklung der freiwilligen Organisation in den verschiedenen sozialen Bereichen in Richtung persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit vertieft das Bewußtsein der Menschen und stärkt ihre soziale Verantwortung, ohne die kein Wechsel im sozialen Leben erreicht werden kann. Die meisten Anarchisten unserer Zeit sind überzeugt, daß eine solche Gesellschaftsumwandlung Jahre konstruktiver Arbeit und Erziehung benötigt, und nicht zustande gebracht werden kann ohne revolutionäre Erschütterungen, die bis heute jeden Fortschritt im sozialen Leben erreicht haben. Der Charakter dieser Erschütterungen hängt natürlich von der Stärke des Widerstandes ab, den die herrschende Klasse gegen die Verwirklichung der neuen Idee zu mobilisieren in der Lage ist. Je größer die Kreise sind, die von der Idee der Reorganisation der Gesellschaft im Geist der Freiheit und des Sozialismus beseelt sind, desto leichter werden die Geburtswehen neuer sozialer Änderungen in der Zukunft sein. Sogar Revolutionäre können nur Ideen entwickeln und zur Reife gelangen lassen, die existieren und schon in das Bewußtsein der Menschen eingedrungen sind. Sie können aber keine neuen Ideen oder neue Welten aus dem Nichts entwickeln.

Vor dem Aufkommen der totalitären Staaten in Rußland, Italien, Deutschland und später in Spanien und Portugal und dem Ausbruch des 2. Weltkrieges, gab es anarchistische Organisationen und Bewegungen in fast jedem Land. Aber wie alle anderen sozialistischen Bewegungen in dieser Zeit wurden sie Opfer der faschistischen Tyrannei und konnten nur im Untergrund existieren.

 

 

Anmerkungen

1. Im Gesellschaftsvertrag (Contrat Social) entwirft Rousseau ein demokratisches Idealbild. Danach ruht die Staatsgewalt beim Volk, und die Regierenden sind seine Funktionäre. Die Gesetze bedürfen der Zustimmung aller, denn die Volkssouveränität ist absolut und unteilbar und bekundet sich im „Allgemeinen Willen der Nation“ (Volonté général).

2.Radikaler Flügel in der Französischen Revolution; benannt nach dem St.-Jakobs-Kloster. Maßgebliche Führer waren Robespierre, Saint-Just und Marat.

3. Thomas Jefferson (1743-1826) war der Schöpfer der Unabhängigkeitserklärung der USA, in der zum ersten Mal die Menschenrechte schriftlich niedergelegt wurden. Von 1801-1809 war Jefferson Präsident der USA.

4. Thoreau (1817-1862) war ein Verfechter des Gewaltlosen Widerstandes. Nahm aktiv teil an der Anti-Sklaven-Bewegung in den USA. Seine wichtigsten Werke sind: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat, Zürich 1973 und Walden oder das Leben in den Wäldern, Zürich 1971.

5. Saint Simon (1760-1825) war ein Vertreter des sog. „utopischen Sozialismus“.

6. Proudhon (1809-1865) war Vertreter des sog. „Mutualismus“ (Austausch gleicher Werte durch unabhängige Produzenten und Konsumenten und Regelung aller menschlichen Verhältnisse durch freiwillige Kontrakte). Geistiger Vater vieler ihm nachfolgenden Anarchisten. Prägte wesentlich den Föderalismus als neue verbindende Form des gesellschaftlichen Lebens.

7. Der Begriff „Leviathan“ stammt aus dem Buch Hiob. Er steht dort für das stärkste aller Tiere, ein Seeungeheuer. In Hobbes Theorie symbolisiert es die absolute Schreckensgewalt des Staates, des „Souveräns“.

8. Rabelais verstand sich nicht als Revolutionär. Er verzichtete in seinen Utopien völlig auf den ökonomischen Aspekt. Seine Bedeutung gewinnt er durch die detaillierte Schilderung eines von allen zwängen befreiten Lebens.

9. Entfällt

10. Robert Owen (1771-1858): Frühsozialist, Förderer von Einrichtungen zu Selbsthilfe gegen die Konkurrenz der Grobetriebe. In seinem Musterbetrieb führte er wegweisende Sozialreformen durch (Zehneinhalb-Stunden-Tag, Kranken und Altersversicherung).

11. Elisée Reclus (1830-1905), einer der bedeutendsten Geographen des 19. Jahrhunderts, stand mit seiner Auffassung vom Anarchismus der anarchistisch-kommunistischen Konzeption Peter Kropotkins nahe.

 


Zuletzt aktualisiert am 16.10.2004